Von der Newa an die Weichsel

Eine Winterfahrt von Franz von Nemmersdorf
Autor: Reitzenstein, Franziska Freifrau von (1834-1896) deutsche Schriftstellerin unter dem Pseudonym: Franz von Nemmersdorf, Erscheinungsjahr: 1862
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Franz von Nemmersdorf, Franziska Freifrau von Reitzenstein, Russland, Polen, Winterreise, Sittenbilder, Reisebeschreibung, 19. Jahrhundert
Aus: Unterhaltungen am Häuslichen Herd, Band 2 von Karl Gutzkow, Heinrich Brockhaus 1862. Reitzenstein, Franziska Freifrau von (1834-1896) deutsche Schriftstellerin unter dem Pseudonym: Franz von Nemmersdorf
    Eine Winterreise (Fortsetzung)
Pfeilschnell fliegt der kleine Schlitten, den man bei näherer Bekanntschaft so lieb gewinnt, durch die schönen Straßen der nordischen Kaiserstadt.

Nur zu rasch ging es an wohlbekannten Gebäuden vorüber, die man denn doch gern noch zu guter letzt aufmerksam betrachtet hätte. Es gilt ja im Reiseleben nicht allein Abschied zu nehmen von alten Freunden und neuen Bekannten, sondern auch von dem großartigen Menschenwerk, ausgeführt in Stein, welches uns stets ein Stück Geschichte kündet, und dem größeren Bilde noch, das der höchste Meister zur Landschaft zusammenwob.

Das Scheiden aus dem herrlichen Petersburg fällt schwer. Gastlich sind die Einwohner und dem Fremden wird dort ein Empfang zu Teil, wie es, außer Russland, wohl sonst nirgends mehr der Fall ist.

Der härteste Abschied harrte meiner im Posthaus. Einige rasch gewechselte Worte, ein Händedruck und die liebe Erscheinung ist aus den Augen verschwunden. Eine Freundschaft, geschlossen fürs Leben, löst sich körperlich. Der traute Austausch der Gedanken muss künftig sich in den Umfang eines Briefes bannen. Dreihundert Meilen werden zwischen uns liegen und als weitere Trennung die chinesische Mauer, welche Russland absperrt. Der elegante Wartesaal mit dem Gewühl von Reisenden schwamm vor meinen Blicken wie im Nebel. Im Ohr klangen mir noch die vielen Scheidegrüße der letzten Tage, die Wünsche einer glücklichen Reise, nebst den ausgesprochenen Besorgnissen wegen der unfahrbaren Straßen und die Vorwürfe, die nahen Feste nicht mehr mit den Freunden zu feiern.

Der Postreisende in Russland ist einem Staatsgefangenen nicht unähnlich, den der Conducteur sicher am Ziele abliefert. Des Rechts der freien Selbstbestimmung begibt man sich, sobald man den Pass der Post übergibt; aber ohne Pass keine Plätze. Hier treffen wir wieder auf einen jener Zirkel, wie sie geistig und leiblich so häufig auf Erden des Menschen freie Bewegung hemmen. Nur Eins genießt man im stillen Reisewagen beinahe zum Überdruss, die Gedankenfreiheit. Wenn Arbeit und Erholung unser Dasein sonst nur zu sehr veräußerlichen, stört hier nichts die Contemplation. Hat ein Mensch eine Torheit begangen von denjenigen, wie sie in der Lebensrechnung ein Defizit bedingen, der Gedanke daran müsste im russischen Postwagen zur Höllengeisel werden. Mir warf das Gewissen nichts vor, aber dafür fühlte ich peinigend und nagend den Trennungsschmerz. Meinen besten Freund sollte ich vielleicht nie wieder sehen! Warum macht uns das Leben zuweilen so reich, um uns dann wieder alles zu nehmen! Wir finden ja bloß, um zu verlieren!

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