III. Andante — tema con variazioni

„Manche lieben solch eine“, sagt Walther Heymann mit einer bewusst gewöhnlichen Wendung in einem seiner schönsten Nehrungslieder. „Manche lieben solch eine“ — nämlich die Jungfer Einsamkeit, die irgendwo ungefreit im Walde sitzt. Sie möchte wohl zu manchem kommen und ihn trösten, wenn er Leides trägt, doch kann sie es nicht. Die Einsamkeit ist stumm, ist an den Ort gebunden und gehört zu denen, die selber gesucht und erworben sein wollen.

In ihrem Schoß
gleich in offenem Buche
liegen die Hände hingestreckt.
Sie sieht, ob einen der Wald versteckt,
ob einer kommt, der sie fände.
Manche lieben
solch eine. Doch kann sie nicht reden.
Sie wartet auf jeden...
Doch dass sie keinem sich ganz vertraut,
haben die Vögel ihren Laut,
die da ziehn mit blitzenden Flügeln
über das Meer von Hügeln von rotgrauem Kraut.


„Manche lieben solch eine.“ Ich auch. Und darum wird es mir der Nehrungswanderung nie zu viel. Wenn ich in den Wald oder in die Sandberge gehe, treffe ich keinen Menschen. Höchstens Tiere: ein paar Meisen, die sich schnäbeln, einen Männchen machenden Hasen, auch wohl mal ein Reh, das den Kommenden einen Augenblick verdutzt anäugt, oder wenn’s Glück gut steht, gar einen Elch, der dich wie einen Eindringling anglotzt, bis er Äste knackend schwerfällig davontrottet.

Mit Rossitten ist's wie mit einem Kunstwerk: je länger man sich darein vertieft, desto besser gefällt’s einem. Wer es nur flüchtig streift, findet nichts daran. Die Leute schreien immer nach Abwechslung. Als ob der Naturfreund nicht überall „Abwechslung“ fände! Für mich ist es eine, wenn der Kaffeetisch im Grünen einmal von der Morgen- und einmal von der Nachmittagssonne beschienen ist. Oder wenn die liebe weiße Ziege meiner Wirtin einmal ihre Kapriolen macht, ein andermal lagert und kaut, ein drittes Mal gemolken wird — o, was ist daran für einen Maler ohne Hände alles zu beobachten! Oder wenn die Stare einmal hochnotpeinlich die Wiese absuchen und ein andermal auf den hohen Pappeln, die Heymann so bildhaft die Windharfe der Nehrung genannt hat, Schule halten und dabei pfeifen, dass einem noch lange die Ohren klingen. Trete ich zum Hause hinaus, fällt der Blick auf den kleinen Hafen; bald sind Fischerkähne darin mit den merkwürdigen Ortschaftsbildern am Mast, bald ein Motorboot oder ein Dampfer; bald sind die Dünen mit feingrauem Schleier verhangen, bald strahlen sie in gleißendem Gold. Wohl hundertmal genoss ich das Bild — im Grunde waren es hundert Bilder. Und nun erst die See! Immer schön, doch immer verschieden, mag sie die große Herbststurm- oder die blaugoldene Sonnentoilette angelegt haben oder sich auch im Morgenkleid des gewöhnlichen Alltags zeigen. Sie ist immer schön wie eine wahrhaft Geliebte, und ihre Reize sind unerschöpflich wie ihre Wasser.

Das Badeidyll! Anfangs habe ich darüber wohl gelacht, es allmählich doch aber reizend gefunden. Wie ich das erste Mal hinauspilgere, sehe ich keine Spur von Sicherheitsmaßregeln, keinen Bademeister, keinen Strick, keinen Pfahl, kein Rettungsboot — nichts! Heimgekehrt, werde ich über die ortsüblichen Gepflogenheiten beruhigend aufgeklärt: in der Badebude liegt ein langes Tau zusammengerollt; dieses zieht man durch einen eisernen Ring, der am Untergestell der „Badeanstalt“ eigens zu diesem Zwecke angebracht ist, und legt dann das Tau soweit aus, als man in die See zu gehen gedenkt. Die Anbringung des Strickes und die Legung dieser Schlauchleitung mag den Ungeübten einige Zeit in Anspruch nehmen, dafür ist die Geschichte umso sicherer und macht einen Riesenspaß. Merkwürdig: je urzeitlicher die Badeeinrichtungen sind, desto weniger passiert dabei. Ich habe noch nie gehört, dass dort am Strande einer ertrunken wäre; man verlässt sich in dieser Einsamkeit eben nur auf sich selbst und passt dafür doppelt auf. Man ist sogar so einsam, dass man nach nordischer Art der Badehose enträt, und das ist schön!

Mit nackten Füßen zum Dorf. Denn die Wege sind weich. Es ist ein Teppich, ein Polster aus Moos und Sand. Auch hier überall Abwechslung: bald grünstrahlende Tannen, bald flechtenbehangene Birken; bald junge Schonung, bald bejahrter Bestand; bald Spuren von Dachsfüßen, bald Grabestellen wurzelsuchender Häschen. Nur hin und wieder Zwitschern und Gesang — sonst grüßt dich allerorten Jungfer Einsamkeit:

Doch dass sie keinem sich ganz vertraut,
haben die Vögel ihren Laut,
die da ziehn mit blitzenden Flügeln
über das Meer von Hügeln
von rotgrauem Kraut …

Was immer du im Freien siehst, kannst du auf der Vogelwarte studieren. Thienemann ist noch stolz auf seine junge Schöpfung und macht gerne den Führer. Zeigt dir die erste, wohl mit Reisig eingeschleppte Kreuzotter, die auf der Nehrung erlegt wurde; zeigt dir den Mageninhalt einer Füchsin, die nicht weniger als 86 Maikäfer verschluckt hat, daneben den berüchtigten, durch den Genuss roher Fische erworbenen Bandwurm, den jeder Nehrunger mit einem gewissen Stolz sein eigen nennt, und die Eier, die die Elchbremse in der freilich sehr stattlichen Nase des Elchs ablegt, um dadurch das Urwelttier unfehlbar zu töten. Schon gelangen die ersten Ringversuche mit Störchen; schon ist festgestellt, dass ein Adebar von hier aus 7600 Kilometer bis in die Kalahariwüste flog. Die Eingeborenen dort hielten den Kinderbringer (nicht so ganz mit Unrecht) für einen Gott, bis ein Missionar am rechten Storchbein das Aluminiumschild mit der Inschrift Rossitten entdeckte und die Trophäe in die ostpreußische Heimat zurücksandte. Aber allen Störchen, vollgefressenen Füchsinnen und Kreuzottern zum Trotz blieb mir die wertvollste Begegnung doch der Herr Haubensteißfuß, ein Vogel, der noch drolliger ist als sein Name. Ich wage ihn nicht zu beschreiben und will nur erwähnen, dass er eine Art Taucher ist mit einer richtigen Maurerfräse um den Hals und einem Ausdruck weltmännischer Gutmütigkeit im Gesicht. Ich glaube, sein Anblick allein rechtfertigt eine Reise in das Eiland der Wunder.