Abschnitt 1

Helpt mi!


Es schlug vier Uhr, als Lewin und Tubal den Ausgang des Städtchens erreicht hatten. Wenige Minuten später standen sie am Fluß, und Tubal, der um einige Schritte voraus war, schickte sich bereits an, das steile Ufer hinabzusteigen, als ihm Lewin zurief: „Laß uns diesseits bleiben; wir haben hier die große Straße; erst zwischen Neu-Manschnow und dem Entenfang bei der Hohen-Vietzer Kirche gehen wir über.“


Tubal war es zufrieden. Sie schritten also eine kleine Strecke zurück, bis sie wieder inmitten einer breiten Pappelallee standen, die sie schon fünf Minuten vorher passiert hatten, und nahmen nun ihre Richtung erst auf die Rathstocker Fähre, dann auf das Neu-Manschnower Vorwerk zu. Dieses Vorwerk war halber Weg. Die Straße stieg ein wenig an. Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, wurden sie des Hohen-Vietzer Kirchturms ansichtig, der auf dem jenseitigen Höhenzuge wie ein Schattenriß im Abendrote stand.

„In einer Viertelstunde ist es dunkel“, sagte Lewin, „aber wir können nicht fehlen; jetzt haben wir die Straße, nachher den Turm.“

Tubal nickte zustimmend; aber ihn gesprächig zu machen, wollte nicht gelingen. Die Worte des Doktors von dem „Widerspruch des Daseins“ klangen ihm noch im Ohr. Er war dadurch in seinem eigenen Tun getroffen worden, mehr noch in dem seines Hauses, und es lag ihm jetzt daran, die kaum angeknüpfte Bekanntschaft fortzusetzen. Denn so verhaßt ihm alles Predigerhafte war, so tief ergriffen ihn Sätze, die reicher Erfahrung und einer lebhaften Empfindung entstammten.

In Schweigen schritten die beiden Freunde nebeneinander her. Als sie die Rathstocker Fähre zur Linken hatten, war es Abend geworden. Einzelne Sterne blinkten matt; in nördlicher Richtung begann ein Flimmern.

„Ich glaube, der Mond geht auf“, bemerkte Lewin und wies auf eine helle Stelle am Horizont.

„So früh?“ fragte Tubal gleichgültig und sah sich weiterer Antwort überhoben, als ein Fuhrwerk herankam, dessen eiserne Kummetkette an der Deichsel klapperte. Lewin kannte das Gespann. Es war der Manschnower Müller.

„Guten Abend, Kriele. Noch so spät bei Weg?“

„Man möt wull, Jungeherr. Se weten doch, wat mi passiert is?“

„Ja, Kriele. Aber wie konnten Sie nur das Geld unter die Diele legen?“

„Ja, wo sull man mit hen, Jungeherr? De een’ Stell is so schlecht as de anner. Ick will nu nach Frankfurt. Morgen is Verhür.“

„Haben sie denn die Diebe schon?“

„Se hebben Paschken und Pappritzen, de immer mit dabi sinn. Awers Justizrat Turgany hett mi seggen laten: Pappritz is et nich. Un mit Paschken wihr et ooch man soso.“

„Nun, der Justizrat versteht es. Grüßen Sie ihn von mir.“

„Dat will ick utrichten, Jungeherr.“

Dabei zogen die Pferde wieder an; eine Weile noch hörte man das „Hü!“ des Müllers und dazwischen das Klappen der Kette. Dann war alles still.

Die Begegnung, unbedeutend, wie sie war, hatte wenigstens die Zungen gelöst. Tubal fragte, Lewin antwortete, und ehe noch die Familiengeschichte des Manschnower Müllers auserzählt war, hielten die beiden Freunde dem Hohen-Vietzer Kirchturm gegenüber. Sie bogen aus der Pappelallee links ein, folgten dem Laufe eines kleinen Grabens, der sich quer durch den Acker hinzog, und standen alsbald an einem verschneiten, wohl zwanzig Fuß hohen Abhang, von dem aus nicht Weg, nicht Steg zum Fluß hinunterführte. Zum Gehen war es zu steil, zum Springen zu hoch, so legten sich beide, Gewehr im Arm, auf den Rücken, drückten die Schultern fest in den Schnee und glitten glücklich hinab; freilich nur, um sofort vor einem neuen, ernsteren Hindernisse zu stehen. Inmitten des Flusses ließen sich einige Tannen erkennen, die den Längsweg bezeichneten, aber kein Querweg, der sie bequem und sicher hinübergeführt hätte, war abgesteckt. Tubal schritt nichtsdestoweniger vorwärts und wollte den Übergang forcieren, Lewin indessen litt es nicht.

„Du weißt nicht, was du tust. Es ist das diffizilste Terrain. Überall hier herum hauen die Dorfleute große Löcher in das Eis; es ist der Fische halber, die sonst ersticken. Das überfriert dann, und der Schnee verweht die Stelle.“

„Aber wir müssen doch hinüber?“

„Gewiß, aber nicht hier. Es wird sich schon ein Übergang finden. Tausend Schritte weiter aufwärts zweigt der Weg nach Gorgast ab. Das ist ein großes Dorf. Ich bin sicher, daß sich die Gorgaster eine Kuschelallee abgesteckt haben.“

„Nun gut, du mußt es wissen.“ Damit schritten beide Freunde am Flußrande hin, der oft so schmal war, daß sie mit ihrer rechten Schulter den verschneiten Abhang streiften. Es war ein beschwerlicher Marsch, namentlich da, wo große Büsche von rotem Werft überklettert werden mußten. Endlich sahen sie die Stelle, von wo rechts her eine Art von Hohlweg einmündete und sich quer über das Eis hin fortsetzte.

„Unsere Irrfahrt geht zu Ende“, sagte Lewin und wies auf die schwarzen, zugespitzten Bäumchen, die sich bald deutlich als die Kiefern einer Querallee erkennen ließen. „Mehr Abenteuer, als ich zwischen Kirch-Göritz und Hohen-Vietz für möglich gehalten hätte.“

„Und wir sind noch nicht im Hafen“, antwortete Tubal. „Ein russischer Feldzug im kleinen. Schnee, Schnee. Et voilà la Bérésine.“

„Aber keine Brücke wird unter uns zusammenbrechen“, scherzte Lewin und bog voranschreitend in den abgesteckten Weg ein, der die beiden Freunde nach wenigen Minuten schon sicher ans andere Ufer führte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm