Abschnitt 2

Marsberg


Auf dem Wege zum „Westfälischen Hof“ kamen wir an einem Trümmerhaufen vorbei, wo vor 14 Tagen mehrere Häuser, darunter auch ein Hotel, abgebrannt waren. Das war kein gutes Omen für uns, und doch, ich dachte:


Sobald brennts gewiß hier nicht wieder! Ich trat an die Brandstätte und bemerkte zwischen Schutt und Trümmern einen Balken mit der leicht zu entziffernden Inschrift:

DAS FEVR KAN MICH VERZEHRREN
GOTT WOLTE SOLCHES GENEDIG ABWEHRREN.

Eine Jahreszahl war nicht mehr zu erkennen, doch deutete die Orthographie auf die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts.

Niedermarsberg hat eine ganz herrliche Lage. Nach allen Seiten zwischen hohe, bewaldete Berge eingebettet, schaut es mit seinen hübschen Kirchen den Wanderer gar freundlich an. Besonders stolz und stattlich streben zwei steile Berge in die Höhe: auf dem einen steht der Bilstein, ein Aussichtsturm, auf dem andern liegt Obermarsberg, dessen beide Kirchen man sieht. Während dieser Ort mit 1.000 Einwohnern eine Stadt ist, hat Niedermarsberg trotz seiner 4.000 Einwohner die Landgemeindeordnung.

Es hat eine evangelische und mehrere katholischen Kirchen sowie eine Synagoge; an ersterer wirkt der Pastor Nettelbeck, ein Nachkomme des wackeren Verteidigers von Colberg. Es besitzt ferner eine Zeitung, genannt der „Diemelbote“, der aber nicht einmal täglich erscheint, wie gewöhnliche Zeitungen, sondern dreimal (wöchentlich). Außerdem hat Niedermarsberg alle Arten Läden, in denen man seine materiellen Bedürfnisse befriedigen kann, sofern sie nicht allzu hoch sind; für die geistigen sorgt die Buchhandlung meines Freundes Buddenkotte.

Der gebildete Deutsche will aber nicht nur wissen, was jetzt ist, sondern auch was früher war. Ich setze zu deiner Ehre voraus, daß du, lieber Leser, mindestens bis Quinta, vielleicht sogar noch weiter gekommen bist, und daß du also weißt, auch ohne daß ich dirs sage, daß hier in Marsberg einstens die alten Sachsen hausten und daß ihre berühmte Eresburg von Karl d. Gr. erobert wurde. Auch weißt du, daß dieser große Kaiser den Winter 784-85 mit seiner Familie hier zugebracht, sich auch eine Villa Horhusen gebaut hat, daß ferner die Stadt später in Stadtberge umgetauft wurde und nun, seit etwa 30 Jahren, nach dem Grundsatz variatio delectat, Marsberg heißt. Solltest du alles dieses aber nicht gewußt haben, nun so tröste dich mit mir: auch ich habe es erst aus dem Kneebusch erfahren, wo es auf Seite 185-86 steht und noch viel mehr dazu. Was aber nicht im Kneebusch steht, ist, daß hier ein Mann wohnt, den Kaiser Karl V. beneidet haben würde, wenn er ihn gekannt hätte. Wie männiglich aus der Geschichte weiß, war dieser mächtige Fürst, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, auf seine alten Tage Uhrmacher geworden, jedoch außer Stande, zwei Uhren in völlig gleichem Gange zu erhalten. In Marsberg wohnt ein Uhrmacher - es wäre ein Unrecht, den Namen dieses Wackeren zu verschweigen: Paul Müller heißt er und wohnt Wilhelmstraße Nr. 15, in demselben Hause, wo mein Freund Buddenkotte, der Buchhändler, wohnt - in dessen Schaufenster hängen also nebeneinander 6 (sechs) Uhren, die sich ähneln wie ein Ei dem andern. Alle 6 Pendel bewegen sich mit absoluter Gleichmäßigkeit, wie ich während meines mehrwöchentlichen Aufenthalts beobachten konnte, wenn ich vorbei ging. So hat der große Kaiser in dem kleinen „Uhrkenmaker“ seinen Meister gefunden. [7]

Die Umgegend von Niedermarsberg ist reich an Wald mit schönen Spaziergängen. Da lockt die Paulinenquelle im Waldesschatten mit schönen Anlagen und Ruheplätzen, wo es sich so angenehm lesen und träumen läßt. Da winkt das Eichwäldchen an der Diemel, auch mit lauschigen Plätzchen, vor allen aber der Bilstein mit seiner prächtigen Aussicht auf beide Marsberg und in die weite Ferne. Ein Stationsweg mit 14 Steinbildern von der Passion Christi führt hinauf.

Aber auch das Materielle kam nicht zu kurz in Marsberg, und wir bedauerten schon gar nicht mehr, von den 12 geplanten Sommerfrischen keine erwischt zu haben. Gab es in Niedermarsberg wenig Sommerfrischler und Touristen, so gab es um so mehr Forellen. Unser Wirt zum „Westfälischen Hof“ hatte den Vorzug, Pächter der Fischerei zu sein, und da haben wir manchen guten Braten gehabt.

Der historische Zug in mir trieb mich gleich in den ersten Tagen nach Obermarsberg hinauf. Ein gelinder Schreken faßte mich allerdings, als ich im Kneebusch von der dort befindlichen Schwedenschanze las. Es ist mit den Schwedenschanzen beinahe so schlimm wie mit den Schweizen. Man kann nirgends in deutschen Landen reisen, ohne auf eine Schwedenschanze zu stoßen oder über eine Schweiz zu stolpern; manche dieser Schweizen sind nämlich so hoch, daß man wirklich darüber fallen kann. Trotz aller Vorsicht hatte ich schon ein halbes Dutzend Schweizen über mich ergehen lassen, und ebenso viele Schwedenschanzen. Nun, wie so manche Schwedenschanze, bestieg ich mutig auch die Obermarsberger, und die Aussicht kann auch den verbissensten Antischweden mit den Namen aussöhnen. Prächtig baut sich vor den entzückten Blicken die sauerländische Gebirgskette auf: ein Neben- und Durcheinander von dunkel- und hellblauen Kuppen, von denen das Auge sich nur schwer trennt, um dann über das unmittelbar zu Füßen liegende grüne Diemelthal mit seinen Wäldern, Wiesen und weidenden Kühen zu schweifen.

Nachher besahen wir dann noch die beiden Kirchen, von denen die eine von dem braven Karl dem Großen gebaut sein soll und die andere von jemand anders, bewunderten den „Roland“, der aber nicht so riesenhaft wie der in Bremen ausschaut, staunten den abscheulichen Pranger an und kehrten schließlich im Wirtshaus zur Eresburg, vom Volk auch „Freßburg“ genannt, ein, wo wir Heidelbeerwein tranken, der genau so schmeckte, wie mittlerer Bordeaux, den Vorzug hatte, billiger zu sein und dabei aus denselben Bestandteilen hergestellt ist.

Essentho, dessen Name dem Ohre des Lesers vermutlich ebenso fremd ist wie seinem Herzen, ist ein abgeschiedenes, weltverlorenes Dörfchen jenseits der Berge. Man geht am Niedermarsberger Schlachthause vorbei, welches eine so idyllische Lage am Waldesrande hat, daß man gleich Schlachthausinspektor sein möchte. Uebrigens verdient schon die Existenz eines solchen Instituts in einem Orte von 4000 E. alle Anerkennung; es giebt eine große Anzahl Städte in Deutschland mit mehr Einwohnern, die noch gar nicht daran denken, sich in den Besitz eines solchen nützlichen Hauses zu setzen. Hinter dem Schlachthause führen mehrere Wege durch den Wald nach Essentho, eine langsam aufsteigende, mit Eschen besetzte Landstraße, eine wohlerhaltene römische Heerstraße (via regia) und ein Fußweg. Wir wählten diesen, indem wir uns die Römerstraße für den Rückweg vorbehielten. An dem Fußwege, gegen den Wald gelehnt, liegt der jüdische Friedhof mit einigen hübschen Denkmälern. Das 9jährige Söhnchen unseres Wirtes, wohlbestallter Sextaner der Rektoratsschule, der unser Führer war und uns auf alle Sehenswürdigkeiten, oder was er dafür hielt, aufmerksam machte, wies mit eigentümlicher Miene auf einen Grabstein, der aus einer abgebrochenen schwarzen Granitsäule bestand, und sagte: Da liegt ein Freimaurer! Ich fragte ihn, was denn ein Freimaurer sei. Hierauf wußte er nichts zu antworten, ich mußte aber an den Tag vorher denken, wo wir über den christlichen Kirchhof gingen. Mit derselben eigentümlichen Geberde hatte er auf ein Grab in der Ecke gezeigt und gesagt: Da liegt einer, der hat sich vorigen Winter erhängt!




[7] Später verriet mir Freund Buddenkotte den Kniff, durch den das Kunststück gelungen war; ich will ihn aber nicht weitersagen, um den Künstler nicht bloßzustellen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco