Eine Winterreise (Fortsetzung)

Gewaltsam suchte ich die Schwermut zu bekämpfen und meine Blicke richteten sich auf die einzige Person, welche mit mir das Innere des Postwagens teilte. Eine junge Waise, meinem Schutze anvertraut. Ich hatte versprochen, sie zu ihr unbekannten Verwandten zu geleiten, deren Mitleid der Heimatlosen eine Stätte bot. Sicher war das Lebenslos des jungen Mädchens ein beklagenswertes, aber es schlief vollkommen ruhig an meiner Seite, während ich an jenen moralischen Qualen litt, die in ihrem Höhepunkte sich bis zu physischen Schmerzen steigern. So fuhren wir zwei Tage und zwei Nächte lang und waren schweigsam. Auf den russischen Stationen sind stets mehrere Zimmer gewärmt und zum Empfang der Reisenden bereit, so kann sich jeder absondern nach Herzenslust. Wir bekamen auch von zwei Gardeoffizieren, unsern Reisegefährten, wenig mehr als die grauen Mäntel zu sehen. Nur ein geschwätziger Franzose von jenem zahlreichen Contingent, wie es la belle France ins „fürchterliche Russland“ schickt, um Rubel zu machen, versuchte mit gleich wenig Erfolg in beiden Zimmern eine Unterredung anzuknüpfen.

Zwei Dinge erschienen mir bereits als überflüssig, mit denen ich mich moralisch und physisch für die Reise ausgerüstet hatte. Erstens der große Brotvorrat. In der Nähe der Hauptstadt war unsere Verpflegung vortrefflich, mit Ausnahme dessen, dass man uns innerhalb 24 Stunden nur zwei Mahlzeiten gestattete. Zweitens der Mut, den ich zur Ertragung von Beschwerden und Gefahren gefasst. Der Wagen rollte sanft auf einer Straße, die nahezu so glatt war wie das Parquet eines Salons. Was hatten die zu Petersburg gemeint mit unfahrbaren Wegen, Schneewehen und ausgetretenen Flüssen? Mein Fuß stieß an den Korb mit Mundvorräten, die wohlmeinende Bekannte mit auf den Weg gegeben, und unwillig über das Hindernis freier Bewegung, teilte ich den Inhalt unter Bettler, die auf jeder Station unsern Wagen umdrängten.


Der Fluss bei Dünaburg bildete das erste Hindernis auf unserer Straße. Das Eis der Düna war nicht mehr stark genug, den schweren Postwagen zu tragen, daher erwarteten Telägen
die Leidensgefährten. Was ist ein Teläga? Das Wörterbuch gibt „Bauerwagen“. Wer aber die Stöße nicht gefühlt hat, wer nicht im Heu vergebens nach einem Schwerpunkt rang, wessen Kleider nicht vom Rade zerrissen und wessen Gesicht nicht vom Straßenkot beschmutzt worden ist, kann sich trotz der klarsten Beschreibung keinen Begriff von diesem russischen Marterwerkzeug entwerfen. Zwanzig Werste werden gewöhnlich ziemlich heiter zurückgelegt, man lacht noch über die Stöße und entschuldigt sich, so oft man den Fuß des Nachbars mit dem eigenen verwechselt. Später aber nimmt das alles ab. Der artige Gardekapitän wird müde, den Mantel des jungen Mädchens aus der gefährlichen Nähe des Rades zu retten. Er verliert die Luft zum Plaudern und hört gänzlich auf, galant zu sein. In stummer Verzweiflung hält er nur noch ein Kästchen Havanna an die Brust gedrückt. Diese sind seine Tröster auf der schlimmen Reise. Mehrmals beneidete ich das Zigarrenkistchen, denn es war das einzige von uns allen, Personen und Gepäckstücke inbegriffen, welches bequem reiste und unversehrt das Ziel erreichen sollte.

Der offene Karren bietet keinen Schutz gegen die empfindlich kalte, feuchte Nachtluft. Umsonst sind Teppiche und Shawls — die Kälte dringt hindurch. Sehnsüchtig blicken wir nach den weißen Werstezeigern, die uns das Nahen der Station ankündigen. Unser Gegenüber lässt in regelmäßigen Zwischenräumen ein im Kommandoton gesprochenes „Pascholl!“ (Vorwärts!) hören, wir fliegen über die bodenlose Straße, hoch auf spritzt der Kot und jede Stelle unsers Körpers schmerzt. Weit zurück bleibt der kaltblütigere Gardeoberst mit dem Franzosen. Ganz hinten schließt der Conducteur den traurigen Zug und führt unser arg mitgenommenes Gepäck bei sich.

Fast jeder materielle Genuss will erkauft sein oder erhält erst erhöhte Würze durch vorhergegangene Entbehrungen. Gleich einem langen Bande schlängelt sich die Landstraße durch meilenweites Heideland, kein Hügel begrenzt den ungeheuern Horizont. Zuweilen führt der Weg durch Fichtenwaldung. Auf den Bäumen wiegen sich Dohlen und der heisere Schrei, mit dem sie sich bei unserer Annäherung in die Luft erheben, ist die einzige Unterbrechung der lautlosen Stille. Mehr in der Nähe der Stationshäuser begegnen uns die kleinen Fuhrwerke der Bauern, oft in langen Reihen sich mühsam durch den halbgefrorenen Kot arbeitend. Einige Werste später folgen die Lehmhütten der Landleute. Hier hat die Natur ihre poetische Jungfräulichkeit verloren, da sitzt der Mensch mit seiner Qual! In dem Ringen, der harten Scholle den Unterhalt abzugewinnen, verfließen hier Menschenleben, düsterer, einförmiger, reizloser noch als die Landschaft. Wieder eine kurze Strecke nach den Hütten erheben sich größere Gebäude, umgeben von Scheunen und Stallungen. Wenig malerisch ist gewöhnlich der Anblick; Bettler, das menschliche Elend in der krassesten Form zur Schau tragend, und die dem heiligen Antonius geweihten Tiere bilden meistens die Staffage; dennoch empfindet der Reisende die nämliche Wirkung wie der Beduine, wenn er in seiner Sandwüste Bäume sieht und eine Quelle rieseln hört. Die Oase der russischen Wüste ist die stanzia (Poststation). Der Kutscher treibt die Pferde an und fährt mit rascher Schwenkung in den Hof. Der Reisende richtet sich aus seiner halb liegenden Stellung auf, zählt die Gepäckstücke und nun beginnt der schönste Moment des Reiselebens: man tritt in die warme Stube. Bald dampft der würzige Tee, die Zigarre glüht und alle Mühen sind vergessen.

Nach einer Telägafahrt durch das unwirtliche Gouvernement von Pskow oder von Witebsk, wie erquickt da das warme Passagierzimmer! Wie mundet so köstlich der russische Tee!
Im gemächlichen Kreise um den samowar (russische Teemaschine) kommt ei» heiteres Gespräch zu Stande, jeder liefert seinen Beitrag. Der Gardeoberst, ein ernster, vernünftiger Mann, seiner Abstammung nach ein Deutscher aus den Ostseeprovinzen, der schöne Kapitän, ein echter Russe, dessen Vater hohen tschin (Dienstrang) besaß und viele Seelen, Mr. Basseport, der schon durch seinen Namen Stoff zum Lachen gab, und ich, der ich auf fortgesetztem Wanderleben mit Söhnen aller Länder zusammentreffe, wir sind rasch bekannt. Nur die Kleine verharrt in ihrem schwerfälligen Schweigen. Manche Nacht, wenn die Pferde fehlten, haben wir auf diese Weise plaudernd verbracht und es ward uns dabei die Zeit nicht lang.

Das Schicksal unterhielt sich indessen damit, unsere Qualen langsam zu steigern. Es war ein ewiges Schwanken zwischen Befürchtung und Hoffnung. Wenn wir zu erliegen meinten, trat vorübergehende Erleichterung ein.

Nachdem wir die Düna passiert, fanden wir wieder eine leidliche Straße; aber der Postwagen war am andern Ufer zurückgeblieben und wir bis auf weiteres zum Teläga verurteilt. Von Station zu Station wurden wir vertröstet, auf der nächsten endlich einen Wagen zu finden. Die Geduld verließ uns, allgemeines Missbehagen teilte sich der kleinen Gesellschaft mit. In immer kürzeren Pausen stieß der Kapitän sein Pascholl! aus und wechselte zuweilen mit dem polnischen „Brenzi!“ (Vorwärts!), weil wir uns bereits in Litauen befanden. Die Gegend wird hier malerisch; es ist ein rascher Übergang aus trostloser Heide in waldig, hügelig Land, durch schöne Flüsse bespült. Indessen sollten diese Flüsse, die wir einstweilen bewunderten, und später noch große Beschwerden verursachen.

Unsere Art zu reisen vertreibt den Spleen, die sehr realen Mühsale lassen keinen Gedanken mehr an die bloß idealen aufkommen. Die feuchte Nachtluft durchfröstelte meinen Körper derart, dass sich mir lebhaft der Gedanke aufdrängte, wie schrecklich es sein müsse, hier, außerhalb der Zivilisation, krank zu werden, und ich fühlte, das Fahren auf dem Teläga nicht mehr lange ertragen zu können. Unsere einzige Hoffnung, unsere einzige Hilfe waren die Gardeoffiziere; ohne sie wären wir dem fürchterlichen Trio von Postmeister, Conducteur und Postillon rettungslos unterlegen.

Auf den schönen Kapitän richtete sich denn auch in der Verzweiflung mein Blick. Er saß mir gegenüber in gerader Haltung, als reite er vor der Fronte. Den kräftigen, ebenmäßigen Körper umschloss ein Tuchrock, darüber straff gezogen der grobe russische Soldatenmantel, den im Kriege selbst der Kaiser trägt. Eine sehr vernünftige Einrichtung, welche verhindert, dass die Offiziere zur Zielscheibe der feindlichen Schüsse dienen. Über den Soldatmmantel, der eigentlich ein langer, an der Taille befestigter, bis auf die Knöchel herabfallender Überrock ist, trug her junge Mann noch den hechtgrauen Offiziersmantel mit Scharlachkragen. Letzteren hatte er über die Ohren gezogen, die Soldatenmütze tief in die Stirn gedrückt. So empfand er die Kälte nicht, aber dafür litt er an moralischer Pein. Mühsam war es dem vornehmen, einflussreicher Familie angehörenden jungen Mann gelungen, Urlaub auf 28 Tage zu erlangen und die Erlaubnis zu einer Reise nach Deutschland, um dort wichtige Geschäfte abzumachen. Fünfhundertfünfzig Silberrubel hatte der Kapitän für seinen Pass bezahlt. Er sollte in Heidelberg mit einem Verwandten zusammentreffen, dann über Moskau nach Petersburg zurückkehren und schließlich noch innerhalb des Termins in seiner Garnison in Estland ankommen. Ein riesenhaftes Unternehmen, selbst wenn man in der gewöhnlichen Zeit von fünf bis sechs Tagen Warschau erreichte; allein es war vorauszusehen, dass wir doppelt so lange unterwegs sein würden. Daher die immer häufigeren und immer zornigeren „Pascholl!“, die zuletzt, von russischen und polnischen Flüchen begleitet, heiser aus seiner Kehle drangen.

Mit Bedenken ging ich daran, den Mann anzureden, denn ich sah, dass er außer sich war. Aber die Phantasie, unsere geschäftige Quälerin, zeigte mir mich selbst krank auf dem schmutzigen Stroh einer Bauernhütte, als Labetrunk wodky (Branntwein), vielleicht das Ende ohne Freundeshand! Der größere Schrecken vertrieb den kleinern.

„Wir müssen darauf dringen, auf der nächsten Station einen geschlossenen Wagen zu erhalten, nötigenfalls den Postmeister zwingen!“, sagte ich zum Kapitän.

Er antwortete mit einem eigentümlich akzentuierten „Ja!“ und versank in früheres Schweigen.

Bald darauf fuhren wir in den Stationshof. Es war bereits finster; undeutlich verschwamm das Gewirr von Telägen, muschikoff (Bauernkerlen), Pferden, Schweinen.

„Fanár! Smatrutel! Skamelka!“, schallte es stürmisch durcheinander in der klangvollen Stimme des Kapitäns und meinem gebrochenen Russisch. Die Laterne nämlich begehrten wir zum Leuchten, den Postmeister wegen des Wagens und den Schemel, um von unserm hohen Karren herabzuklettern.

Aber der Knäuel entwirrte sich nicht; die muschiky verharrten in ihrer apathischen Stellung und es blieb finster. Da ging endlich dem schönen Kapitän die Geduld aus; gleich Donnergroll kam seine Stimme aus der Brust und in der hocherhobenen Rechten schwang er den Stock, dessen Beredsamkeit wie die des Goldes in allen Ländern durchdringt. Mir blieb eben Zeit zu beobachten, dass der Kraft das Dräuen wohl ansteht, wo die Persönlichkeit Nachdruck verleiht, während es lächerlich erscheint bei den Schwachen.

Wie stand ihm gut die finstere Wetterwolke des Zorns, das Auge blitzte löwenkühn! Mit raschem Sprung gelangte er von dem Teläga auf die Erde. Welch ein Kontrast gegen die widrigen Gestalten um ihn her! Fabelhaft schnell erschienen Laternen, Postmeister und Schemel. Vorerst bot uns der junge Mann artig die Hand, um uns aussteigen zu helfen. Im Nu aber war der höfliche Edelmann verschwunden und es brach eine Flut energischer Worte in der kräftig schönen Sprache seines Volks durch die bärtigen Lippen. Geläufig drückte sich der schöne Kapitän in vier fremden Sprachen aus, allein mit Kraft und Feuer bloß in der eigenen. Er kannte und liebte sie!

Von dieser rasch herausgestoßenen Unterredung gelang es mir nur Bruchstücke zu verstehen. Es verlor sich die anfangs wortreiche Entgegnung des Postmeisters in ein „harascho!“ (gut); zuletzt gingen sie in das demütigere „sluschi“ (ich höre) über.

„Wir werden den Wagen haben“, wandte sich der Kapitän an mich; „aber es gibt einen Aufenthalt von vier Stunden“, setzte er seufzend hinzu.

Kaum eingetreten ins Stationszimmer, versank der junge Mann in felsenfesten Schlaf. Wir trafen unsere Vorbereitungen zum Essen. Außer dem samowar gab der Postmeister nichts. Ein vornehmer Russe ist nicht gewöhnt, für irgendein Lebensbedürfnis zu sorgen, und daher, wenn er keinen Bedienten bei sich hat, in großer Gefahr, im eigenen Lande zu verhungern. Zum ersten male hatte ich Veranlassung, den Nutzen der mitgenommenen Esswaren einzusehen und ihre Verschwendung zu bedauern. Es blieb nichts übrig, als sich mit Teegenuss zu trösten. Ein Glas Tee erwärmt, es sättigt und verdaut sich leicht. Um sich von dieser Wahrheit zu überzeugen, muss man im Winter in Russland reisen. Die junge Russin hatte mit Sorgfalt den Nektar des Nordens bereitet und nun wollte ich den schönen Kapitän wecken, damit er an der Erquickung eines slakan tschei (Glas Tee) mit uns teilnehme.

So laut ich auch rief, die regelmäßigen Züge blieben in der Ruhe des Schlafs. Der Franzose steigerte seine Fistelstimme bis zum höchsten Diapason und kreischte: „Mon capitain! Mr. le baron!“ Das schöne Gesicht blieb steinern, unbeweglich. Da näherte sich der Oberst lachend und rüttelte mit voller Kraft.

Die feurigen, braunen Augen taten sich auf und volltönend drang es über die Lippen hervor: „Ya hatschu yest!“ (Ich will essen!).

Nichts zu haben als Tee und, ein Glas Bordeaux!

Sorgfältig, wie der schöne Kapitän seine Zigarren, hatte ich mein Kistchen Weinflaschen gehütet und auch gerettet.

Zu meiner Bewunderung gewahrte ich, dass dieses Ideal männlicher Kraft und Schönheit vom leichten französischen Wein nur nippte wie ein zimperliches Jungferchen. Hingegen der Oberst und Mr. Basseport halfen mir fröhlich die Flasche vollenden. Der Franzose wurde so aufgeräumt, dass er uns gute Verse Victor Hugos sehr schlecht deklamierte.

Der schöne Kapitän nahm an der Heiterkeit keinen Teil. Das Pfützenwasser, welches er hinunterschluckte, hob seine Lebensgeister nicht. Häufig war in unserer kosmopolitischen Gesellschaft der Unterschied der Nationen nebst ihren Eigentümlichkeiten zur Sprache gekommen.

Auch jetzt wieder bemerkte der Kapitän mit einem Blick auf Mr. Basseport: „Ein russischer Bauer wird verstockt und unlustig zu jeder Arbeit, wenn er nicht gegessen hat; ein Edelmann gerät in die Stimmung, alles zusammenzuschlagen, aber ein Franzose ist fähig, selbst mit leerem Magen von les beaux yeux zu sprechen!“
„C’est vrai, monsieur“, erwiderte Basseport, „mais bète que je suis!“ ruft er aus und springt in die Höhe. Gleich darauf erscheint er wieder mit einer duftenden Pastete, die bisher im Heu des Teläga gesteckt.

Niemals im Leben entzückte mich etwas von jenseits des Rhein wie dieses feinste Produkt der Pariser Kochkunst mitten in Litauen! ,,Woher stammt dieses Meisterwerk?“ fragte ich.

„Mein Freund gab es mir mit auf die Reise, oh, c’est un excellent homme, mon ami!“
Ich war im gegenwärtigen Fall geneigt, Mr. Basseports Urteil über seinen Freund zu teilen. „Aber wer ist denn der Mann, der uns alle zur Dankbarkeit verpflichtet?“

„Der chef de cuisine des Grafen Stroganoff!“

Lachend schnitt sich der Gardekapitän noch ein Stück ab von der Pastete, die ihm wohlbekannt war von der gastlichen Tafel des Grafen. Wahrlich, wir verwarfen alle jedes aristokratische Vorurteil und genossen heiter die Gastfreundschaft de l’ami du chef de cuisine.
Nachher teilte sich uns das wohltätige Gefühl der Sättigung mit. Wie wir unser Mahl begonnen, so wollen wir es enden. Der aromatische Tee dampft wieder im Glas und dazu schmeckt herrlich die Havanna des schönen Kapitäns. Wer sagt noch, dass unsere Art zu reisen nicht prächtig sei! Wir bilden eine glückliche Republik, mit praktischer Demokratie und friedlichem Kommunismus! Was krampfhafte Bewegungen seit Jahrzehnten vergeblich erstreben, ordnet in Litauen der Teläga mit seinen Stößen. Sehr heterogene, sowohl religiöse wie politische Meinungen und verschiedenartige soziale Abstufungen waren in unserer kleinen Gemeinschaft vertreten, nie hatte es einen Misston gegeben. Alle waren wir stets bemüht, uns gegenseitig die Beschwerden zu erleichtern; gute Kameradschaft würzte jeden kleinen Genuss.

Der Begriff von gut und schlecht ist sehr relativ. Als wir nur wieder einen warmen, geschlossenen und gepolsterten Wagen uns erkämpft hatten, erschien uns dieser als das Nonplusultra der Bequemlichkeit. Ich lehnte mich in die Ecke und vergaß bald meine Umgebung in traumlosem, tiefem Schlaf. Ein heftiger Stoß, die scharfe Kälte des anbrechenden Tags und laute Stimmen enden den behaglichen Zustand.

Schon beschädigt, als wir ihn bestiegen, war der Postwagen nach dreistündiger Fahrt vollkommen untauglich. Gestikulierend und schreiend standen die Gardeoffiziere auf der Straße; aber es half nichts, eine Feder war gebrochen.

„Müssen wir bis zur nächsten Station zu Fuß gehen?“, fragte ich erschrocken.

Glücklicherweise hatte an dieser primitiven Art zu reisen der Kapitän keinen Geschmack, wie überhaupt kein vornehmer Russe Bewegung liebt. Unmöglichkeiten gibt es keine in dem Lande des sklavischen Gehorsams; so fuhren wir mit gebrochener Feder bis Wilkomierz. Es ist ein freundlicher, nicht unbedeutender Ort; man hätte meinen sollen, dort könne es nicht schwer fallen, den Wagen zu reparieren oder einen andern dafür zu erhalten; allein dem war nicht so. Wir Ausländer vermochten uns nicht verständlich zu machen, der Russe sinkt leicht in seine Indolenz zurück und lässt sich dann alles gefallen; auf diese Weise wurden wir abermals das Opfer des Teläga.

Drei Stationen später, in Janowo, hatten wir die Wilia zu passieren; eben befand sich der Fluss in schiffbarem Zustande, man mahnte zur Eile.

Der schöne Kapitän setzte sich ruhig auf ein Kanapee und begann Butterbrot mit Schinken zu verzehren. Wie bei so vielen, stimmten Worte und Handlungen nicht überein. „Wir sind außerordentlich pressiert“, bemerkte er, fortwährend auf seinem Platze bleibend; „wer etwas essen will, muss es mit sich nehmen.“

Nach einem Zeitverlust von ungefähr zehn Minuten traten wir die Wanderung an das Ufer der Wilia durch Janowos schuhhohen Schmutz an. Der Franzose allein war aufgelegt, nach den Jüdinnen zu schielen und teilte uns seine Bemerkungen über deren Aussehen mit.

Am Rande des Flusses stand die ganze, größtenteils jüdische Bevölkerung versammelt; wahrscheinlich zählte es zu den vorzüglichsten Unterhaltungen des traurigen Orts, die Kalamitäten der Reisenden mit anzusehen. Auch zahlreiches russisches Militär harrte am Ufer. Die Fähre wurde in Bereitschaft gesetzt; mit uns sollten die Soldaten überfahren. Der schöne Kapitän bestieg einen Eisblock, von dem er die Gegend dominierte. Unser Weg zum Einschiffungsplatz führte über ein unebenes, große Schwierigkeiten bietendes Eisfeld. Gleichgültig von der Höhe sah der junge Mann uns bei jedem Schritte ausgleiten und den Oberst schwer zur Erde stürzen. Endlich hatten wir alle die Fähre bestiegen, mit Ausnahme des Kapitäns. Die Schiffsleute schwangen bereits die Beile, um die Verbindung mit dem Ufer zu trennen. Verwirrtes Untereinanderschreien in unbekannten Sprachen erfüllte mich mit unbehaglicher Ahnung, aber plötzlich drangen kräftige melodische Töne durch das Chaos, Soldatenfäuste packten uns und ehe wir Zeit fanden, uns zu besinnen, standen wir vor dem Eisblock des Kapitäns. Von seinem Beobachterposten aus hatte er den Eisstoß heranschwimmen sehen. In dem nämlichen Moment bewies uns die zertrümmerte Fähre, welches Schicksal uns geworden ohne seinen Warnungsruf.

„Sie retteten uns zweimal das Leben!“, wandte ich mich an ihn, sobald ich einigermaßen gefasst war. Denn ohne sein Butterbrot würde uns der Eisstoß gerade in der Mitte des breiten Flusses ereilt haben.

„Wieder ein Aufenthalt von einem halben, vielleicht einem ganzen Tage“, erwiderte er seufzend.

Nun blieb uns Muße, das Gewirr der sonntäglich geputzten Menge zu überschauen. Die Männer mit starkmarkierten Zügen, lebhaften Augen und langen Bärten trugen den unverkennbaren Stempel ihrer Rasse. Wenige nur waren mit dem langen schwarzen priesterrockähnlichen Talar bekleidet; immer mehr verschwindet diese Nationaltracht der polnischen Juden. In Russland wird sie von der Regierung unterdrückt, nur im Krakauischen trifft man sie noch häufig und am reinsten. Die Weiber folgten der Mode, aber was für einer! Welches unvereinbare Gemisch von Farben und als Firnis darüber der nationelle Schmutz, Die hochaufgehobenen Röcke verrieten uns Geheimnisse, die wir weit besser nicht gekannt. Jede verheiratete Jüdin lässt sich die Haare abscheren und trägt falschen Scheitel, meistens aus Seidenzeug, zuweilen moosgrün! Über diesem schauderhaften Kopfputz thront eine Putzhaube aus schmierigen Blonden mit zerknitterten Blumen geziert. Widerwärtig war der Anblick von auf diese Weise entstellten dreizehnjährigen Kindern, bleiche, kranke Säuglinge im Arm. Selbst der Franzose empfand für diese Specimina des schönen Geschlechts durchaus keine Schwachheit.

Zurückgekommen ins Stationshaus, wurde eine Revision des Gepäcks vorgenommen und siehe da! es fehlte jedem ein teures Haupt! Mein Verlust war der beträchtlichste. Die Russen machten natürlich in ihrer Indolenz gar keinen Versuch, das Verlorene wiederzuerlangen, vielleicht auch darum nicht, weil sie, bei genauer Kenntnis der lokalen Verhältnisse, das Nutzlose eines solchen einsahen. Der Franzose war vollständig hilflos, aber meine Nerven rüttelte der Zorn wohltätig auf. Zuerst machte ich bewegten Gefühlen durch eine Anrede an den Conducteur Luft; da er mich indessen nicht verstand, steigerte dieses notwendig meinen Unwillen. Freundlich kam mir der Oberst zu Hilfe und zuletzt fielen die sonoren Basstöne des schönen Kapitäns ein. Wie immer, war er beredt, wenn er sein kräftiges Russisch sprach. Der Conducteur setzte sich auf die Stufen des Hauses, begrub sein Gesicht in den Händen, brach in Tränen aus und blieb fortan taub und stumm, jeder Anrede unzugänglich.

„Jetzt ist der Kerl total verrückt!“, bemerkte der schöne Kapitän und war nahe daran, den drastischen Erfolg seiner Beredsamkeit zu bereuen.

Gutmütig, leichtsinnig, inkonsequent sind diese Russen wie kaum ein anderes Volk. Marmont hat seinen verabscheuungswürdigen Grundsatz: „Il n’y a que foi du moment“, nicht für die Franzosen allein niedergeschrieben, man befolgt ihn in Russland auch.

Erst spät des Abends vermochten wir über die Wilia zu setzen und nicht ohne große Unordnung ging die Einschiffung vor sich. Am jenseitigen Ufer standen wir zitternd vor Kälte in der feuchten Luft und warteten das Aufladen des Gepäcks ab. Ein russischer Ingenieuroffizier trat zu uns und bot uns einstweilen sein Haus an. Wir kamen durch ein paar guteingerichtete Zimmer, bis wir im Innern seine Gattin trafen. Eine gebildete junge Polin, aber, wie es schien, von unheilbarem Brustleiden befallen. Das warme Gemach, das weiche Kanapee und der Tee, den die Dame uns so freundlich aufnötigte, erwiesen sich als wahre Wohltat und höchst ersprießliche Stärkung für die Mühen, die uns noch bevorstanden. Rasch verfloss eine halbe Stunde und man holte uns nach den Telägen.

Der schöne Kapitän befand sich wieder einmal in gesprächiger Stimmung; auch ich fühlte mich ziemlich behaglich. Lieblich erschien die Gegend durch schimmernde Nebelstreifen im Mondlicht. Wir kamen auf ein uraltes und dennoch stets interessantes Thema, auf die Liebe. Nie behauptete der Kapitän von diesem Jugendfieber befallen worden zu sein. Er meinte, es sei eine unbequeme Leidenschaft, die man fliehen müsse. Wenn er wahr gesprochen, hat er des Lebens Vollgenuss niemals empfunden. Meine Augen ruhten forschend auf ihm; gern hätte ich entdeckt, was unter der hübschen, kalten, glatten Außenseite verborgen lag. In die Länge konnten indessen weder die pittoreske Gegend, noch die Unterhaltung über denjenigen Gegenstand, welcher dem menschlichen Herzen am nächsten liegt, uns über das Unbehagen helfen, wie es die durchdringende Nachtluft erzeugte. Der Kapitän hüllte sich wieder in seine zwei Mäntel, ich zog die Decken fester um mich und wir versanken abermals in düsteres Schweigen.

Dieses wurde auch nicht ferner unterbrochen als durch das brenzi des Kapitäns, welches wieder häufig und stets zorniger durch die Nachtluft klang. Wir flogen auch über die bodenlose Straße. Die Stöße wurden so heftig, dass zuletzt jeder Tritt der Pferde Schmerzen im Kopfe verursachte. Dabei hatte der junge Mann das erstaunliche Glück, zu schlafen; er wachte nur stets auf, um sein brenzi zu rufen, wenn die Pferde etwas langsamer gingen und dadurch die Bewegung erträglicher wurde.

Endlich war das ersehnte Kowno nicht mehr fern; munterer schallte das brenzi und wir rasselten in martervoller Weise über das Straßenpflaster. Aus dem Posthause kam der Kapitän wütend; man hatte ihm erklärt, es sei ganz voll, da wegen Auftauen des Niemens alle Reisenden hier bleiben müssten. Anstatt Ruhe und Bequemlichkeiten zu finden, fuhren wir vor einen andern Gasthof. Dort dieselbe Antwort. Wahrscheinlich hätte sich der Russe damit zufrieden gegeben, im Heu des Teläga zu übernachten; aber ich versuchte mit dem gewöhnlichen Erfolg seine Galle aufzurütteln. Halb polnisch, halb russisch brach ein solches Donnerwetter über das Haupt des Postmeisters, dass dieser mit wortreicher Entschuldigung sich an mich wandte.

„Bestia!“, erwiderte ich in der Universal“ spräche, deren Kraftausdrücke sich allgemeiner Verständnis erfreuen, aufgebracht darüber, dass er uns noch eine Stunde unnütz auf den Füßen erhielt.

Meine Beredsamkeit, mit der des Kapitäns vereint, wirkte. Bis unsere Reisegefährten nachkamen, hatten wir zwei Zimmer mit vier Betten tapfer erkämpft. Mr. Basseport geriet auf den lächerlichen Einfall, auf dem Tisch des Esszimmers sein Nachtquartier aufschlagen zu wollen, weil er bei der Teilung übersehen worden war. Einstweilen benutzten wir des Franzosen zukünftiges Bett zu angenehmerem Zweck. Die Polen heizen ihre Stuben schlecht oder gar nicht, daher wir in Mäntel und Decken gehüllt uns um den Teekessel setzten. Das warme Getränk weckte ein so überaus behagliches Gefühl, daß ich Zigarre nach Zigarre anzündete und der Tag hell in die Fenster schien, bis wir unser Lager suchten.

Der Niemen hielt uns in Kowno fest. Des Vormittags schrieben wir Briefe und nach einem ziemlich schlechten Mahl traten wir nur zu drei, ohne die Gardeoffiziere, die Wanderung durch die alte Stadt an. Während mein Auge Denkmäler der Vorzeit suchte, hielt sich Mr. Basseport mehr an die Gegenwart und musterte wieder mit kritischen Blicken die Jüdinnen. Der Franzose weihte auch nicht einen Gedanken dem furchtbar tragischen Geschick, das auf dieser Stelle vor nun fast fünfzig Jahren seine Landsleute betroffen hatte. Von Wilna an glich der Rückzug der großen Armee mehr einer Flucht; in Kowno sollte aus den ungeheueren, dort aufgespeicherten Vorräten den armen, halbnackten und halbverhungerten Soldaten die so nötige Hilfe gespendet werden. Auf diese Weise hoffte Napoleon noch einmal die Armee zu reorganisieren. Dahin wandten sich also die Kolonnen und was von den Zerstreuten sich noch zu sammeln vermochte. Der Kälte, die vom 8. Dezember an auf 30 Grad gestiegen war, fielen von der die Arrieregarde bildenden 10.000 Mann starken Division Loison allein 7.000 Mann innerhalb drei Tagen zum Opfer. Plötzlich aber verbreitete sich ein Gerücht, welches die dumpfe Resignation des zusammengeschmolzenen Haufens in wütende Erbitterung umwandelte. Vom 5. Dezember an führte Murat den Oberbefehl; der Kaiser, hieß es, sei nach Warschau voraus. Bald wurde die Wahrheit bekannt; aus dem Hauptquartier von Benitza war Napoleon geflohen, nur von 50 neapolitanischen Reitern eskortiert unter dem Kommando des Herzogs von Rocca Romana, dem die Kälte zwei Finger kostete, öfters in Gefahr, dem russischen General Seslawin in die Hände zu fallen, und nicht Warschau, sondern Paris war sein Ziel. Da hallten Flüche in Kownos Straßen; manchem brach in wilder Verzweiflung das Herz, der bis dahin, von einem Hoffnungsfunken geleitet, fast wunderbar sein Leben gefristet. Durch die düstern Soldatenreihen klang es: „Noch einmal hat uns Bonaparte verraten wie damals in Ägypten!“ So war denn die Summe des menschlichen Elends voll für die Unglücklichen, denn auch der geistige Halt war ihnen geraubt. Was nicht starb und verdarb in jenen Tagen des Schreckens, was nicht kraftberaubt und lebensmüde am Wege liegen blieb und sich von den Kosacken totschlagen ließ, den Rest der großen Armee führte Murat am 13. Dezember 1812 bei Kowno über den Niemen. Die Russen haben in der Mitte des Hauptplatzes, zwischen zwei alten Kirchen, ehemaligen Klöstern, die größere davon russifiziert in verdorbenem byzantinischen Stil, ein geschmackloses Monument errichtet. „Hier musterte Napoleon am 13. Dezember 1812, den Rest der sechsmalhunderttausend Mann, die er nach Russland geführt, und er zählte noch einmalhunderttausend“ ist in die eherne Säule gegraben. Solche Monumente erzählen in Russland Geschichte, unbekümmert um historische Wahrheit. Die drastische Wirklichkeit genügt nicht; man erfindet die Fabel und lässt hunderttausend Mann auf einem Platz Revue passieren, der nicht zehntausend fasst! Man wollte ohne Zweifel den Schein der Übertreibung vermeiden.

Die Lage Kownos am Ufer des Riemen ist reizend; wir fuhren in ganz eigentümlich geformten Droschken auf die Spitze einer Anhöhe und genossen dort die schöne Fernsicht. Nachher wollte die junge Russin eine der Landeskirchen besuchen; ich schlenderte noch auf der Straße umher. Ein altertümlich gotischer Bau, fast den Kirchen der Normandie ähnlich, erweckte mir die Lust, einzutreten. Still genug war es drinnen; die Welt blieb außen mit ihren kleinlichen Zwecken, fieberhafter Erregung und ewiger Enttäuschung; ungestört mochten sich die Gedanken auf das Höchste richten. Fast ruinenhaft und dennoch mit Liebe geschmückt war die Kirche; man sah, dass man sich im altgläubigen Polen befand. Gern hätte ich noch länger im mystischen Dämmerlicht verweilt, aber die kellerartige Atmosphäre vermehrte ein Übelbefinden, das mich in den letzten Tagen des Petersburger Aufenthalts befallen hatte.

Auf dem Heimwege wollte ich die junge Russin mitnehmen, vermochte mich aber nicht auf der Straße zu orientieren. Ein mir begegnender Herr antwortete auf die Anrede in gebrochenem Russisch mit elegantem Französisch. Der Pole, als solcher gab er sich zu erkennen — bot seine Begleitung an. Wir mussten an der Denksäule vorbei.

„Hunger und Kälte waren die besten russischen Generale“, bemerkte mein Begleiter mit hämischem Seitenblick.

Im nämlichen Augenblick waren wir vor dem Tor der Kirche angelangt und ich trat rasch ein; denn es ist unklug, sich in Russland mit einer gänzlich Unbekannten in irgendwelche bezügliche Gespräche einzulassen.

Was für ein Übergang aus dem ernsten, stillen Gotteshaus, das ich soeben verlassen, mitten in die russische Kirchenfeier! Von tausend Kerzen funkelte der Raum, der Erzbischof selbst zelebrierte die Apostelfeier und zahlreiche Priester in reichem Ornate assistierten ihm. Die Gemeinde machte ihre paklon (tiefer Fußfall, wobei die Stirn die Erde berührt) und schlug zahllose Kreuze. Weit vorn sah ich die Kleine stehen, eine brennende Kerze in der Hand. Selbst die armen Soldaten hatten ihre paar Kopeken hin gegeben, um Wachslichter einzukaufen. Dieser Kerzenverkauf in den Kirchen, ein Monopol der Krone, soll jährlich ungefähr eine Million Silberrubel eintragen.

Ich hatte keine Lust, die lange Zeremonie abzuwarten und entschloss mich daher, ohne das Mädchen in das Gasthaus zurückzukehren. Bald nachher trat mir der Pole wieder in den Weg; es schien ihn die Neugierde zu treiben, Bekanntschaft mit unserer Reisegesellschaft zu schließen.

Drei heterogene Gruppen, welche sich niemals assimilieren werden, enthält die russische Gesellschaft. Die echten Russen, die Eingeborenen der Ostseeprovinzen mit vorherrschend deutschem Element, und die Polen. Die Russen halten der Form nach streng an ihrem Kultus; sie sind im ganzen mit der komplizierten Einrichtung ihres Staats zufrieden, weil er den bevorzugten Klassen große Vorteile gewährt; ähnlich unsern Demagogen, sucht der sogenannte liberale kleine Adel nur die Gleichheit nach oben. Das Fremde hassen die Nationalrussen mit Recht, weil es ihre Volkstümlichkeit überwuchert, die naturwüchsigen Keime erstickt und eine widerliche Zwitterbildung hervorbringt. Die Deutschen der Ostseeprovinzen sind oft durchgängig Protestanten. Gebildete Leute, meistens ohne großes Vermögen, suchen und finden sie gute Versorgung im Dienst. Der Regierung treu ergeben, ihre zuverlässigsten Stützen, werden sie von derselben bevorzugt, was Hass und Neid von Seiten der Nationalrussen erregt. Die Bitterkeit gegen alles Deutsche datiert wohl schon etwas lange her; wahrscheinlich bereits von den gewaltsamen Germanisierungsversuchen Peters des Großen. Ein Kind, welches keine Lust zum Lernen hat, hasst notwendig den Schulmeister. Zu diesen ursprünglichen Gründen tritt noch, sie zu verstärken, die Missgunst. Den Geist dieser Stimmung bezeichnet folgende Anekdote. Der bekannte General Y., Günstling Kaiser Nikolaus’, wird von diesem aufgefordert, sich eine Gnade zu erbitten. „Machen Sie mich zum Deutschen, dann bin ich versorgt!“ erwiderte der alte Mann. Dagegen verhalten sich die Polen der Regierung gegenüber stets frondierend. Gleicher Abstammung mit den Russen, in Sprache und Sitte ähnlich, sind sie schroff von ihnen geschieden durch religiöse und politische Meinung. Aristokrat und fanatisch katholisch, wird sich der polnische Edelmann niemals aufrichtig dem russischen System anschließen. Für jene zwei Überzeugungen, wie sie der Pole auffasst, fehlt dem Russen das Verständnis. Der Seigneursinn konnte im despotischen Russland nie gedeihen und die Landeskirche hat in starrer Stabilität, das Heil suchend unter Zeremonien, den Geist erstickt, der dennoch, ungeachtet vieler Wucherkeime, im Katholizismus lebt und ihm den Fortschritt möglich macht. So kommt es, dass sich diese zwei blutsverwandten Nationen eher vernichten als vereinigen werden.

Der Zufall führte am Tische des Gastzimmers zu Kowno Repräsentanten jener drei Varietäten zusammen.

Mit einigem Misstrauen betrachtete der schöne Kapitän den Polen und flüsterte mir zu, letzterer sei ein Spion.

Gespräche über Politik wurden sorgfältig vermieden, dafür aber Wissenschaft, Literatur und Religion desto freier behandelt. Der Pole bewies ungewöhnliche Belesenheit und gewandte Dialektik. Einseitige Verstandesbildung, die alles dem Kausalgesetz unterzuordnen strebt, hatte ihn zu den Resultaten des Materialismus geführt; die Entwicklung der Vernunft, welche harmonierende Eigenschaft der Seele die sittliche Freiheit vertritt, war zurückgeblieben. Auch der Kapitän war heimisch in der Welt der physikalischen und mechanischen Gesetze, nur warf er reflexionslos die Begriffe durcheinander und versuchte auf das Wesen der Dinge anzuwenden, was nur deren Form berührt. Unsinnige Bemerkungen schaltete zuweilen der Franzose ein, die wir entweder belachten oder überhörten.

Später führte uns die Literatur auf die Sprache: da wurde der schöne Kapitän wahrhaft beredt und geriet bald aus dem Gallischen ins Slawische. Als Streiter, der mehr Mut als Kritik besaß, griff er mannhaft die Überlegenheit der deutschen Bildung und den größeren Reichtum der polnischen Sprache an. Den Standpunkt der Wissenschaft in Russland und Deutschland auch nur zu vergleichen schien mir so absurd, dass ich, auf alle Polemik verzichtend, meine Schlafkammer suchte. Das Nämliche tat der Oberst, der wenig Anteil an der Diskussion genommen. Stundenlang tönte noch aus dem Nebenzimmer der Sprachstreit herüber. Da beide Gegner leidenschaftlich für ihre Sache eingenommen, war nicht abzusehen, wann er enden sollte; ich schlief darüber ein.

Vorhänge, wie so manches andere Lebensbedürfnis, gelten in Polen für überflüssig; da unsere Zimmer zu ebener Erde lagen, gaben wir dem Publikum eine kleine Vorstellung. Der Zuschauer halber und wegen der Ankündigung, dass der Fluss frei von Eis sei, vollendeten wir unsern Anzug rasch.

Aber wie in Janowo das Butterbrot, so hielt hier der Schlaf den schönen Kapitän fest; die Nacht über hatte er so tapfer gestritten, dass er am Morgen der Ruhe bedurfte. Drei Stunden saßen wir und warteten; endlich ging die Tür auf, frisch und wohlausgeruht trat der Kapitän ins Zimmer.

Abermals ein mühsamer Weg über halbgetautes Glatteis, bis wir an die Fähre gelangten. Die Fahrt über den Niemen war so schneidend kalt, dass der jenseitige Konditorladen als wahre Wohltat erschien.

Ich drückte meine Befürchtung in Betreff des Mittagsessens aus, weil auf heute ein großer Fasttag der katholischen Kirche fiel und wir uns im bigoten Polen befanden.

„Sie werden doch kein Fleisch essen?“, erwiderte Mr. Basseport.

Wir lachten wie gewöhnlich über die Klarheit der Begriffe im Hirn des freigeistigen Republikaners. Wirklich fanden wir in Mariampol, als die Stunde der Erlösung aus dem Postwagen schlug, zähe Beefsteaks. Aber vorher genossen wir nach russischer Sitte sakuska (ein Imbiss vor der eigentlichen Mahlzeit), aus köstlichen geräucherten Fischen bestehend, und tranken dazu polnisches Bier, beinahe so gut als das bayrische. Zum Nachtisch fanden wir vortreffliche Kuchen, die wir mit Bordeaux begossen. Natürlich fehlte Kaffee und die Havanna nicht; so ließ sich auch in Polen auf der Landstraße ganz behaglich leben.

„Aber jetzt nur ums Himmels willen nicht den Teläga, da wir der Nacht entgegengehen!“, rief ich aus.

Diesmal übernahm der Oberst den Kampf, zwar nicht mit dem Drachen, aber, was fast ebenso schlimm ist, mit dem Postmeister. Nach einer halben Stunde kehrte er als Sieger zurück.

Durch fußhohen Schnee zogen unsere elenden Pferde den schweren Wagen. So überfiel uns die Nacht wenige Werste von der Station. Manchmal drang das heisere „Pascholl“ des Kapitäns bis zu uns herein. Weit entfernt, schneller vorwärts zu kommen, blieben wir stecken; das linke hintere Rad hatte sich tief in den Schnee versenkt. Umsonst war alles Peitschen, vergeblich jener Höllenlärm, der angewandt wird, arme Pferde zur äußersten Anstrengung zu spornen; wir rückten nicht eine Linie vor. Nichts blieb übrig, als nach Mariampol zu schicken und Telägen holen zu lassen. Diese Alternative versetzte den schönen Kapitän in Wut; er sprang in den Teläga eines Bauern, der am gestrandeten Postwagen vorüberfuhr und verschwand in der Nacht bald unsern Blicken. Ich glaubte ihn ohne Abschied fort. Freilich vergaß ich, dass wir uns in Russland befanden, wo ein Mann ohne Pass nicht weit kommt und letztern stets der Conducteur in sicherer Verwahrung hält.

Eine geraume Zeit verfloss, bis der Oberst den Schlag öffnete und uns mitteilte, dass die Telägen bereit seien. Sie waren gut mit Heu gefüllt. Übung verlieh eine gewisse Vertrautheit mit diesem Vehikel; so ließ ich mich denn vom Sitz hinabgleiten und es gelang mir, einzuschlafen.

In wirre Träume schlug eine laute Stimme; ,,Stoi“ (Halt!) donnerte sie unserm Postillon zu. Zwei Schritte von uns, aufrecht im Teläga, stand der schöne Kapitän; hell beschienen die Sterne die stattlichen Formen, die regelmäßigen Züge; der Wind spielte im Faltenwurf des Mantels; die Erscheinung bildete eine malerische Staffage der nächtlichen Landschaft.

„Darf ich einsteigen?“, fragte der Kapitän zornig und sprang in unseren Teläga, ohne die Antwort abzuwarten, so hastig, dass die Bretter krachten. „Pascholl!“, schrie er, noch bevor er saß.

„Wo kommen Sie her? Ich vermutete Sie bereits in Warschau!“, versetzte ich, ohne meine Lage im Heu zu ändern.

„Was, Sie sind es?“, erwiderte er verwundert. „Jetzt erst am Sprechen erkenne ich Sie!“

„Wie, als Sie uns anriefen, wussten Sie nicht, dass wir Ihre Reisegefährten sind?“

„Keineswegs! Ich fuhr die ganze Nacht und kam nicht weiter; die Pferde waren zu elend, daher erwartete ich ungeduldig die erste Gelegenheit, auf die nächste Station zu gelangen.“

„Und um Protestationen zuvorzukommen, sprangen Sie auf den Teläga?“

So hatten wir denn unsern Gardekapitän wieder auf der Landstraße gefunden.

Gegen Morgen begegneten wir Artillerietransporten, die mit ungeheueren Schwierigkeiten sich durch die Schneemassen bewegten. Es war ein widriger Anblick, oft zwölf Wagen hintereinander hilflos stecken zu sehen. Auch wir blieben weit zurück, weil der Kapitän in seiner Unruhe abermals unsern Teläga mit einem andern vertauschte. Seit den Postillon kein „Pascholl!“ mehr drängte, schien er nebst den Pferden zu schlafen. Dadurch wurde unsere Marschordre geändert; während wir sonst vorausfuhren, hatte uns nun selbst der Conducteur mit dem Gepäck überholt und wir schlossen den Zug. Aus den vielen schwerbepackten Fuhrwerken, die uns entgegenkamen, ließ sich auf die Nähe einer Stadt schließen. Häufig drängten die Lastwagen unser leichtes Gefährte bis an den Rand der Straße.

„Wir werden umwerfen“, sagte ich zu dem jungen Mädchen, nachdem es mir gelungen, mit dem Kutscher polnisch zu zanken.

„Mit einem Teläga niemals!“, entgegnete die Russin gelassen.

Im selben Moment flog ein Rad weg und unser wunderbarer Karren stand aufrecht. Gleichgültig ließ der Kutscher die Zügel auf die Erde schleifen, trat in eine glücklicherweise nahe Hütte und holte ein Beil, mit dem er auf primitive Art den Schaden reparierte. Hierauf ging es weiter in munterem Trab, bis wir ein freundliches Städtchen erreichten. Im Hauptgasthof erwarteten uns die Gefährten und der Kapitän kam uns mit einer Platte voll geräucherten Fischchen entgegen.

Der Weg wurde wieder etwas besser; so dachen wir alles Ernstes an einen Wagen. Wirklich, als wir nachts in einen Stationshof fuhren, bemerkte ich deren zwei und die Offiziere erkämpften die bequemere Reisegelegenheit. Indessen hatten wir abermals an den Folgen unsers Siegs zu leiden. Öfters versank der Wagen in den Schnee und nur mit ungeheueren Anstrengungen vermochten die matten Pferde ihn herauszuziehen. Mit Recht heißt Russland die Hölle der Pferde; nirgends wird so rasch gefahren und sind dabei die übrigens guten Straßen so destruierenden klimatischen Einflüssen unterworfen. Fast jede Viertelstunde wiederholte sich der Unfall und immer kraftloser wurde unser unglückliches Sechsgespann. Endlich stak der Wagen fest wie eine Mauer, die müden Tiere bewegten ihn auch nicht um eine Linie; der schöne Kapitän schrie sich heiser, versuchte das eingesunkene Rad emporzuheben und arbeitete sich dunkelrot. Mit weniger Kraftaufwand, aber praktisch wie ein Soldat, legte auch der Oberst Hand an. Bevor jedoch die Offiziere irgendein Resultat erzielt, trat ein Umstand ein, der ihre Tätigkeit gewaltsam unterbrach, indem er sie in unauslöschliches Gelächter versetzte.

Mr. Basseport ergriff eins der vorderen Pferde am Zügel und schwang mit hocherhobenem Arm einen Haselstecken. Seine Bewegungen waren so energisch, dass der dünne Stock über dem Rücken brach und der Pariser Rock platzte. „Barschalsta deitié mné knat!“ (Bitte, geben Sie mir eine Peitsche!) „Sacre bleu!“ „Hospody pamilni!“ (Herr, erbarme dich unser! — gewöhnliche Kirchenformel); ,,Mille tonnerres! En avant, canailles!“, schrie er untereinander.

„Bravo, Basseport!“, rief der Kapitän und hielt sich die Seiten.

Die heroischen Anstrengungen des Franzosen sollten indessen von keinem Erfolg gekrönt werden; ebenso wenig fruchteten die Bemühungen der Gardeoffiziere, unterstützt von den beiden Postillons und einem Bauern, der als Amateur mithalf, sogar gutmütig seine eigenen Pferde vorspannte. Die unbehilfliche Maschine blieb im Schnee sitzen. Ganz genau wiederholte sich die Szene von Mariampol; wir sandten die Pferde nach der Station zurück, um Telägen zu holen.

Ein kühler Morgen war angebrochen; wir empfanden Hunger und die Alternative, mehrere Stunden auf der Landstraße still zu sitzen, lockte uns nicht sonderlich. So traten denn der Kapitän, die junge Russin und ich eine Entdeckungsreise nach Menschenwohnungen an. Auf die durch Mr. Basseport erregte Heiterkeit war bei unserm Begleiter die finsterste Laune gefolgt; wortlos schritt er uns auf der halb gefrorenen, halb getauten Straße voran. Zum Glück war nach 20 Minuten mühseliger Wanderung eine Hütte erreicht. Der stattliche Mann musste sein Haupt tief neigen, um in das niedere Gelass zu treten.

Das trostlose Elend des Nordens war mir in dieser Ausdehnung niemals begegnet. Eine mephitische Luft quoll aus der geöffneten Stubentür; unwillkürlich prallte ich einen Schritt zurück. Sorgfältig waren die Fenster verklebt, um die Ofenwärme, den einzigen Luxus des nordischen Armen, nicht entweichen zu lassen. Durch die kleinen Fensterscheiben schien das Tageslicht nur spärlich, sodass es eine Weile dauerte, bevor wir uns zu orientieren vermochten. Endlich wurden die Gegenstände deutlich. Ein einziges Lager befand sich in der vorderen Ecke der Stube, darauf eine kranke Frau mit dem Säugling im Arm. Die Ofenbank nahmen drei Alte ein mit fast versteinerten Zügen. Von der schwach glimmenden Flamme des Herdes beleuchtet, stand der Ernährer dieser elenden Leute. Die Krankheit seiner Frau bürdete ihm auch noch die Geschäfte der Hausmutter auf. Eben teilte er einer zahlreichen, ihn umdrängenden Kinderschar Kartoffeln aus, das einzige Gericht ihres Mahls. Eine sanfte Schwermut lag auf den Zügen dieses Mannes, die slawische Apathie verlieh den Bewegungen Würde. Er haderte nicht mit seinem fürchterlichen Geschick, nur war er traurig, weil es keine Möglichkeit der Besserung, keine Hoffnung für ihn gab. Die melancholischen Augen blickten ernst im Kreise umher, ob jedes seinen Anteil empfangen; nachher machte er sich daran, den Rest des Topfes zu verzehren. Weder der Mann noch die Frau hatten unser Eintreten beachtet. Die Kranke hob nicht einmal den Kopf beim Öffnen der Zimmertür. Teilnahmslos lag sie da, müde von ausgestandenen Schmerzen, müde vom Leben. Nur die jungen und die alten Kinder betrachteten uns mit neugierigen Blicken.

Gelassen nahm der Kapitän in der Mitte der Stube auf einem hölzernen Schemel Platz. Für ihn bot die Szene nichts Ungewöhnliches. Der Herr von zweitausend Seelen ist vertraut mit jeder Form der Armut unter unwirtlichem Himmel, der die Not nicht einmal mit einem Sonnenstrahl vergoldet. Die Hütten der Erbleute geben Gelegenheit zu praktischen Studien.

Ich flüchtete erschreckt von diesem nackten, kahlen Dasein, entblößt von allem, was dem Leben Reiz verleiht, an ein Fenster. Die Kinder waren ungeachtet des Schmutzes und der Lumpen ziemlich hübsch. Dem niedlichsten darunter, einem kleinen Mädchen, winkte ich, heranzukommen und bot ihm mehrere Stücke Zucker, die ich in meiner Tasche fand. Die kleine Wilde begann mit komischem Entzücken an dem ihr wahrscheinlich unbekannten Zucker zu nagen, über das Gesicht des Kapitäns zog ein Lächeln, gleich warmem Sonnenschein.

„Bitte, suchen Sie nach, ob sich nichts mehr findet, was Sie den Kindern geben könnten!“, sagte er freundlicher als jemals in den letzten paar Tagen.

Ich stürzte meine Taschen um und entdeckte vergessen eine Bonbonniere, mit der man mir in Petersburg ein sehr nutzloses Geschenk gemacht. Diese überreichte ich dem Kapitän und sogleich war der schöne Mann von den schmutzigen Kleinen umdrängt, zu ihnen einen eigentümlichen Kontrast bildend. Fast peinlich war der Ausdruck von Freude, der beim Anblick dieser Gruppe auf das schmerzentstellte Gesicht der kranken Frau trat.

Der Oberst kam uns nach; aber trotzdem, dass wir alle rauchten, blieb der Geruch so fürchterlich, dass er entsetzt wieder ins Freie floh. Lieber Kälte aushalten als schlechte Luft, daran erkannte ich den Landsmann; mir fehlte nur, um dem Beispiel zu folgen, sein dichter Pelz.

„Kann man denn gar nichts zu essen bekommen?“, fragte ich verstimmt.

„Meilenweit kein Wirtshaus“, erwiderte der Franzose, eben von vergeblicher Fourragirung eingetroffen.

Kartoffeln, wenn Sie wollen“, bemerkte der Kapitän mit leisem Spott.

Auf seinen Wink verließ eine der Alten die Ofenbank, zündete ein spärliches Feuer an und hängte einen Kessel darüber. Hexenartig hingen wirre Flechten um ihr Haupt; es schien, als braue sie irgendein Höllentränklein. Meine Gedanken wanderten zurück in die schöne Kaiserstadt; im Geist saß ich wieder unter Freunden an wohlbesetzter Tafel. Die Erscheinung eines Juden mit einem Korb am Arm weckte mich aus meinen Träumereien. Erwartungsvoll lüftete ich den Deckel und ach! er barg nur elenden Käse.

„Ist es das erste mal, dass Sie Armut in der Nähe sehen?“, fragte mich der Kapitän ironisch.

„In solcher Gestalt allerdings! Ich begehre es auch nicht wieder und verzichte darauf, ein Land zu bereisen, in dem man verhungert!“

„Sie sind in Polen, nicht in Russland!“, antwortete der patriotische junge Mann.

Während der Kapitän und ich unser kleines Scharmützel bestanden, stieß mich die junge Russin leise und zeigte nach dem Bett. Mr. Basseport saß dicht am Rand, kehrte der Gesellschaft den Rücken und starrte die bleiche Frau an. Deren Züge waren nicht hässlich, wie ich nun bemerkte. Der Franzose hielt die Hand der Kranken und war damit beschäftigt, in dem nämlichen Sprachengemisch die Cour zu machen, womit er einige Stunden früher die Pferde angefeuert. Unser Lachen erregte die Aufmerksamkeit des Kapitäns und als er die Ursache erkannte, lagerte sich über die männlich ernsten Züge der Ausdruck von Spott und Ekel.

Mittlerweile rückte die Alte einen Schemel vor und setzte den Topf mit Kartoffeln darauf. Der Jude war beim Anblick der fremden Gäste in der Hoffnung eines kleinen Handels nach seiner Hütte gerannt und erschien schweißtriefend mit dem Besten, was sein karger Vorrat enthielt, goldgelber frischer Butter. Wir zogen unsere Sitze näher und verschlangen das einfache Frühstück. Beobachtend hafteten die Blicke der Alten auf uns; sie konnten nicht begreifen, wie uns Kartoffeln so gut schmeckten. Traulich krochen zahlreiche junge Kaninchen an uns heran, das einzige Niedliche, was die armselige Hütte enthielt. Die Tierchen hoben ihre Köpfe und warteten, auf Abfälle des Mahls.

„Wozu halten sich die Leute so viele Kaninchen?“ Der Kapitän übernahm es freundlich, meine Neugierde zu befriedigen und übersetzte mir die Antwort, dass die Felle dieser Tierchen zu Handschuhen verarbeitet würden. Eine traurige Industrie!

Wir kauften die Vorräte des Juden und beschenkten damit die arme Familie. Außerdem drückte noch der Franzose der kranken Frau ein Geldstück in die Hand. Nachdem wir uns hinreichend gewärmt, drängte es uns, die elende Hütte zu verlassen.

Die Landstraße trafen wir sehr belebt. Fast in der Mitte des Wegs stak der Postwagen; hinter ihm hatten sich wenigstens zehn schwerbeladene Fuhrwerke in den Schnee gesenkt. Wie so häufig auf dieser Reise, blieb kein Ausweg, als ruhig abzuwarten. So setzten wir uns auf die Koffer, welche man auf die Straße geworfen hatte, und sahen dem Spektakel zu. Sobald unsere Telägen passieren konnten, stiegen wir ein und ich gelobte im Stillen, diesem wenn auch unbequemen, doch sichern Vehikel künftig treu zu bleiben.

In unserer Zeit des chemischen Dilettantismus ist allgemein bekannt, dass Kartoffeln wenig Nahrungsstoff enthalten; so ging denn auch nach kurzer Fahrt alles Sehnen und Denken in tüchtigem Hunger unter. Mit Entzücken begrüßten wir Häuser, die Vorboten der nahen Station. Auf den Stufen des Posthauses begegneten uns zwei Mönche mit runden Bäuchen, das Behagen eines guten Mahls leserlich auf den Zügen. Wohlhäbig sah die Hausfrau aus, welche die Patres begleitete. Wir wurden von den schönsten Hoffnungen belebt. Im Passagierzimmer stand eine gedeckte lange Tafel. Da waren Pasteten aufgepflanzt; Schinken, Braten und die süßen Kuchen, welche man in Polen so wohl zu bereiten versteht.

„Bestellen Sie nur schnell!“, rief ich dem Kapitän zu, der unter uns allen am besten polnisch sprach.

„Es ist hier keine Restauration“, lautete die Antwort.

Wir sollten also die guten Dinge sehen, ohne sie zu kosten! Uns zur Ironie hatte man sie ins Passagierzimmer gesetzt.

„Was ist zu tun? Wir sind in Polen“, bemerkte der Kapitän; in Russland würde der ärmste Bauer mit dem Reisenden sein Stück Schwarzbrot teilen!“

Hätte ich des jungen Mannes Muskelkraft besessen oder auch nur irgendeine Waffe, ich würde den heimtückischen Postmeister gezwungen haben, unseren Hunger zu stillen. Seit dem Kampf um das Goldene Vlies ist schon häufig um weniger lockende Dinge gestritten worden, als duftende Pasteten nach langem Fasten sind. Wer weiß, wohin mich noch meine Logik geführt, wenn nicht nach kaum zehn Minuten das Signal zum Einsteigen gegeben worden wäre. Es schien, der Postmeister wollte uns möglichst rasch aus der gefährlichen Nähe bringen, daher er ohne die gewöhnlichen Verzögerungen die Pferde vorspannen ließ.

„I sat swelling“, wie Richardson in „Sir Charles Grandisson“ den Gemütszustand der Lady G. originell bezeichnet, bis wir gegen Abend die ersehnte Stadt Lomza erreichten. Von dort nach Warschau, hatte man uns versichert, sei die Straße gut. Vor unserer Phantasie schwebte der warme Postwagen.

Der Kapitän war wieder so freundlich, in Lomza der Dolmetscher meiner Wünsche zu sein. Das bäurische Schenkmädchen antwortete ihm etwas, worüber er lachte, und sprang davon wie eine wilde Katze. In so einem tief eingewurzelten Nationalhass muss etwas Sinnenverwirrendes liegen; so tadellos schön war der Mann, dass man hätte meinen sollen, kein weibliches Auge könne ohne Wohlgefallen auf ihm ruhen. „Das Donnerwetter soll Dich erschlagen!“, hatte die polnische Dirne ihm zugerufen.
„Nichts anzufangen mit einem Frauenzimmer!“, bemerkte der Kapitän philosophisch und blieb vollkommen ruhig dabei.

Die Bewirtung entsprach dem Empfang. Unser Trost blieb der gute Weg und die baldige Ankunft in Warschau.

Nach einer im sanften Schaukeln des Eilwagens ruhig durchschlafenen Nacht schlug ich die Augen auf und las auf der Stationssäule „Ostrolenka“. Meine Gefährtin teilte mir mit, dass wir seit drei Stunden hielten und nicht weiter als zwei Posten waren wir von Lomza entfernt. Ich sprang rasch aus dem Wagen, um mich nach der Ursache der Zögerung umzusehen.

Die Narew war ausgetreten, an deren Ufer bei Ostrolenka am 26. Mai 1831 der blutige Kampf getobt, bei welchem des polnischen Anführers Skrzyneckis heldenmütige Aufopferung begangene Fehler nicht wiedergutmachen konnte. Nur Bems Entschlossenheit rettete damals das Skrzynecki’sche Corps vor gänzlicher Erdrückung durch russische Übermacht.

Des ausgetretenen Flusses halber hatten wir erst den Tagesanbruch erwarten müssen und nun wollte uns noch überdies der Postmeister den Teläga aufnötigen, indem er behauptete, die Narew könne gegenwärtig kein Wagen passieren.

„Nein! zehntausendmal nein! Zwingen Sie den Kerl uns Telägen nachzuschicken, dann sind wir für beide Falle gesichert!“

Mit der nämlichen russischen Indolenz, mit welcher der Kapitän bereit gewesen, den Willen des Postmeisters zu erfüllen, tat er jetzt den meinigen.

„Wollen wir nicht frühstücken?“

„Es scheint mir noch zu früh und hier kommen die Pferde!“

Diesmal gab ich zum Unglück nach.

Ungefähr die Länge einer Werst fuhren wir, hinter vorreitenden Postillons, durch die ausgetretene Narew, jenseits lag die trockene Landstraße vor uns und wir schickten die Telägen zurück. Gegen Mitte des Tags erreichten wir ein Städtchen und da wir in Ostrolenka nichts genossen hatten, erschien es hoch an der Zeit, das Fasten zu brechen. Gewarnt durch die Erfahrung von gestern, wandte ich mich selbst in französischer Sprache an den Postmeister und so höflich als möglich bat ich um etwas zu essen:

„Hier ist keine Restauration!“, erhielt ich wie gestern der Kapitän zur Antwort.

Im gegenwärtigen Fall blieb die schwache Satisfaktion, dem Unmut Luft zu machen. „Sollen wir denn in diesem verwünschten Lande neben vollen Tafeln verhungern?“ Denn auch hier standen Gerichte ohne Zahl noch von den Festtagen her.

„Ostrolenka und Pultusk sind die Stationen zum Essen. Übrigens, wenn Sie ein Glas Branntwein wünschen?“

Der Mann verstand zum Glück französisch; ich trieb ihn wenigstens zum Rückzug aus seiner Stube.

So fuhren wir denn mit leerem Magen die Narew entlang, die so oft den Truppen als Operationslinie gedient. Um die Behauptung der Narew war es auch Napoleon im polnischen Feldzug zu tun, daher er zur Verstärkung bayerische Truppen aus Schlesien herbeirief. Am 14. Mai 1807 fuhr der Kronprinz Ludwig mit Wrede in Nachen bei Pultusk über den Fluss, eine Brücke wurde erbaut und die Mannschaft folgte. Den nächsten Tag waren die Bayern vollständig am linken Ufer der Narew aufgestellt und brachten die Nacht unter Waffen zu. Der Oberst des Generalstabs von Eppeln lag krank zu Bett; als ihm aber am Morgen des 16. das Herannahen des Feindes gemeldet wurde, schwang er sich mühsam zu Pferde, um am Gefecht teilzunehmen. Dreimal schlugen die Bayern den Angriff der an Zahl weit überlegenen Russen zurück. Nach vierstündigem Kampf begrüßten die Sieger jubelnd ihren Kronprinzen, welcher immer da sich gezeigt, wo die Gefahr am größten gewesen, an seiner Seite der tapfere Oberst, der im Pulverdampfe genas. Die Schlacht bei Pultusk entriss den Russen den Besitz des Narewstroms.

Endlich erreichten wir Pultusk und bekamen zu essen! Der Gardeoberst nahm hier von uns Abschied. Nur ungern verlor ich ihn; er flößte mir mehr Vertrauen ein als der schöne Kapitän; in verzweifelten Fällen hatte ich stets bei ihm Hilfe gefunden. Weniger wortreich, aber energischer als sein Kamerad, setzte er immer seinen Willen durch.

„Sie werden morgen frühzeitig in Warschau eintreffen“, sagte er noch beim Scheiden.

Zu oft waren meine Hoffnungen getäuscht worden; ich hoffte nichts mehr. Fort rollten wir die ganze Nacht und den folgenden Tag. Bei Tisch war eine Lücke in unserm kleinen Kreis — der Oberst fehlte uns. Von Station zu Station schien sich Warschau zu entfernen; der Bug und die Narew nötigten uns zu Umwegen. Bei eintretender Dämmerung verspricht die abnehmende Zahl auf den Werstezeigern baldige Ankunft. Wir begegnen Militär. Auf Hügeln dehnen sich stattliche Gebäude, die besonders massiv und stark aussehen; über den breiten Bug, der hier bereits die Narew in sich aufgenommen, führt eine Brücke.

Aber nicht Warschau war es, sondern die an der Mündung des Bug in die Weichsel gelegene schöne Festung Modlin. Von Napoleon 1809 begonnen, hat sie an allen Wechselfällen der Kämpfe dieses Jahrhunderts teilgenommen, bereits Franzosen, Russen, Polen in ihren Mauern als Besatzung gehabt. Dorthin zogen sich auch die Polen unter Malachowski nach der Kapitulation von Warschau zurück. Es gelang einem Teil der Hauptarmee, den Übergang über die Weichsel zu bewerkstelligen und die Besatzung von Modlin ergab sich. Seitdem tauften die Russen die Festung Nowogeorgiewsk und bauten die Werke aus.

Jedoch nachts halb ein Uhr erreichten wir das diesseitige Ufer der Weichsel und langten in Praga an. Die Brücke war abgebrochen, im Finstern der Fluss nicht zu passieren. Wir befanden uns nicht in der Stimmung, an die heldenmütige Verteidigung dieser Vorstadt gegen Suworow zu denken oder historische Erinnerungen heraufzubeschwören, sondern traten, missmutig über die abermalige Verzögerung, bereits auf der Schwelle, in das schmutzige Zimmer, welches man uns anwies.

Durch unsere Besitznahme wurden zwei sehr leichtgekleidete Mädchen aus dem Bett getrieben; sie sprangen in unserer Gegenwart heraus. Der schöne Kapitän bedauerte gutmütig, dass ihre Ruhe gestört worden und Basseport starrte sie an. Ihm war es ein Hochgenuss, die Polinnen mit verwirrten Haaren und kurzem Unterrock zu betrachten. Die Mädchen breiteten frische Wäsche über das Bett, welches noch warm von ihren Körpern sein musste. Auf meine Bitte forderte der Kapitän ein anderes Zimmer und wieder rief die junge Polin über den hübschesten Kopf, der vielleicht jemals in dieser Höhle gewesen, den Nationalfluch: „Das Donnerwetter soll Dich erschlagen!“

„Ich habe kein Glück bei den Frauen!“, sagte der junge Mann ruhig.

„Vergessen Sie nicht, dass wir in Polen sind!“, entgegnete ich lachend.

Nachdem, ich das Bett ausgeschlagen, zog der Kapitän den Mantel dicht um sich und legte sich auf eben die Stelle, welche die Mädchen erst kurz verlassen hatten.

„Wie schade, dass die Polinnen fort sind!“, bemerkte Basseport.

Ohne zu antworten, zog der Kapitän sorgfältig den Kragen über die Ohren, bevor er den Kopf auf die Kissen legte.

Wir andern machten es uns auf Stühlen so bequem als möglich. Niemand schlief; das Geplauder hörte nicht auf. War es doch die letzte Nacht, die wir beisammen sein sollten. Nach einer Weile sprang der junge Mann aus dem Bett, ich von den Stühlen herab und wir setzten uns in die gemütliche Nachbarschaft des Ofens. Der Kapitän bestellte Kaffee bei derjenigen, die ihn verflucht hatte.

Der Schein der Kerzen fiel grell auf die männlich-schönen Züge; sie hatten einen noch ernstem Ausdruck als gewöhnlich, es lag beinahe ein Hauch von Melancholie darauf.

„Ich sagte Ihnen, dass ich der Liebe aus dem Wege ging“, begann er, „aber es ist nicht wahr; nur fand ich nie Erwiderung.“

„Wahrscheinlich näherten Sie sich nicht hinreichend!“

„Öfters, allein es kam mir keine Aufmunterung entgegen.“

„Ganz sicher beruht Ihre Annahme auf einer Täuschung!“

„Sie sind doch ein schöner Mann“, setzte der Franzose zu meinen Argumenten seufzend hinzu. Er selbst war so hässlich wie ein Affe.

Wie gewöhnlich, brachte uns Mr. Basseport wieder alle zum Lachen; auch der Kapitän zeigte seine weißen Zähne.

„Ja, ich sehne mich zuweilen nach häuslichem Glück, nach einer zarten, echt weiblichen Frau, nach lieben Kindern, die um meine Knie spielen. Könnte ich diejenige finden, wie sie meiner Phantasie vorschwebt, ich zöge mich vom Dienst zurück auf meine Güter!“, versetzte der wieder ernst gewordene junge Mann.

Meine Augen ruhten einige Zeit forschend auf dem in physischer Beziehung wenigstens interessanten Mann. Zur Idylle schien er mir nicht zu passen, lieber dachte ich ihn hoch zu Ross, den Säbel in der Rechten, mitten in der animierten Szene eines Reiterangriffs.

Das Erscheinen der Polin mit dem Kaffee weckte unsern Adonis aus tiefem Sinnen. Er zündete mit gewöhnlichem Gleichmut eine Havanna an. Die Reisegefährten kamen an unseren Tisch und rasch schwand unter wechselnden Gesprächen die Nacht.
Frühmorgens donnerte schon wieder des Kapitäns zornige Stimme. Ich trat vor die Tür, um zu sehen, was es gibt. Am Ufer der Weichsel stand der Kapitän, von einem Haufen des elendesten Straßenpöbels umringt. Wie ein Halbgott ragte er über die widrigen Gestalten empor. Offenbar hielt er eine Anrede an die Leute und sein Gesicht glühte, seine Stimme klang bereits heiser vom Schreien.

„Diese Leute fordern für das Übersetzen zwölf Gulden (polnische, gegen vier Gulden Rheinisch) von jeder einzelnen Person!“, wandte er sich an mich, sobald er mich erblickte.

„Unverschämt! Aber es muss doch eine Taxe existieren! Wäre es nicht besser, Ihre Lunge zu schonen und nach der Polizei zu schicken?“

Im weitern Umkreis stand einiges Militär als Auditorium der stürmischen Verhandlung. Der Kapitän winkte einen Soldaten herbei und dieser holte einen Gensdarmen. Auf fast magische Weise verschwanden die Verlumpten, welche die übermäßige Forderung gestellt, und wir befanden uns mit dem Mann des Gesetzes allein.

„Was tun?“, fragte der Kapitän in komischer Verlegenheit.

„Machen Sie dem Gensdarmen begreiflich, dass es Verpflichtung der Polizei ist, Leute herbeizuschaffen, die uns zur gesetzlichen Taxe über den Strom setzen! Ohnehin begeht die Post schon eine Ungerechtigkeit, indem sie uns mehrere Werste vor dem Ziel auf die Straße setzt und uns unserm Schicksal überlässt.“

Würdige Seitenstücke der Entflohenen kamen, vom Gensdarmen getrieben, heran und unter des letztern Ägide bestiegen wir die elende Barke, welche bestimmt war, uns über die Weichsel zu fahren. Lange genug dauerte das Einladen des Gepäcks und die Überfahrt, die Luft war so schneidend kalt! Am Landungsplatz fanden wir mit Mühe einen Karren für unser Gepäck, aber keinen Wagen für uns. Müde und erfroren mussten wir die Fußwanderung nach dem Gasthof über das vorsintflutliche Straßenpflaster antreten. Der Kapitän übernahm das Amt des Quartiermachers.

„Schlechte Zimmer und ungeheuere Preise“, sagte er, über die Treppe des ersten Gasthofs herabkommend, in dem wir unser Glück versucht.

Das Nämliche wiederholte sich im zweiten. Todmüde gelangten wir ins Hotel de Rome, der Karren mit dem Gepäck immer hinter uns her. „Unverschämte Preise und schmutzige Zimmer!“, lautete diesmal die Variation.

Ich erklärte den festen Entschluss, mich nicht weiter von der Stelle zu entfernen. So wurde mir denn ein aus drei kleinen Räumen bestehendes Apartement angewiesen, für neun Gulden täglich. Für die Matratze, jedes Kissen und jede Decke einen Extragulden.

Es ist eine Wohltat, den Reisestaub abzuwaschen, frische Wäsche wird aus dem Koffer genommen, man fühlt sich wie neugeboren. Das Dejeuner ist eingenommen, ich lehne bequem auf den Polstern des Kanapees, neben mir sitzt ein liebenswürdiger Pole, unter die Tür tritt eben der Kapitän in voller Ulanenuniform.

Man fühlt sich in zivilisiertem Lande, die Reisebeschwerden sind vergessen.

„Ist Ihr Vorzimmer abgeschlossen?“, fragt der polnische Graf.

„Weshalb?“

„Weil sonst Ihre Koffer gestohlen werden!“

„Wir sind in Polen!“, flüsterte leise der schöne Kapitän.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von der Newa an die Weichsel