Abschnitt 2

Schmidt von Werneuchen.


Aber diese Ablehnung, wie vorauszusehen, war umsonst; alles drang in Turgany, der endlich, wohl oder übel, dem allgemeinen Wunsche nachgeben mußte. Vielleicht nicht ungern. Denn er tat nichts lieber als medisieren. „Nun denn“, so hob er an, „Sie wissen alle, daß unser Werneuchener Freund ein Prediger und Dichter ist, aber was Sie vielleicht nicht wissen und was so recht eigentlich den Schlüssel zum Verständnis seiner Dichtungen bildet, das ist das, daß er auch Gatte und Vater ist. Die Kanzel steht ihm nahe, aber die Wiege steht ihm näher. Sein Haus ist eine Kinderstube, oder wie es hierlandes heißt: mehr Quarre als Pfarre. Versteht sich, ist er kreuzbrav. Er züchtet Bienen und Blumen und lädt seine Gäste statt in Prosa in Versen, meist in Sonetten, ein. Er ist bescheiden und selbstbewußt, nachgiebig und eigensinnig, harmlos und schlau, in Summa ein Märker. Nicht zufrieden damit, für sein eigen Teil der Pastor Schmidt von Werneuchen zu sein, ist sein bester Freund auch noch der Pastor Schultze von Döbritz. Nomen et omen. Er raucht aus langer Pfeife und trägt Käpsel und Schlafrock, und wenn er den letztern ausnahmsweise nicht trägt, so macht er den Eindruck, als trüge er zwei. Unter seinen Dichtungen hat mir die kleine Gruppe, die die Überschrift aufweist: ?Lieder für Landmädchen, abends beim Melken zu singen?, immer den größten Eindruck gemacht. In einer angefügten Notiz findet sich nämlich die Bemerkung, daß er sie gedichtet habe, um verschlafene Milchmädchen beim Melken wach zu erhalten. Ich bezweifle, daß er seinen Zweck erreicht hat.“


Seidentopf mühte sich, einen kleinen Unwillen zu zeigen. „Das führt uns nicht weiter, Turgany; du selbst wirst nicht behaupten wollen, in deiner Schilderung auch nur einigermaßen Gerechtigkeit geübt zu haben.“

„Ich weiß doch nicht“, fiel Lewin hier ein. „Wir kennen alle den lebhaften Farbenauftrag unsers justizrätlichen Freundes, aber, einer gewissen drastischen Ausdrucksweise entkleidet, hat er nichts gesagt, was ich nicht von ganzem Herzen unterschreiben möchte. Diese Werneuchener Poesie hat in der Tat kein anderes Ideal als den bekäpselten Familienvater, und die Abfertigung, die ihr von Weimar her zuteil wurde, war wohlverdient. Es ist wahr, manches glückt ihm. Wie hübsch klingt es:


Was lieb sich hat mit Treuen,

Das sucht ein einsam Örtchen gern,

Wo’s heimlich sich kann freuen,

Von Lärm und Lauschern fern.

Da hat sich’s lieb im stillen,

So inniglich, so minniglich,

Da hat es seinen Willen,

Sein Wesen ganz für sich.


Das ist sinnig; aber daneben liegen Abgründe. Er hat eine gefällige Gabe für den Reim und ein Auge für die Natur. Das ist alles. Seine Schilderungen mögen gelegentlich als Oasen gelten, seine Gedanken sind die Wüste. Sand und wieder Sand. Aber wie denkt nur Marie über ihn? Ich glaube mich zu entsinnen, daß sie seine Lieder mehr als einmal gelesen, auch zu Renate darüber gesprochen hat.“

Die Angeredete wurde rot bis an die Schläfe. Es konnte nicht wohl anders sein. Lewin, der von manchem Plauderabend her die Schärfe ihres Urteils kannte, übersah, daß es ein größerer Kreis war, vor dem zu sprechen er sie so plötzlich aufgefordert hatte. Sie sammelte sich aber schnell und sagte dann fest und schüchtern zugleich: »Ich gehe ganz mit Renaten; er ist kein Dichter, weil er nichts als die Wirklichkeit kennt.“

„Und seine Gabe der Schilderung?“ unterbrach Seidentopf.

„Auch sie erquickt mich nicht. Sie ist das Beste an ihm, gewiß, aber les’ ich dann: ›bis auf am Himmelsbogen die goldnen Sterne zogen‹, so fühle ich plötzlich den unendlichen Unterschied zwischen diesen Sternen und den Alltagssternen unseres Schmidt. Freilich, ich zweifle, ob ich diesen Unterschied werde aussprechen können.“

„Du wirst es können; beginne nur“, riefen ihr Lewin und Renate zu.

„Ich will es versuchen. Der Dichter soll ein Spiegel aller Dinge sein. Schmidt aber spiegelt nichts; er gibt nur die Natur selber.“

»“Gut, gut“, fiel Turgany ein, „ich habe mehr als eine Untersuchung gelesen, die zurückbleibt hinter diesem kritischen Debut. Der Schmidtsche Spiegel, wenn ich recht verstanden, ist gar kein Spiegel, sondern nur ein Spiegelrahmen, und die Bilder, die er gibt, sind nichts anderes als eingefaßte Stücke leibhaftiger Natur. Natur, wie wir sie vor uns haben, wenn wir, zurücktretend, auf drei Schritt Entfernung durch ein offenstehendes Fenster sehen. Sehr gut.“

Seidentopf, immer unruhiger werdend, wollte antworten; Turgany aber, als merke er nichts von der Verstimmung seines Freundes, fuhr jetzt in der ihm eigenen Weise fort: »Wir haben nun unser Verdikt abgegeben, und Inkulpat, trotz der günstigen, aber als durchaus parteiisch anzusehenden Aussagen seiner Amtsbrüder von Hohen-Vietz und Dolgelin, ist als schuldig befunden worden. Othegravens zustimmendes Kopfnicken, als die ›goldenen Sterne‹ der Bürgerschen Lenore heraufzogen, hab’ ich, hoffentlich nicht mit Unrecht, im Sinne der Anti-Schmidt-Partei gedeutet. Ausständig ist nur noch eine gewichtige Stimme. Ich erhebe hiermit die bestimmte Frage: ?wie stellt sich Herrnhut zu Werneuchen??“

Tante Schorlemmer schüttelte den Kopf hin und her und klapperte lebhafter denn zuvor mit ihrem Strickzeug, das sie, nach Auslösung der Pfänder, wieder zur Hand genommen hatte. Sie schien auch jetzt noch jede Antwort verweigern zu wollen.

Turgany aber, uneingeschüchtert, fuhr in Nachahmung richterlicher Würde fort: „So müssen wir denn zu den stärksten Mitteln greifen. Im Namen Zinzendorfs...“

Die so feierlich Beschworene, eine der eben abgestrickten Nadeln erhebend, drohte bei dieser Formel scherzhaft zu dem Justizrat hinüber und sagte dann: „Renate und Marie haben recht; er ist garstig.“

„Er ist garstig“, wiederholte Turgany. „Mit Hülfe dieser verspäteten Zeugenaussage, in der ich beiläufig einen Saxonismus zu erkennen glaube, tritt unsere Verhandlung in eine neue Phase ein. Es scheint sich der ästhetischen Anklage, wenn auch nur leise, ein moralisches Element beigesellen zu sollen.“

„Das nicht“, fuhr jetzt Tante Schorlemmer mit Entschiedenheit fort, „aber er mißfällt mir ganz und gar. Er mißfällt mir, weil er sein geistlich Kleid ohne geistliche Würde trägt. Der Justizrat hat es getroffen: die Wiege steht ihm näher als die Kanzel. Selbst das heilige Weihnachtsfest ist ihm kein Fest des Kindes Gottes, es ist ihm nur ein Fest seiner eigenen Kinder. Er scheut selbst vor Anstößigkeiten nicht zurück, und ich schäme mich dann in seine Pastorseele hinein. Nein, nein, das ist nichts für ein herrnhutisch Herz, dem noch die Weihnachtslieder der eigenen Kindheit im Ohre klingen.“

Turgany schwieg. Renate trat an Tante Schorlemmer heran und sagte: „Gib uns das Lied, das du den ersten Weihnachten sangst, als du zu uns gekommen warst. Ich lieb’ es so. Bitte, ich sing’ auch mit.“

Tante Schorlemmer strickte eifrig weiter. Dann sagte sie: „Gut, ich will es; sind wir doch hier in einem christlichen Predigerhause.“ Damit stand sie auf und setzte sich an das Klavier. Mit zitternder Stimme hob sie an, bis die schöne Altstimme Renates wie eine Glocke einfiel. Leise begleitend klang das Klavier. So sangen sie beide:


Holder Knabe

Mit dem Stabe,

Der die Löwen weiden kann,

Denk der kleinen

Armen deinen,

Der du Jüngling warst und Mann.

Laß sie weiden

In den Freuden

Deiner Kindheit, Jesu Christ!

Lehr sie stündlich

Treu und kindlich

Sein, wie du gewesen bist.


Und damit schloß der zweite Weihnachtstag im Pfarrhause zu Hohen-Vietz.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm