Abschnitt 1

Marsberg


Auch eine Sommerfrische.


Wir wollten in die Sommerfrische - so viel stand fest. Hierin waren meine Frau und ich uns einig. Aber wir wollten nicht nur, wir mußten! Alle unsere Bekannten gingen in die Sommerfrische - eine Familie nach Schwalbach, eine andere nach Hamm, die dritte sogar nach Eschwege. Wenn wir daheim geblieben wären, so hätte es aussehen können, als „hätten wirs nicht dazu!“ Lächerlicher Gedanke! Kein Geld, um in die Sommerfrische zu gehen! Solchen Menschen möchte ich einmal sehen, namentlich in unseren Kreisen. Wir sind nämlich von ziemlich hohem Stande, alle unsere Bekannten sind es. Also es war abgemacht, wir wollten in die Sommerfrische.

Ich ging hin und kaufte mir „Tinten und Feder und Papier“. Eine Feder, aber zwölf Bogen Papier. Denn ich wollte Auswahl haben, eine engere Wahl treffen. Was engere Wahl war, wußte ich aus Erfahrung; hatte ich doch selbst manchmal darauf gestanden. Bisweilen war ich gewählt worden, bisweilen auch nicht. Nun hatte ich das stolze Gefühl, diese engere Wahl selbst auszuüben. Dann nahm ich den kleinen Kneebusch - den ich selbst besaß - und Bädekers Rheinlande - den mir ein befreundeter, edeldenkender Buchhändler auf einen Tag lieh - freilich unter der Bedingung, ihn sofort zurückzugeben, falls sich ein Käufer finden sollte, denn es war nur dieses eine Exemplar auf Lager - also ich nahm den kleinen, grünen Kneebusch und den dicken, roten Bädeker und studierte und studierte. Ich habe schon viel studiert in meinem Leben, z.B. auf der Universität, aber so hat nur weder im metaphysischen Kolleg beim alten Strümpell in Leipzig noch im psychologischen Kolleg bei Eucken in Jena der Kopf gebrummt, als heim Studium dieser anscheinend so harmlosen Bücher. Denn da gab es Sommerfrischen wie Sand am Meer, eine immer einladender als die andere. Preisend mit viel schönen Reden registrierten die Verfasser alles, was nur irgend Anspruch auf diese ehrenvolle Bezeichnung erheben konnte, von Godesberg am Rhein und Manderscheid in der Eifel bis Oberkirchen und Laasphe im Sauerland. Rheinland und Westfalen sollte und mußte es sein, lieber noch letzteres, denn mein Grundsatz ist derselbe wie der des alten Geheimrat Goethe:

Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah!

Nur zuerst liebäugelte ich nach der Rheingegend hinüber; da lockte ein Gasthaus mit dem lieblichen Namen „Waldesfrieden“, und da las ich Gerolstein und erinnerte mich angenehm gleich an eine Operette von Offenbach: „Die Großherzogin von Gerolstein.“ Dies Großherzogtum hätte ich gern einmal gesehen, und auch der Waldfrieden hatte mich immer mächtig angezogen, obgleich oder vielleicht gerade weil ich mein Lebtag noch nicht im Walde gewohnt hatte.

Ich sandte also einige Briefe nach dem Rhein, die überwiegende Mehrzahl der 12 aber wanderte ins Sauerland, jeder sorgfältig konvertiert und mit einer funkelnagelneuen Briefmarke versehen. Ich rieb mir vergnügt die Hände; der erste, der schwerste Schritt war geschehen; und begierig harrten wir nun der Dinge, die da kommen sollten, nämlich der Antworten.

Herzlich leid thaten mir schon die 11 armen Wirte, denen ich abschreiben mußte; denn ich konnte unsere Gegenwart doch nur einem schenken, wie es auch in der Lotterie zu gehen pflegt, wo nur einer das große Los zieht.

Wer von den 12 Wirten das sein würde, ruhte noch im Schoße der Götter.

Jeden Morgen eilten wir zitternd vor Aufregung dem Briefträger entgegen - bei uns im Röhrchen kommt die erste Briefbestellung schon um neun Uhr vormittags - und waren jedesmal schmerzlich enttäuscht, wenn er nichts hatte. Auch wenn ich mittags nach Hause kam, war meine erste Frage: Nichts vom Briefträger? Endlich am dritten Morgen brachte er eine Karte. Sie kam vom Waldesfrieden und sagte mit dürren Worten, es sei für die nächsten Wochen alles besetzt, der Wirt müsse auf unsern Besuch verzichten. Ich war entrüstet. Auf uns verzichten wollte er, und nicht einmal schwer schien ihm das zu werden, wenigstens war kein Wort des Bedauerns ausgesprochen. Aber es sollte noch anders kommen; auch die übrigen Rheinländer und sämtliche Sauerländer bis auf 3 schrieben im Laufe der nächsten 14 Tage ab, mit Ausnahme derer, die - mir bebt die Feder vor edlem Zorn - überhaupt nicht antworteten!

Es waren also 3 übrig geblieben, die uns wollten. Triumphierend erzählten wir es unseren Freunden. Aber da kamen wir schön an. Als ich Freund X sagte, wir wollten nach A., der Ort sei gut empfohlen im Kneebusch, rief X unwillig aus: Ach, gehen Sie nicht nach A., da ist kein Wald in der Nähe, gehen Sie lieber nach B. Ich ließ mich natürlich gerne belehren und teilte meinem Freunde Y mit, wir seien entschlossen, unsere Sommerfrische in B. abzuhalten. Wie, nach B. wollen Sie? Nach diesem schmutzigen Dorfe? Gehen Sie nach C.! Ich stutzte, fügte mich aber der überlegenen Weisheit; wohnte ich doch erst 3 Jahre in Westfalen und jene anderen schon lange; die mußten es natürlich besser wissen; überhaupt giebt ja der Klügste nach. Es war also eine ausgemachte Sache, wir gingen nach C. Aber o weh! kaum hatte meine Frau in der nächsten Kaffee-Visite davon gesprochen, als ein Sturm der Entrüstung losbrach.

Nach C. würden die Damen auf keinen Fall gehen, sie rieten aber dringend, nach D. zu gehen. Die Lage, Verpflegung, kurz, alles sei unvergleichlich viel besser als in C. Nun stand aber D. gar nicht mit auf meiner Liste. Doch was sollte ich thun? A., B. und C. hatte ich auf den Rat von X, Y und Z schon abgeschrieben. Die engere Wahl war also ergebnislos verlaufen. Inzwischen war auch bei dem ewigen Warten eine Woche der Ferien unwiederbringlich verloren, und wenn wir noch etwas von der Sommerfrische haben wollten, dann hieß es sich eilen. Kurz entschlossen telegraphierte ich nach D., bezahlte die Antwort und hatte nach 3 Stunden einen zusagenden Bescheid. Hurra, wir hatten eine Sommerfrische! Was 12 Briefe nicht vermocht hatten, eine Depesche hatte es erreicht. Wir stehen eben im Zeichen der Telegraphie; Briefe sind ein überwundener Standpunkt. Nun kann ich auch den Schleier der Anonymität lüften und verraten, daß D. Niedermarsberg war, an der Diemel im östlichen Sauerlande gelegen. Schon am nächsten Tage sollte die Reise angetreten werden.

Darauf bedacht, daß wir allein im Coupé blieben, verfiel ich auf folgende List, die ich allen Familienvätern empfehlen kann. Sobald eine Station in Sicht kam, kommandierte ich: Alle Mann an Deck! Alle 5 stürzten wir uns dann zwar nicht an Deck, sondern an die Coupéthür, die wir dicht gedrängt verbarrikadierten: meine Frau, ich, der Knabe Karl von 10 Jahren und der einjährige Hans auf dem Arme des Mädchens. Besonders letzterer sollte nach meiner Berechnung als Abschreckungsmittel dienen, und ich hatte mich nicht getäuscht. In Wickede z.B. steuerte ein umfangreicher Gutsbesitzer (dicker Bauer) auf unser Coupé zu, schwenkte aber kurz vorher ab, als er die kinderreiche Familie mit dem Hans an der Spitze sah, den er womöglich für einen Schreihals hielt, was er keineswegs ist. Meine Frau fand es zwar empörend, daß unser süßes Hänschen abschreckend auf einen Menschen wirken könne, aber der Erfolg gab mir Recht. Ungefährdet durch Mitreisende kamen wir Mittag an dem Ziel unserer Wünsche, in Niedermarsberg, an, von unserem Wirt, der außer seinem Hotel auch die Bahnhofsrestauration inne hatte, in Empfang genommen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco