Abschnitt 2

Doktor Faulstich.


„Das alles zählt zu seinen besten Sachen, aber das Beste ist nicht immer das Eigentlichste. Als ich Sie die Straße heraufkommen sah, las ich eben in seinen ?Hymnen der Nacht?. In diesen Hymnen haben Sie den eigentlichen Novalis.“


Bei diesen Worten nahm der Doktor das elegant gebundene Buch, legte das sonderbare Lesezeichen ohne jeglichen Anflug von Verlegenheit beiseite und sagte dann, in dem Buche blätternd: „Ich widerstehe nicht der Versuchung, Sie mit einigem, was ich eben las, bekanntzumachen.“

Die beiden Freunde stimmten zu.

„Wir gelten ohnehin als Fanatiker“, fuhr Dr. Faulstich fort, „und wo Fanatismus ist, da ist auch Proselytenmacherei. Übrigens werde ich Ihre Geduld nicht ungebührlich in Anspruch nehmen. Es sind nur wenige Zeilen, eine Verherrlichung des Griechentums.“ Faulstich las nun die betreffende Stelle und sagte dann, als er das Buch wieder aus der Hand legte: „Ist die griechische Welt je tiefer und treffender geschildert worden? Und doch ist diese Schilderung nur der Übergang zu der des Christentums. Hören Sie selbst. Jede Zeile berührt mich wie Musik.“

Und er las weiter: „Im Volke, das vor allem verachtet und der seligen Unschuld der Jugend trotzig fremd geworden war, erschien mit nie gesehenem Angesicht die neue Welt: in der Armut dichterischer Hütte der Sohn der Ersten Jungfrau und Mutter. Einsam entfaltete sich das himmlische Herz zu einem Blütenkelch allmächtiger Liebe, und mit vergötternder Inbrunst schaute das weissagende Auge des blühenden Kindes auf die Tage der Zukunft, unbekümmert über seiner Tage irdisches Schicksal.“

Der Doktor schwieg. Die beiden Freunde waren aufmerksam gefolgt. „Sonderbar“, bemerkte Lewin, „es berührt mich fast, als ob diese Schilderung, innig, wie sie ist, hinter der Verherrlichung des Griechentums zurückbliebe. Sollte die Sehnsucht nach der Schönheit doch mächtiger in ihm gewesen sein als die christliche Legende samt dem Glauben an sie?“

Tubal schüttelte den Kopf. „Ich empfand Ähnliches wie du, ohne dieselben Schlüsse daraus zu ziehen. Die Kraft des poetischen Ausdrucks ist kein Gradmesser für unsere Überzeugungen, kaum für unsere Neigungen. Ich liebe den Frieden de tout mon coeur, aber ich würde den Krieg um vieles leichter und besser verherrlichen können. Alles Farbige hat den Vorzug, und selbst schwarz ist besser als weiß. Nimm unsere frömmsten Dichter; wo Gott und der Teufel geschildert werden, kommt jener zu kurz.“

Dr. Faulstich, der, während Tubal sprach, in dem Novalisbande, als ob er eine bestimmte Stelle suche, weitergeblättert hatte, nickte zustimmend und bemerkte dann zu Lewin: „An einer allerintimsten Stellung unseres Dichters zum Christentum ist gar nicht zu zweifeln; käme dieser Zweifel aber auf, so wär’ es mit seiner Suprematie vorbei. Denn es ist nicht das Maß seines Talents, sondern das Maß seines Glaubens, was ihn über die Mitstrebenden erhebt. Es gibt auch eine Romantik des Klassischen, aber die wirkliche Wiege und Wurzel alles Romantischen ist eben die Krippe und das Kreuz. In allem Schönsten, was die Schule geschaffen hat, klingt laut oder leise dieser Ton, und die Sehnsucht nach dem Kreuz ist ihr Kriterium. In keinem ist diese Sehnsucht lebendiger als in Novalis; er hat sich in ihr verzehrt. Sie nannten schon den ?Kreuzgesang?; aber schöner, tiefer sind die Strophen, mit denen er die Reihe seiner ?Geistlichen Lieder? einleitet. Ich lese Ihnen wenige Zeilen, weil ich der Wirkung derselben sicher bin:


?Wenn alle untreu werden,

So bleib’ ich dir doch treu,

Daß Dankbarkeit auf Erden

Nicht ausgestorben sei.

Für mich umfing dich Leiden,

Vergingst für mich in Schmerz,

Drum geb’ ich dir mit Freuden

Auf ewig dieses Herz.

Oft muß ich bitter weinen,

Daß du gestorben bist

Und mancher von den Deinen

Dich lebenslang vergißt.

Von Liebe nur durchdrungen,

Hast du so viel getan,

Und doch bist du verklungen,

Und keiner denkt daran.?“


Der Doktor, der mit von Zeile zu Zeile bewegter werdender Stimme gelesen hatte, legte das Buch aus der Hand; dann fuhr er fort: „Seit dem Paul Gerhardtschen ?O Haupt voll Blut und Wunden? ist nichts Ähnliches in deutscher Sprache gedichtet worden. Und das in diesen Zeiten des Abfalls!“

Tubal war bewegter als Lewin; er stand, wie alle sinnlichen Naturen, unter dem Einfluß schwärmerischen, sich anschmiegenden Wohllauts. So schritt er, während Lewin das Novalisgespräch mit dem Doktor fortsetzte, auf das Fenster zu und sah hinaus. Schulknaben und Mädchen in Pelzmützen und roten Kopftüchern kamen die Straßen herauf und jagten und schneeballten sich, während Hunderte von körnerpickenden Sperlingen hin und her hüpften, aber nicht aufflogen. Alles atmete Frieden, und Tubal, der im Anblick dieses Bildes das in einer stillen Sehnsucht wurzelnde Glück, wie es die Vorlesung der Strophen in ihm angeregt hatte, wachsen fühlte, trat jetzt vom Fenster her wieder an den Tisch und sagte, dem Doktor die Hand reichend: „Wie beneide ich Ihnen diese Kirch-Göritzer Tage! Statt des Geschwätzes der Menschen Schönheit und Tiefe, und dabei die Muße, sich beider zu freuen.“

Lewin schwieg. Er kannte zuviel von der Wirklichkeit der Dinge, um zuzustimmen; der Doktor aber antwortete: „Sie haben aus dem Becher nur gekostet; wer ihn leeren muß, der schmeckt auch die Hefen. Und immer höher steigt dieser Bodensatz. Die Bücher sind nicht das Leben, und Dichtung und Muße, wieviel glückliche Stunden sie schaffen mögen, sie schaffen nicht das Glück. Das Glück ist der Frieden, und der Frieden ist nur da, wo Gleichklang ist. In dieser meiner Einsamkeit aber, deren friedlicher Schein Sie bestrickt, ist alles Widerspruch und Gegensatz. Was Ihnen Freiheit dünkt, ist Abhängigkeit; wohin ich blicke, Disharmonie: gesucht und nur geduldet, ein Klippschullehrer und ein Champion der Romantik, Frau Griepe und Novalis.“

Er war aufgesprungen und durchschritt das Zimmer. „Beneiden Sie mich nicht“, fuhr er fort, „und vor allem hüten Sie sich vor jener Lüge des Daseins, die überall da, wo unser Leben mit unserem Glauben in Widerspruch steht, stumm und laut zum Himmel schreit. Denn auch unsere Überzeugungen, was sind sie anders als unser Glauben! Die Wahrheit ist das Höchste, und am wahrsten ist es: ?Selig sind, die reinen Herzens sind?.“

In diesem Augenblick erschien Frau Griepe, die sich mittlerweile geputzt hatte, wieder in der Tür, vorgeblich, um anzufragen, ob sie abräumen solle, in Wahrheit aus Neugier und um sich zu zeigen. Ein Blick innerlichsten Grolls schoß aus dem Auge des Doktors, aber sofort seine Kette fühlend, verzog er den Mund zu einem freundlichen Lächeln. „Wir wollen es lassen, Frau Griepe, später.“ Damit zog sich die Frau wieder zurück.

Die Freunde hatten sich erhoben; der Nachmittag, der längst angebrochen war, mahnte zum Aufbruch. Tubal reichte dem Doktor die Hand. „Ich habe nichts überhört; Ihre Worte haben mich mehr getroffen, als Sie wissen können.“ Der Doktor lächelte: „Novalis ist tief, aber das Evangelienwort, das ich eben gesprochen, ist tiefer. Ihnen, lieber Lewin, hat es die Mutter Natur ins Herz geschrieben. Und das ist die Gewähr Ihres Glücks.“

„Berufen wir es nicht.“

Damit trennte man sich. Frau Griepe stand in der Haustür, um noch einen Gruß zu erhaschen, und sah beiden Freunden nach und lachte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm