Eine Primanerwanderung auf den Brocken (1878)

Unter beständigem, feinem Regen wanderten wir, nachdem wir um 9 Uhr morgens mit dem Zuge von Magdeburg in Wernigerode angekommen waren und einige Einkäufe besorgt, vor allem aber einen Schnaps nicht vergessen hatten, nach Ilsenburg, von wo aus der Brocken in Angriff genommen werden sollte. Im Grunde war es ein seltsames Unternehmen, in dieser Jahreszeit - man schrieb den 12. April - eine Harz- und Brockenreise zum Vergnügen zu unternehmen; jedoch das war es gerade, was uns reizte.

Der Nebel lag so dicht auf der Erde, daß das Schloß Wernigerode, von dessen Verschönerung durch Ausbau uns viel erzählt wurde, nicht zu erblicken war; die Luft war trübe und feucht, und man wußte nicht, ob man in Wolken ging oder ob es regnete; unser erster Grundsatz war indes, den Humor nicht zu verlieren. Zur Erhöhung unserer Stimmung kam noch hinzu, daß wir in einem ziemlich primitiven Kostüm steckten, das aber einer Harzpartie ganz angemessen war, und als wir uns vor der Stadt Auge in Auge gegenüberstanden und eine Weile betrachteten, brachen wir wie auf Kommando in ein Gelächter aus. Die vollgepfropfte Tasche an der Seite, darüber die Feldflasche an grüner Schnur, im Munde die bemalte kurze Pfeife, zu der immer neuen Stoff der am Knopfloch baumelnde Tabaksbeutel spendete, die Hosen hoch gekrämpt und die Stiefel voller Schmutzsprenke - so sahen wir wandernden Handwerksburschen täuschend ähnlich. Mein Freund Edgar [1] trug einen Knüttel, ich einen Schirm, der sich durch eine gewisse Altertümlichkeit auszeichnete.


Nachdem die Dörfer Altenrode und Drübeck, bei welch' letzterem der „Wernigeroder“ einer Probe unterworfen und für gut befunden wurde, passiert waren, kamen wir bei etwas aufgeheitertem Himmel in dem hübschen Ilsenburg an und verfügten uns in den Gasthof „Zu den drei Forellen“, um uns vor der Anstrengung noch einmal körperlich und geistig zu stärken. Die körperliche Stärkung präsentierte sich als eine Tasse Kaffee und unterschiedliche Eier; die geistige bestand aus einer nochmaligen begeisterten Rezitation von Goethes „Harzreise im Winter“, die wir mitgenommen hatten, um sie an Ort und Stelle auf uns wirken zu lassen.

Die Leute im Wirtshaus schüttelten den Kopf, als sie von unserem Plan hörten, und meinten, der Schnee läge noch so hoch, daß es unmöglich sei, bis zum Gipfel des Berges zu gelangen. Der Förster sagte, er sei selbst gezwungen gewesen, umzukehren; es riet uns, lieber davon abzustehen; umkehren müßten wir ja doch. Das waren ja schöne Aussichten für uns; eine Partie à la Hannibal in verkleinertem Maßstabe! Allein wir hatten uns einmal vorgenommen, heute Nacht in Brockenbetten zu schlafen, und wollten unsern Kopf durchsetzen. Insofern folgten wir jedoch unseren freundlichen Ratgebern, als wir beschlossen, nicht durch das Schneeloch, sondern auf der Fahrstraße zu gehen.

Mittlerweile war es zwei Uhr geworden, und wir warfen unsere Taschen um. Zum Abschied rief uns der Förster halb spöttisch zu: Auf Wiedersehen heute Abend beim Glase Bier!

Frohen Mutes pilgerten wir davon, an Holz- und Sägemühlen vorbei, immer einem hübschen, sanft ansteigenden Waldwege folgend. Zu beiden Seiten, bald rechts, bald links, rauschte die Ilse zu Thal; hoch oben über dem Kessel hing der Ilsenstein mit seinem mächtigen Eisenkreuz. Bald jedoch verlor die Wanderung den behaglichen Charakter; der Himmel, der uns eine Weile gelächelt hatte, öffnete seine Schleusen von neuem und überströmte uns mit kühlendem Naß. Langsam aber stetig rückten wir vor; wir waren nicht mehr bei frischen Kräften. Wir hätten morgens von der letzten Station vor dem Aufstieg aufbrechen sollen, um den Tag vor uns zu haben.

Nach anderthalb Stunden hörte ich die Ilsefälle von ferne brausen, die trotz ihrer Kleinheit einen erquickenden Anblick gewähren mit den schäumenden, weißen Wogen, mit ihren moosigen Felsen und tannenumkränzten steilen Ufern. Durch die Büsche schimmerte jetzt auch der erste Schnee. Um uns gehörig zu wappnen gegen diesen Feind, der bald in Masse den Fuß hemmen sollte, machten wir Rast und stärkten uns durch einen Imbiß, wobei wir von einem Holzfäller Erkundigungen über Länge und Beschaffenheit des bevorstehenden Weges einzogen. Drei Stunden wenigstens hatten wir nach Angabe dieses Biederen noch zurückzulegen, wenn wir aber den „Fautstieg“ einschlügen, setzte er hinzu, dann würden wir wohl eher ankommen; es käme übrigens auf eins hinaus. Es war noch nicht 5 Uhr; bald nach 7 Uhr hofften wir oben zu sein. Wir schritten vorwärts; auf dem Wege selber machte sich der Schnee schon bemerkbar, hier und da leuchteten uns weiße Stellen entgegen, die sich fortwährend vergrößerten und schließlich den Boden völlig bedeckten, vorläufig in der Höhe eines halben Meters, allmählig aber bis anderthalb und zwei Meter steigend. In dieser Höhe ging es nun 4 Stunden lang. Der Schnee befand sich in einem Zustande des Schmelzens, er war bereits so weich, daß man mit jedem Schritt bis an den Leib einsank; die äußere Kruste war aber zufolge der niederen Abendtemperatur übergefroren, sodaß es Anstrengung kostete, den Fuß wieder herauszuziehen. Dichter Nebel senkte sich mit geisterhafter Schnelle auf Berg und Wald und stimmte unser Gemüt melancholisch. Keuchend stampften wir bergauf; von Zeit zu Zeit sandten wir einen kräftigen Ruf, wie Hurra! Haut ihn! und dergl. in die Ferne. Nach langem Leiden kamen wir an eine Biegung des Weges, wo ein Wegweiser besagte, daß es sowohl nach Schierke als nach dem Brockenhause eine Stunde sei. Durch diese Nachricht neu belebt, gingen wir weiter, wenn man unser mühsames Stolpern so nennen kann. Aber wir vergaßen, daß diese Berechnung für einen normalen Weg gilt, nicht für einen, der in Manneshöhe mit Schnee bedeckt ist. Die Kniekehlen begannen zu schmerzen, die Stiefel waren mit Schneemassen angefüllt, das lustig zwischen den Zehen herumrann, die Beine versagten fast den Dienst, die Augen thaten weh durch den Anblick der weiten, weißen Fläche; doch weiter, immer weiter! Dunkler und immer dunkler ward es; kaum konnte ich meinen Gefährten, der etwa 30 Schritt vor mir hertaumelte, erkennen; und schwach umrissen tauchte eine Telegraphenstange nach der andern vor den Blicken auf. Alle 5 Minuten griffen wir zur Flasche, ohne die wir sicherlich nicht bis zu Ende ausgehalten hätten. Schneckenähnlich wankten wir weiter, schneidend kalt umpfiff uns der Wind und kühlte die schweißgebadete Stirn, und immer noch nichts von einer menschlichen Wohnung, immer wieder die eintönigen Telegraphenstangen. Es flimmerte mir vor den Augen, ich brach bei jedem Schritt zusammen; da plötzlich - o Wonne - war es eine Täuschung? - Hundegebell! Wie elektrisiert sprang ich vorwärts, da mußte das Brockenhaus sein - jetzt eine Stimme - zu sehen war nichts in der Finsternis - richtig, ein paar Schritt vor mir stieg ein düsteres Gebäude auf; Blitz, der Hund, umsprang uns freudig wedelnd, und wir standen in dem hell erleuchteten Flur des Brockenhauses, vor uns zwei Männer, der Oberkellner und der Hausknecht, die einzigen Bewohner des Brockens im Winter. Drei donnernde Hurrahs erschallten wie aus einem Munde, daß die Wände zitterten; vor Freude, festen Boden unter den Füßen zu haben, wäre ich dem Oberkellner am liebsten um den Hals gefallen. Und nun rasch hinauf in das Zimmer, das durch einige in den Ofen geworfene Scheite Holz bald behaglich durchwärmt war, und nun die Kleider aus, die wie aus dem Wasser gezogen waren. Und nun hinein in den beiden Betten, aber nicht zum Schlafen! Der Oberkellner setzte ein Tischchen zwischen uns, auf dem bald eine große Punschbowle dampfte, und setzte sich nebst dem Hausknecht heran. Und nun wurde fleißig angestoßen, bis mir die Augen zufielen und ich in einen tiefen Schlaf fiel.

Am folgenden Morgen belohnte uns eine herrliche Fernsicht; neu gestärkt wanderten wir dann weiter, zunächst nach Schierke und Braunlage.

Noch vieles Schöne sahen wir in den nächsten Tagen; die dauerndste Erinnerung aber blieb uns die Brockenwanderung im Schnee.




[1] Jetzt längst wohlbestallter Direktor des Höheren technischen Instituts zu Köthen i. Anhalt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco