Abschnitt 1

Nauvoo am Mississippi, die alte Mormonenstadt[2]


Von den Mormonen spricht man heuzutage kaum noch, sie sind, in Europa wenigstens, längst in den Hintergrund des öffentlichen Interesses getreten. Wenn man sie aber erwähnt, so denkt man meist nur an Utah, an die Salzseestadt, den Jordan und wie die bekannteren, in der amerikanischen Wüste gelegenen Punkte heißen. Die Salzseestadt (Salt Lake City), die ich auf meiner Rückreise von San Francisco nach dem oberen Mississippi im Jahre 1883 berührte, kenne ich zu wenig, um darüber etwas zu sagen, was nicht andere schon besser gesagt hätten.


Aber ich will auch nicht von dieser Mormonenstadt reden, sondern von der alten weniger bekannten, von Nauvoo. Als ich, vom Niagara kommend, in Chicago eine Fahrkarte nach Nauvoo verlangte, sah mich der Verkäufer ganz verdutzt an. Auch in Amerika ist die Stadt wenig bekannt, fast so wie in Europa. Niemand besucht sie; wer hätte auch Veranlassung dazu?

Von Chicago aus fährt man etwa zehn Stunden in südwestlicher Richtung quer durch den Staat Illinois. Dieser ist wohl angebaut, hügelig; ein Viertel ist noch Wald. Man nennt ihn den Garten Amerikas, was ich berechtigt finde, wenn statt Garten Gemüsegarten gesetzt wird. Es dämmerte schon, als wir uns dem Mississippi näherten. Bei Burlington überschritten wir ihn. Hunderte von deutschen Meilen von seiner Mündung entfernt, ist er schon hier ein paar Kilometer breit. Von Burlington aus benutzt man den Dampfer, der in wenigen Stunden in Nauvoo landet.

Nauvoo, in Hancock County im Staate Illinois, unter einem Breitengrade mit New York und Neapel (40° n. Br. gelegen), dehnt sich auf einer breiten vorspringenden Halbinsel auf dem linken (Ost)-Ufer des Mississippi aus und zerfällt in zwei Teile. Die „Flat“ zieht sich am Ufer hin und ist ganz eben und flach; daher der Name. Dahinter erhebt sich auf sanft ansteigenden Hügeln die obere Stadt. Nauvoo ist großartig angelegt; es hat sehr breite, endlos lange Straßen, die sich in regelmäßigen Abständen rechtwinkelig kreuzen und in denen an nichts Mangel ist, außer an Häusern. Man kann hundert Schritte gehen, ohne etwas anderes zu sehen, als rechts und links Gärten, Felder, vor allem Weinberge, mit Osage- (wilden Orangen) Hecken eingefaßt; auf den mit Gras und Unkraut bewachsenen Fußwegen weiden Kühe und Pferde; Hunde und Gänse laufen umher; dann und wann kommt wohl auch ein Reiter oder ein Fußgänger. Endlich schimmert ein Haus durch das Grün, aber es ist unbewohnt, halb verbrannt, ohne Scheiben in den Fenstern: eine Ruine. Solche Ruinen giebt es nicht wenig in Nauvoo; sie stammen aus der Zeit, wo die Mormonen mit Feuer und Schwert ausgerottet oder vertrieben wurden. Kommt man mehr in die innere Stadt, so findet man auch bewohnte Häuser, weiß, mit grünen Läden und Veranden, aus denen sogar Klavierspiel tönt. Selbst eine ganze Straße ist da, Mulhollandstreet, mit Kaufläden, Werkstätten, Wirtshäusern u.s.w. In dieser Straße sind die Fußsteige gedielt und der Fahrweg am Samstag mit Fuhrwerken der Farmer und Farmerstöchter aus der Umgegend gefüllt, die kommen, um ihre Einkäufe für die Woche zu besorgen.

Drei Elementarschulen und eine High School, jede mit einem Lehrer bezw. Lehrerin, sowie eine Damenakademie unter Leitung von Nonnen, die ein hübsches, im Schweizerstil erbautes Kloster bewohnen, sorgen für die geistigen Bedürfnisse der Nauvooer Jugend. Die Highschool, drei Klassen in einem Raum vereinigt, wird von Knaben und Mädchen verschiedenen Alters bis zu sechzehn Jahren besucht, die mit rühmlichem Fleiß ihren Studien obliegen, die auch Latein umfassen. Die Unterrichtsmethode ist, wie ich mich durch wiederholtes Hospitieren überzeugen konnte, ziemlich mechanisch und geistlos. In der Geschichte z.B. wird ein Paragraph aus dem Buche vorgelesen und dann zum nächsten Male aufgegeben. Dabei bleibe nicht unerwähnt, daß der Lehrer, der auch etwas studiert hat, allen guten Willen hat und bei seinen Zöglingen beliebt ist. Der Unterricht ist, wie meist in Amerika, von 9-12 und von 3-6; Sonnabend ist ganz frei.

Nauvoo hat ein halbes Dutzend Kirchen, reichlich viel für 1.500 Einwohner, aber in Amerika nichts Ungewöhnliches, da jede Sekte doch ihr Gotteshaus haben will. Es sind kleine Holzbauten, mit Ausnahme der katholischen, die an Größe und Schönheit die anderen übertrifft. Der katholische Pfarrer ist theologisch gebildet; die Geistlichen der anderen Konfessionen, Lutheraner, Presbyterianer, Deutsch- und Englisch-Methodisten, sind Farmer, Kaufleute, Handwerker, die das Predigen als Nebenbeschäftigung betreiben und durch Kraft und Fülle der Stimme die sonst fehlenden Eigenschaften ersetzen. An Wochentagen kann man sie hinter dem Ladentisch, in der Werkstatt und beim Strohaufladen hantieren sehen. Von dem großen prächtigen Tempel der Mormonen stehen nicht einmal die Ruinen mehr.

Die Nauvooer Zeitung (Nauvoo Independant nennt sie sich stolz) erscheint wöchentlich einmal. Die Verbindung mit der Außenwelt wird durch Telegraph und Telephon hergestellt; durch eine Dampffähre gelangt man ans westliche Ufer, nach dem kleinen Ort Mont-Rose, von wo man die Eisenbahn nach mehreren Richtungen hin benutzen kann. Den Sommer hindurch legen die Mississippidampfer, die den Fluß in seiner ganzen Ausdehnung von St. Paul nach St. Louis, von da nach New Orleans, befahren, in Nauvoo an; die ganze Fahrt, die ununterbrochen Tag und Nacht währt, nimmt etwa 14 Tage in Anspruch. Im Winter ist der Fluß nördlich von St. Louis wegen des Eises unfahrbar.

Eine Eisenbahn wurde von den Mormonen in Angriff genommen, blieb aber unvollendet. Die Einwohner Nauvoos beschäftigen sich meist mit Ackerbau, besonders Weinbau. Bis Nauvoo hinauf geht die Weingrenze, doch kann man nicht sagen, daß das Klima der Rebe eben günstig wäre. Ein sehr heißer Sommer folgt einem sehr kalten Winter mit einem Maximal-Wärme-Unterschied von 60-70º Réaumur.

Steigt man vom Fluß (der Mississippi wird von den Anwohnern allgemein blos „River“ [Fluß] genannt), durch die „Flat“ hinauf nach der oberen Stadt, so übersieht man allmählich die ganze Umgegend; unten den mächtigen, in großen Bogen sich hinwindenden Strom, von bewaldeten Hügeln umsäumt und begleitet. Aus dem bläulichen Wasserspiegel erheben sich wenig die flachen, waldigen, mit viel Unterholz bestandenen Inseln, oft von 50, ja 100 Hektar Bodenfläche. Besteigt man den Turm der katholischen Kirche, so erweitert sich das Panorama noch. Zu Füßen die ganze, sich weit hinstreckende Stadt; aus dem Grün sehen die schlanken Thürme und die weißen freundlichen Wohnhäuser heraus; jenseits nach Osten, in der unendlichen, meist angebauten Prairie tauchen einzelne Farmen empor; nach allen Seiten Wald, nichts als Wald und wieder Wald.

Ruhe und Frieden ist das Gepräge dieser Landschaft, die zur Zeit der Indianer kaum stiller gewesen sein mag. Ein abgeschiedenes, weltvergessenes Idyll - so liegt Nauvoo mitten in dem gewaltigen, rauschenden Epos der amerikanischen Völkerwelt, deren Wogen an ihm vorüberbranden, ohne es zu berühren. Nur dann und wann gemahnt ein Eisenbahnzug daran, der weit drüben bei Montrose vorbeibraust; und in stillen Sommernächten hört man das Geheul der Mississippidampfer. Einen zauberischen Anblick gewährt ein solches Schiff, wenn es, mehrere Stockwerke über der Flut sich auftürmend, von elektrischem Licht umflossen, mit riesigen Schaufelrädern durch das spiegelklare Wasser majestätisch dahin rauscht. Einen Kiel haben diese Mississippidampfer nicht, und sie laufen deshalb, wo das Wasser bei den Anlegeplätzen zu flach ist, einfach auf den sandigen Strand, wo sie ihre Landungsbrücke, die sie vorn hängend mit sich führen, hinauswerfen.

Ein anderes, bunt bewegtes und lebendiges Bild bot Nauvoo zur Mormonenzeit.




[2] 1882-83 bereiste der Verfasser die Vereinigten Staaten. Die beiden folgenden Stücke sind Bruchstücke aus dem damals geführten Tagebuch.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco