Vor einem Menschenalter und mehr.. Sinfonia curionensis in vier Sätzen

Aus: Die Kurische Nehrung eine Monographie in Bildern mit Beiträgen von
Autor: Ludwig (Louis) Goldstein (1867–1943) deutsch jüdischer Journalist, Kunsthistoriker, Theaterkritiker, Erscheinungsjahr: 1930

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Heimat, Ostpreußen, Kurische Nehrung, Ostsee, Dünen, Höhenzug, Haff, Strand, Meer,
I. Adagio maestoso

In jenem biblischen Zeitalter, von dem ich zunächst reden will, war die Kurische Nehrung noch wüste und leer. Die Düne wanderte und der Sand klirrte. Die Wege waren grundlos, der Schatten dürftig. Nie verstieg sich hierher der Fuß eines Ausflüglers. Denn die Botschaft, die waghalsige Männer von dort oben brachten, war wenig verlockend, und es ging die Sage von Reitern und Postkutschen, ja von ganzen Hochzeitszügen, die im Triebsand ein furchtbares Ende gefunden hätten.

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Da kam eines Tages in diese Wildnis der „alte Epha“, der damals aber noch in den besten Mannesjahren stand. Die Bändigung der Dünen, die der preußischen Wüste das Gepräge der Eigenart und Schönheit, aber auch der Gefahr und Furchtbarkeit verliehen, sollte seine besondere Aufgabe werden. Epha siedelte sich in Rossitten an, wo die Nehrung am breitesten und fruchtbarsten ist. Und alsbald ging er daran, Bäume zu pflanzen in diesen Garten Eden, die Tiere des Waldes zu hegen und zu pflegen, voran den urweltlichen Elch, und die Wege in Straßen zu wandeln, dass man darauf gehen und fahren konnte. Fortan versanken in der Dorfstraße nicht mehr Menschen und Pferde bis an die Knie, und auf dem Fischerweg konnte man fest und trocken vom Haff bis zur See gelangen. Sein Hauptwerk aber war die vorbildliche Festlegung des Pillkopper Berges. Hier, anderthalb Stunden von Rossitten, hatte sich eine ungeheure Düne — eine der höchsten der Erde — fast über die ganze Landzunge fortgewälzt und drohte nun das ängstlich an den Haffrand geschmiegte Pillkoppen rettungslos zu verwehen, wie es früher schon manchem Fischerdorf der Nehrung ergangen war. Da machte sich Epha auf mit vielen Helfern und Helferinnen und begann, die wandernde Düne mit unendlicher Mühe, Ausdauer und Geduld zu bepflanzen und festzulegen. Der Berg kam zum Stehen. Noch heute und für alle Zeit sieht man, wie er drohend schon über den ersten Hütten hing: eine Steilmauer aus reinem Sand, über den nun der wilde Wind seine Macht verloren hat, ein Zeugnis für den Sieg des Menschengeistes über Stoff und Masse.

Düneninspektor Epha aber, dem dieses Werk so gut gelungen war, nahm zu an Alter, Ehren und Ansehen. Sein Machtwort reichte weit, bisweilen vielleicht weiter als es gut war. Die ihm wohlwollten, nannten ihn im Scherz, halb auch im Ernst, den König der Nehrung. Viele gehorchten ihm, und selten wagte ihm einer zu befehlen. Denn er wusste von allem, sorgte für alles und war beschlagen in Lehre und Leben. Auch ließ er sich von keinem „die Butter vom Brot nehmen“, war kein Liebediener und Leisetreter. Er gehörte zu den Aufrechten, die selbst Vorgesetzten ihre Meinung sagen — auf Deutsch und ohne Drehen und Deuteln (eine Gattung, die ausstirbt, wie die Elche und die wandernden Berge).

Auf Öde und Stille verwiesen wie selten einer, lief der alte Epha doch nicht Gefahr, zu versauern und zu verbauern. In abgelebten Zeiten bot wohl einige Kurzweil jene Rossitter „Börse“, die an dem Lindenstumpf abgehalten wurde, an dessen Fuß Königin Luise auf ihrer Flucht nach Memel gerastet haben soll. Mit zunehmender Unpässlichkeit wurde Epha einsiedlerisch, erhielt sich aber den Bildungstrieb. Wie bezeichnend, dass der ehemalige Feldwebel den halben Goetheschen Faust auswendig kannte!

Am 16. September 1904 segnete Epha das Zeitliche. Er ruht nun aus im Schatten der von ihm bezwungenen Dünen — der Alte vom Berge, Seite an Seite mit den Bauern und Fischern, mit denen er gelebt und gewirkt hat, jahrzehntelang. Birken und Fichten seiner Hand und die beiden Meere rauschen ihm das Schlummerlied.

Kurische Nehrung 021 Formenwunder der Dünenwelt

Kurische Nehrung 021 Formenwunder der Dünenwelt

Kurische Nehrung 022 Dampferausflug

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Kurische Nehrung 023 Sandwellen auf der Hohen Düne bei Nidden

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Kurische Nehrung 024 Fischerkähne mit charakteristischen geschnitzten Wimpeln

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Kurische Nehrung 025 Heimkehr vom Fischfang

Kurische Nehrung 025 Heimkehr vom Fischfang

Kurische Nehrung 026 Abendstimmung an der Ostsee

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Kurische Nehrung 027 Ostseestrand

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Kurische Nehrung 028 Strandhafer

Kurische Nehrung 028 Strandhafer