Vorlesungen über Geschichte, Inhalt, Stellung und Beruf des Judentums. Erste Vorlesung, gehalten am 22. Dezember 1846.

Aus: Allgemeine Zeitung des Judentums, 11. Jahrgang, 01. Januar 1847
Autor: Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabbiner. 1837 begründete er die Allgemeine Zeitung des Judentums, die er bis zu seinem Tode im Jahr 1889 herausgab und redigierte., Erscheinungsjahr: 1847

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Europa, Geschichte, Stellung, Inhalt und Beruf des Judentums, Charakter der Zeit, Bewusstsein, Denken und Glauben, Verachtung, Hochmut, Intoleranz, Abscheidung, Isolierung, Juden, Christen, Judentum, Menschleichkeit, Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Zivilisation, Würde, Verfolgung, Interessen, Zeitalter,
Dass ich es unternommen habe, über Geschichte, Inhalt, Stellung und Beruf des Judentums in öffentlichen Vorlesungen zu sprechen, was mich dazu vermochte? was ermunterte? Es liegt im Charakter unserer Zeit; es ist ein Ausfluss derselben. Was man auch von ihr denken mag, wie man sie zu loben oder zu tadeln sich bemessen fühle — darüber werden wir Alle einig sein, ihre wahrhafte Herrlichkeit bestehe darin: dass sie alles Geistige sich zum Bewusstsein bringen will. Niedergeworfen hat sie jene Schranken, mit welchen jedes einzelne Gebiet des Denkens und Glaubens sich umgrenzt hatte, innerhalb derer der Nachbar sich vom Nachbaren zurückgezogen, und es teils als eine Versündigung an seinem eigenen Heiligtum betrachtete, sich mit dem Denken und Glauben seines Nächsten bekannt zu machen, teils aus Verachtung und Hochmut es verschmähten. Da Jeder selbst das Höchste zu besitzen glaubte, lag das geistige Eigentum des Andern tief zu seinen Füßen, oder unter diesen. Diese Zeit der Abscheidung, der Isolierung ist vorüber. Alles drängt sich und wird gedrängt zum Lichte der Erkenntnis. Was bestehen will, wird gefragt nach den Ursachen, nach dem Inhalte, nach der Rechtfertigung seines Bestandes; und nur wofür es sich rechtmäßig geltend zu machen vermag, dies gilt es. Willkürliches Zurückweisen ist nicht mehr möglich, aber eben so wenig willkürliches Zurücktreten, in Selbstüberschätzung oder auch im Gefühl der eigenen Schwächen vornehmes in die Einsamkeit, in das Stillschweigen sich Zurückziehen. Und unter dem Flügelschlage dieser Zeit ist auch das Judentum aus seinen langen Schatten getreten, an das Sonnenlicht des allgemeinen Bewusstseins. Jahrtausende zum Schweigen verurteilt, und sich selbst zum Schweigen verurteilend, hat es vom Drängen der Zeit ergriffen, endlich auch wieder seine Stimme erhoben, und, vom Charakter der Zeit begünstigt, macht es seine Stimme vernehmbar. Das Judentum besteht, will, wird bestehen; so muss es seinen Bekennern und Anderen klar machen, warum es besteht, und um was es bestehen will? Das Judentum macht Anspruch auf einen großen, geräumigen Platz in der Menschheit, auf eine riefe und bedeutsame Stimme Im Bereiche der Menschheit; darum muss es beweisen seine Würdigkeit, seinen Wert, seine Notwendigkeit. Dem Juden, wie dem Christen, wie jedem, an der Zivilisation teilnehmenden Menschen lieget jetzt das ganze geistige Gebiet der Menschheit vor; Niemand kann mehr verweigern, auf die geistigen Errungnisse des Andern schauen zu wollen, und die eigenen daran zu prüfen: so müssen sie an's Licht geschafft werden, zu seinem und Anderer Nutzen.

Gehen wir nun, verehrte Zuhörer, auf unseren Gegenstand ein, so drängt sich uns als erste Frage auf: mit was haben wir es zutun? Mit einer Erscheinung, die in grauester Urzeit entsprungen, das Altertum überdauert, das Mittelalter überlebt, das neue Zeitalter durchschritten hat, und in der neuesten Zeit eine neue, unerwartete Lebenskraft, eine frische Rührigkeit, eine wahrhafte Verjüngung entwickelt. Fürwahr, das bürgt schon für die Mächtigkeit dieser Erscheinung. Hätten wir es hier mit dem Monument einer alten Vergangenheit, mit den ehrwürdigen Überresten einer untergegangenen Vorzeit zu tun, weilten wir hier unter den verwitterten Ruinen, die an ein früheres, längst begrabenes Leben gemahnen: wie lebendig schon wäre unser Interesse daran. Aber nicht so. Hier treten wir an eine Erscheinung, die nicht bloß in der Vorzeit des Menschengeschlechtes wurzelt, sondern Schritt vor Schritt die Menschheit auf all ihren Wegen begleitete, und sich von Neuem anschickt, sie zu begleiten; deren Träger nicht bloß unter die vergangenen Geschlechter zählen, sondern noch in der Gegenwart im Schoße aller Nationen an dem Webeschiff der Zeit, ihres Teiles fassen; welche nicht allein Geister der Vergangenheit beherrschte, sondern noch heute die Ideenwelt von Millionen erfüllt. So ist sie einzig in ihrer Art. Alle geschichtlichen Erscheinungen haben bis jetzt nur ihrer Zeit angehört, die sie Hervorriefen, oder von der sie hervorgerufen worden; aber über alle Zeiten des Menschengeschlechtes hat sich bis jetzt nur eine gelegt, durch alle Zeilen ist bis jetzt nur eine lebendig geschritten, es ist das Judentum. Wodurch vermochte es dies? Man hat verschieden hierauf geantwortet. Man hat gesagt: das Judentum Ist wie eine Mumie, die als wohl konservierte Leiche so, gut wie die ägyptischen, viele Jahrhunderte noch nach ihrem Tode existiert. Aber man kann es wohl kaum Ernst meinen mit diesem Vergleiche. Denn ein Leibliches kann wohl als ein Totesliegendes eine Zeit lang unter dem Gerumpel des Staubes sich erhalten. Aber im Gebiete des Geistes wird alles Erstorbene ausgeschieden, wie von einem lebendigen Organismus, und es ist davon nicht mehr die Rede, als von einer Idee der Vergangenheit. Kämpfen und bekämpft werden, kann keine Mumie, entwickeln und entwickelt werden, keine Leiche.—

Man hat ferner für den Bestand des Judentums die Hartnäckigkeit, die Verblendung seiner Bekenner in Anspruch genommen: aber es kann wohl nur selbst eine Hartnäckigkeit, eine Verblendung genannt werden, Solches geltend zu machen. Denn wohl kann eine solche Leidenschaft ein und das andere Geschlecht im bitteren Nachgefühl erlittenen Unrechtes beherrschen, aber Geschlecht auf Geschlecht Jahrtausende zu fesseln, unter den verschiedenartigsten Verhältnissen, unter dem vollen Wechsel der Zeit unverändert zu fesseln, was vermag keine einseitige, fast nur persönliche Leidenschaft, das vollbringt nur die volle Überzeugung, die unbeschränkteste Hingebung, eine Liebe, die nicht anders kann. Und werden diese zugegeben, nun so muss aber auch zugegeben werden, dass es der innere Lebensstrom ist, der, oft friedlich ungekannt, ungeahnt, die Adern des Judentums durchwogte, und vollkräftig Wurzel, Stamm und Blätterkrone der uralten Palme erhielt. Allerdings mussten wohl an einer Erscheinung so langer Zeiten wiederholt einzelne Äste und Laubwerk absterben und niederfallen, aber innen im Marke musste doch die schaffende Lebenskraft unversiegt walten, um sie unter den Stürmen und Blitzschlägen wie unter der langsam auflösenden Wirkung der Zeit aufrecht und gesund zu erhalten.

Aber was ist nun das Judentum? die Antwort, wie wir sie vorläufig, schon jetzt, im Anfang unserer Betrachtung geben können auf diese Frage, liegt im Ebengesagten ausgesprochen. Ware das Judentum ein vom Anfang an Abgeschlossenes, uns lediglich in dieser begrenzten Abgeschlossenheit Überliefertes, so müsste vor jeder Erwägung eine genaue Erklärung, eine Definition gegeben werden. Wir haben es aber als eine lebendige Erscheinung erkannt, die all die großen Geschichtsepochen der Menschheit durchgelebt hat, die daher, ob schon in ihrem innersten Wesen eine einheitliche, in sehr verschiedenen Phasen, in sehr veränderten Gestalten aufgetreten ist: so muss eben das Judentum als Ganzes nicht eine seiner abgeschlossenen Phasen, sondern allesamt, die ganze Geschichte des Judentums sein, und seine einheitliche Wesenheit kann sich erst mit Gewissheit aus seiner ganzen Geschichte ergeben. Das einsame Gotteszelt in der Wüste ist nicht der goldene Tempel in Jerusalem, dieser nicht die abgelegene, versteckte Synagoge im Ghetto des Mittelalters; das scharfe Gesetzeswort Mosis in den arabischen Steppen ist ein anderes, als der glühende Ausspruch des Propheten an das götzendienerische, entartete Volk; ein anderes wieder der haarspaltende Scharfsinn des Talmudisten; ein anderes das, das Allgemeine erwägende Urteil des Denkers. Das Judentum ist nun keines von allen diesen allein, sondern sie alle zusammen. Und wenn wir auch missen, dass hier dennoch ein einziger Gegenstand, ein bestimmter Inhalt allen diesen Phasen innewohnte, so dürfen wir doch jenen nicht bestimmen wollen, bevor wir diesen genauer erkannt haben. Eine jede Vorausnahme wäre hier Voraussetzung, die sich doch erst aus der Geschichte zur Überzeugung machen könnte.

Demungeachtet ergeben sich gewisse Merkmale schon von vorn herein. Wir fragen zunächst: auf welchem Gebiete hält sich diese Erscheinung des Judentums? Die Antwort würde leicht sein: auf dem religiösen Gebiete, wenn sie wahr wäre. Bekanntlich unterscheidet man seit alter Zeit zwischen religiösen und sozialen Menschen. Der Mensch in seinem Verhältnis! zu jenem höheren Wesen, dessen Geschöpf er ist, zur Gottheit, ist der religiöse; der Mensch in der Gesellschaft ist der soziale. Als Letzterer trennt sich eigentlich wiederum der Mensch als Einzelwesen seinem einzelnen Mitmenschen gegenüber, der ethische, allgemein sittliche, und der Mensch in seinen Bezügen zum Ganzen der Gesellschaft, der speziell soziale, staatliche. Allein indem die allgemeine Sittlichkeit doch nur auf dem Verhältnis des Menschen zur Gottheit beruht, hat man das Allgemein-Sittliche in das Religiöse hineingetragen, so dass nur der religiöse und soziale Mensch neben einander, zum Teil gegenüber stehen.

Aber dieser Unterschied, geehrte Zuhörer, zwischen dem religiösen und sozialen Menschen, d. h. zwischen dem Menschen in seinem Verhältnis zur Gottheit, und dem Menschen in der Gesellschaft, so alt er auch ist, und so sehr auch selbst unsre Zeit beherrscht, ist doch nur ein gemachter, der sich geschichtlich herausgebildet hat. Er ist weder natürlich; denn jeder Mensch, wie er einmal ist, ein Ganzes, in welchem Verstand und Gemüt nach allen Richtungen auf dieselbe Weise wirken, und wo ein Auseinanderhalten seiner Wirksamkeiten, im Verhältnis zu Gott oder zu der Gesellschaft, nur ein erkünsteltes, darum entweder ein erheucheltes oder auf Verirrung des Geistes beruhendes ist. Noch ist jener Unterschied ein ursprünglicher; denn die Geschichte zeigt uns, dass überall Religion und Staat ursprünglich einheitlich waren, und nur erst im Verlaufe der Zeit auseinander fielen. War nun das Judentum eine unmittelbare, keine abgeleitete Schöpfung, wie später entstandene Religionen, die an den schon fertigen Staat herantraten: so muss auch das Judentum eben so den sozialen, wie den religiösen Menschen, oder besser den ganzen Menschen, in seiner Einheit, begreifen. Jene Trennung des religiösen und sozialen Menschen konnte keine im Judentume ursprüngliche vorhandene sein. Allerdings musste es diese Trennung nachgeben, als es von Außen dazu genötigt war; als nämlich das Judentum aufhörte, einen eigenen Staat zu haben, eine Gesellschaft zu beherrschen. Dahingegen muss aber das Judentum die Einheit des religiösen und sozialen Menschen als ein Erwerbnis der Zukunft, und sei es noch so später Zukunft, unter seinen Hoffnungen und Voraussichten bewahren, sie muss zu seinem Glaubensbekenntnis gehören. Indem wir aber hier nicht das Judentum einer bestimmten Zeit, sondern seiner ganzen Geschichte nach betrachten, so können wir es such nicht als bloß auf dem religiösen Gebiete gehalten, bestimmen, sondern müssen ihm auch das soziale zusprechen, oder besser: Das Judentum begreift den Menschen in allen seinen Beziehungen als Einheit.

Hieraus geht noch ein anderes Merkmal hervor: das Judentum muss Gegensatz sein; einerseits Gegensatz zu allem überwundenen, Gegensatz zu Allem, was die Zeit überwunden hat. Denn wäre es mit diesem von gleicher Beschaffenheit und von gleichem Wesen gewesen, so wäre es notwendig mit ihm untergegangen, so hätte es dasselbe Geschick teilen müssen, es wäre als ein überwundener Standpunkt zurückgelegt worden. Es muss aber auch ferner in bestimmten Beziehungen noch immer Gegensatz sein, weil es sonst notwendig mit dem anderweit in und außer ihm Bestehenden zusammen, in Eines fallen, von demselben aufgesogen werden müsste. Es muss daher endlich seinen Bestand so lange verbürgen, als sein Inhalt nicht allgemein geworden, oder besser, so lange als das Allgemeine seinen, des Judentums, Inhalt nicht in sich aufgenommen und zu seinem Inhalte gemacht hat. Doch lehren dieselben Folgerungen, dass dieser Gegensatz nicht bloß ein formaler sein, nicht bloß in der Form bestehen konnte und kann, sondern eben im Wesen; denn ein formaler Gegensatz muss mit seinem Gegensätze zugleich fallen, weil er keine Bedeutung mehr ohne diesen hat, ein Gegensatz im Wesen aber dauert fort, so lange sich sein Gegensatz neu gebärt, wenn auch in ganz anderer Form.

Diese Erwägungen, geehrteste Zuhörer, mussten vorangeschickt werden, weil sie den Gang, den diese Vorlesungen nehmen müssen, bestimmen. Wir werden nämlich einerseits, um das Judentum in seiner Ganzheit als lebendige geschichtliche Erscheinung zu verstehen, seine einzelnen Phasen näher betrachten müssen; andrerseits aber, weil das Judentum Gegensatz ist, die Umgebungen, unter welchen es entsprungen, die, unter welchen es bestanden hat, und die, unter welchen es besteht, kennen lernen müssen. Hierzu kommt aber noch ein Drittes, nämlich, dass das Judentum Idee allein nicht gewesen, oder eine ideelle Allgemeinheit; sondern dass es in ein bestimmtes Gefäß getan war, das jüdische Volk, die Judenheit; notwendig musste daher das Judentum mannigfaltige Einflüsse von diesem seinem Gefäße oder Träger und dessen Schicksalen erleiden; es musste eine kräftige Wechselwirkung zwischen Judentum und Judenheit stattfinden, und Richtung und Erscheinung mussten bei Beiden sich wechselseitig bedingen. Man sage nicht, dass dies nachteilig für das Judentum gewesen, dass die Idee unter der Einwirkung der Materie gelitten, dass die Idee eine reinere Entwicklung erfahren hätte, wenn sie von den Einflüssen eines bestimmten Außen nichtabhängig gewesen wäre. Sehen wir uns in der Natur um, so gewahren wir in allen göttlichen Schöpfungen diese Verbindung der Idee mit dem Stoffe, des Wesens mit der Form, und erst hierdurch wohl organisierte Geschöpfe hervorgehen. Ist die Idee frei vom Stoffe, so wird sie zu vielen Stufen ihrer Entwicklung gar nicht gelangen. Die Schicksale der Judenheit können daher zum Verständnis) des Judentums nicht entbehrt werden. (Fortsetzung folgt.)

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabiner. 1837 begründete er die Allgemeine Zeitung des Judentums, die er bis zu seinem Tode im Jahr 1889 herausgab und redigierte.

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabiner. 1837 begründete er die Allgemeine Zeitung des Judentums, die er bis zu seinem Tode im Jahr 1889 herausgab und redigierte.

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabiner. Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Bonn-CastellJPG

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabiner. Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Bonn-CastellJPG