Abschnitt 1

Schmidt von Werneuchen.


Das letzte einzulösende Pfand, ein Notizbuch, gehörte Renaten, die nunmehr aufgefordert wurde, ein Lied zu singen. Sie war dazu bereit, aber wie immer entstand die Frage: was? Zum Glück lagen auf dem kleinen Birkenmaserklavier allerhand Noten aufgeschichtet, unter denen Renate zu suchen begann. Es waren Liederkompositionen, die, soweit der Text in Betracht kam, mit einer Art von gesellschaftlicher Diplomatie beiden Dichterschulen entnommen waren, die damals in beinahe unmittelbarer Nähe von Hohen-Vietz ihre Geburts-, jedenfalls ihre Pflegestätte hatten. Die eine Schule, vom Lokalstandpunkt aus angesehen, war die Nieder-Barnimsche, die andere die Lebusische, jene, die derb-realistische, durch Pastor Schmidt von Werneuchen, diese, die aristokratisch-romantische, durch Ludwig Tieck und den in Ziebingen ansässigen Mäzenatenkreis der Burgsdorffs und ihrer Freunde vertreten. Zwischen beiden Schulen suchte der Hohen-Vietzer Pfarrherr, der es überhaupt mit Ausnahme der Semnonen zu keiner entschiedenen Parteinahme bringen konnte, nach Möglichkeit zu vermitteln, hatte abwechselnd Worte der Anerkennung für Werneuchen, Worte der Bewunderung für Ziebingen und gab dieser seiner Halbheit, die, sobald es sich um kirchliche Fragen handelte, den Spott Miekleys und Uhlenhorsts herausforderte, auch auf literarischem Gebiete durch Anschaffung heute des Schmidtschen „Kalenders der Musen und Grazien“, morgen des Tieckschen „Zerbino“ oder „Phantasus“ Ausdruck. Übrigens stammten die Klaviernoten meist noch aus der Zeit der verstorbenen Frau her, die, selbst auf dem Barnim gebürtig, zugleich auch minder abwägend als ihr Eheherr, den Werneuchener Poeten um ein weniges bevorzugt hatte.


Renate, nachdem sie hin und her geblättert, wählte schließlich, um dem Suchen ein Ende zu machen, einige Pastor Schmidtsche Strophen, die sich an den Freund aller unglücklichen Liebenden richteten, „an den Mond“. Der Überschrift war die Klammerbemerkung hinzugefügt: „Abends elf Uhr am Fenster“.


So manchen Abend traur’ ich hier

In stummer Liebe Leid;

In meiner Schwermut blickst du dann

Mich freundlich durch die Weiden an,

Daß mich’s im Herzen freut.


Wenn doch, wie du, mein Mädchen mild,

Wie du so freundlich wär’!

O such sie, lieber Mondenschein,

Und schau ihr ernst ins Aug’ hinein

Und mach das Herz ihr schwer.


Renate, die das Lied in Text und Komposition zu kennen schien, sang es mit großer Sicherheit, aber zugleich auch mit jenem übertriebenen Aufwand von Stimme und Gefühl, wodurch der Vortragende auszudrücken wünscht, daß er über der Sache stehe.

Dies war den Zuhörern nicht entgangen, von denen die Mehrzahl dieser ironischen Behandlung des Liedes zuzustimmen schien. Nur Seidentopf trat an das Klavier und sagte: „Unser Barnimer Freund scheint vor unserem Lebusischen Fräulein keine Gnade zu finden.“

„Wie kann er auch“, nahm Renate das Wort; „wie bescheiden er sich stellen mag, er hat die Prätension, ein Poet zu sein, und er ist keiner. Es ist sinnig, sich den Dichter auf einem geflügelten Pferde zu denken, weil es die erste Aufgabe aller Poesie ist, das platt Alltägliche hinter sich zu lassen; und nun frag’ ich Sie, teuerster Pastor, auf welchem Pferde, geflügelt oder nicht, sind Sie imstande, sich unsern Schmidt von Werneuchen vorzustellen? Ist es vielleicht der weiße königliche Zelter,


Mit Federbüschen bunt im Winde flatternd,

Die Brust, wie Schnee, mit blauem Schleier schmückend?«


„Nein, liebe Renate“, antwortete Seidentopf, „dieser weiße königliche Zelter ist es sicherlich nicht. Die Kreuzzugsjahrhunderte, die drüben bei den Ziebinger Freunden fast nur noch Geltung haben, sind nicht das Zeitalter unseres einfachen und, wie nicht bestritten werden soll, an Haus und Hof gebundenen Schmidt; er ist ganz Gegenwart, ganz Genre, ganz Mark. Er ist so unromantisch wie möglich, aber er ist doch ein Dichter.“

„Das ist er“, fiel jetzt der Dolgeliner Pastor ein, zu dessen kleinen Eitelkeiten es gehörte, seine Bekanntschaft mit dem Werneuchener Amtsbruder ins rechte Licht zu stellen. Außerdem hatte er den Wunsch, doch endlich auch seinerseits in den Gang der Unterhaltung einzugreifen, und der rechte Augenblick dafür schien ihm gekommen. „Unser viel angefochtener Freund“, fuhr er fort, „ist ein Poet trotz einem; aber ich sehe wohl, unser Fräulein Renate hat zuviel da drüben nach Frankfurt hin verkehrt und ist aus der Barnimer Schule, die so recht eigentlich eine brandenburgische Schule ist, in die neue Lebuser übergegangen, wo sie nur noch spanische Stücke lesen und mit dem Herrn Tieck einen Götzendienst treiben, als hätt’ es vor seiner ›mondbeglänzten Zaubernacht‹ noch gar keine Dichtung und noch gar keinen rechten Mond gegeben. Und dieser Hochmut reizt mich, und wiewohlen Dolgelin ein alt-lebusisches Dorf ist, so steh ich doch in dieser Dichterfehde ganz auf Seiten von Nieder-Barnim, und wenn sie mir sagen wollen, daß noch nie so Schönes gedichtet worden ist wie:


Ihr kleinen goldenen Sterne,

Ihr bleibt mir ewig ferne,


was sie jetzt auf allen Leiern spielen, so sag’ ich: nein, ihr Herren, euer Geschmack ist nicht mein Geschmack, und es fällt mir ganz anders auf die Sinne, wenn unser Werneuchner Freund in seiner drallen Dichterweise anhebt:


Auf seinem Waldhorn bläst des Dorfes Hägereiter,

Die Paare treten an, die Augen werden heiter,

Des Amtmanns Schreiber kommt, die Bauern rufen: Tusch,

Fort mit den Tischen, itzt beginnt der Kiekebusch!


Das nenn’ ich Sprache. Ich sehe den Bräutigam mit der rotkalmankenen Weste und höre, wie sie mit den Hacken zusammenschlagen. Da ist echtes Gold drin, gegen das sich die ›kleinen goldenen Sterne‹ verstecken können.“

Turgany lachte herzlich. Im übrigen trat eine kleine Verlegenheitspause ein, die Seidentopf endlich – mit geflissentlicher Umgehung des ganzen Intermezzos, als welches die Dolgeliner Verteidigungsrede anzusehen war – unterbrach, indem er sich an seine schöne Widersacherin wendete: „Sie unterschätzen ihn, liebe Renate, wie so viele mit Ihnen tun. Vielleicht, daß ich meinerseits in den entgegengesetzten Fehler verfalle, weil ich die Vorzüge seines Herzens auch in seinen Dichtungen wiederfinde. Man muß ihn eben kennen.“

„Nun, so lassen Sie uns an Ihrer Kenntnis teilnehmen, erzählen Sie von ihm.“

„Das muß Turgany tun«, fuhr der Pastor fort, „er hat die Gabe eindringlicher Schilderung, er kennt ihn, er schätzt ihn auch, wenn ich mich früherer Gespräche recht entsinne.“

Turgany machte zunächst eine ablehnende Handbewegung und setzte dann erklärend hinzu: „Lieber Seidentopf, es muß eine Verwechselung vorliegen, vielleicht mit deinem Amtsbruder Pastor Zabel, den wir soeben in dankbarer Erinnerung an die rotkalmankene Weste sich enthusiasmieren sahen. An ihn wäre dein Appell in der Ordnung gewesen.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm