Abschnitt 1

Das Goetheviertel in Frankfurt


Im Gegensatze zu der Einteilung in so und so viele Polizeibezirke habe ich für meine Privatzwecke Frankfurt a.M. immer in drei Stadtteile eingeteilt: das Kaiserviertel, das Goetheviertel und das unhistorische Viertel. Das Kaiserviertel nimmt die Gegend am Dom und am Römerberg ein. Mit Ehrfurcht betritt der nicht alles historischen Sinnes Bare diese Straßen und Plätze, die von ihrem alten Gepräge wenig verloren haben. Da ist der alte, gotische Kaiserdom mit seiner mächtigen Turmpyramide, wo die Kaiser gekrönt wurden; da ist das Grab Kaiser Günthers, der in Frankfurt starb; da ist das Wahlzimmer, in welchen die Kurfürsten ihr Amt ausübten. Durch eine ziemlich schmale Straße (den „Markt“) ging der Krönungszug dann nach dem altertümlichen Rathause, „Römer“ genannt, in dessen gewölbtem Saale das Festessen stattfand, während draußen, auf dem Römerberg, das Volk sich erlustigte, der Ochse am Spieße gebraten wurde und aus einem doppelarmigen Brunnen roter und weißer Wein floß.


Ueber den Paulsplatz schreitend, gelangen wir in die Barfüßergasse und sind im Goetheviertel. Es erstreckt sich über den Kornmarkt, den großen Hirschgraben, den Goetheplatz, Roßmarkt, bis zum Weidenhof auf der Zeil. Gesondert davon liegen im Nordosten der Stadt, teils sogar in die Außenstadtteile reichend, noch drei Goetheerinnerungen.

Was soll ich endlich von dem unhistorischen Viertel sagen? Es stammt aus dem letzten Jahrhundert, umzieht die innere Stadt in großem Halbkreise und enthält die komfortabelsten Häuser und Villen, in denen die Herren Müller und Schultze, Schmidt, Fischer, Oppenheimer und wie sie alle heißen, wohnen. Das Opernhaus und der Palmengarten, der Hauptbahnhof und der Zoologische Garten, die prächtigen Schulpaläste, an denen Frankfurt so reich ist - alles das und noch vieles andere ist in dem unhistorischen Viertel zu finden, nur keine Erinnerungen, große, schöne, anmutende Erinnerungen. Wer die sucht, der kehre schleunigst mit mir um in die enge und hochgiebelige Innenstadt, in das am meisten lohnende, den sinnigen Beschauer immer und immer wieder fesselnde Goetheviertel.

Nicht nur den geistigen, sondern auch den räumlichen Mittelpunkt bildet Goethes Vaterhaus, am großen Hirschgraben 23 gelegen. Es ist ein dreistöckiges Giebelhaus mit sieben Fenstern Front; ein geräumiges, bequemes Patrizierhaus, von der Familie Goethe meist allein bewohnt. Es bestand ursprünglich aus zwei Häusern, die miteinander verbunden wurden. Der letzte Umbau geschah im Jahre 1755 durch Goethes Vater, den Kaiserl. Rat Dr. Johann Kaspar Goethe. Den Grundstein legte der kleine, damals sechsjährige Wolfgang. Das Haus, wie wir es jetzt sehen, ist im wesentlichen unverändert geblieben. Ueber der Thür ist eine Marmortafel angebracht mit des Dichters Namen, Geburtstag usw., darunter ist das Wappen, drei schwer erkennbare Leiern enthaltend, welches schon vor des Dichters Geburt gewissermaßen prophetisch auf den Beruf desselben hinwies. Darunter die nüchterne Inschrift: „Goethes Vaterhaus, Eintrittspreis 1 Mark. Von 1 bis 3 geschlossen.“

Das Goethehaus ist Eigentum des 1859 gegründeten „Freien Deutschen Hochstifts“, einer wissenschaftlichen und künstlerischen Gesellschaft, die ihre Mitglieder in allen Städten Deutschlands, ja bis in die entfernteren Weltgegenden hat, namentlich aber in Frankfurt selbst. Sie veranstaltet im Winter Vorträge von Frankfurter und auswärtigen Gelehrten und arbeitet außerdem in Fachabteilungen, deren eine alt- und neu-philologische, eine juristische, eine staatswissenschaftliche, eine deutsche (unter dem Vorsitz Wilhelm Jordans, der sich um die Neugestaltung des Hochstifts anfangs der achtziger Jahre verdient gemacht hat), eine kunstwissenschaftliche, eine mathematisch-naturwissenschaftliche bestehen. Die Berichte dieser Sektionen erscheinen jährlich in mehreren Heften. Das Hochstift, welches durch Legat in den Besitz eines beträchtlichen Vermögens kam, läßt sich zugleich die Instandhaltung des Goethehauses und möglichst getreue Wiederherstellung aller einzelnen Teile angelegen sein.

Treten wir ein, so finden wir im Erdgeschoß rechts ein Verwaltungszwecken dienendes Zimmer, in welchem der Kassierer sich aufhält, von dem wir unsere Karte beziehen. Er sagt uns auf unsere Erkundigung, daß jährlich etwa 7.000 Karten ausgegeben werden. Sind wir zufällig Mitglieder des Hochstifts, so haben wir nebst unseren Angehörigen freien Eintritt.

Das Zimmer linker Hand dient den Hochstiftsmitgliedern als Lesezimmer; etwa 120 Zeitschriften aus allen Wissenschaften sowie Unterhaltungsblätter liegen aus. Zu Goethes Zeit diente es als Eßzimmer. Hinter dem mächtigen Ofen, der aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts herrührt, spielte sich jene ergötzliche Scene ab, die Goethe am Schluß des zweiten Buches seiner Lebensbeschreibung so anmutig erzählt. Da Goethes Vater einen Widerwillen gegen Klopstocks Messias hatte, dessen Verse ihm, da sie nicht gereimt seien, keine Verse schienen, so wußten sich die Kinder - Wolfgang und Cornelia - das Buch heimlich zu verschaffen und zu lesen. „Es war an einem Sonnabend Abend im Winter - der Vater ließ sich immer bei Licht rasieren, um Sonntags früh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu können -, wir saßen auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, während der Barbier einseifte, unsere herkömmlichen Flüche ziemlich leise. Nun hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Händen zu fassen, meine Schwester packte mich gewaltig an und rezitierte, zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft:

Hilf mir! Ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst

Ungeheuer, dich an! Verworfner schwarzer Verbrecher.

Hilf mir! Ich leide die Pein des rächenden, ewigen Todes!

Vormals konnt' ich mit heißem, mit grimmigem Hasse dich hassen!

Bisher war alles leidlich gegangen, aber laut, mit fürchterlicher

Stimme, rief sie die folgenden Worte: „O, ich bin wie zermalmt!“

Der gute Chirurgus erschrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks, das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wäre. Um allen Verdacht des Mutwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als daß man sie nicht aufs neue hätte verrufen und verbannen sollen.“

Im ersten Stockwerk, zu dem eine breite und bequeme Treppe mit

Eisengeländer führt, liegt das Staatszimmer des Hauses, in welchem der Königsleutnant über ein Jahr lang einquartiert war und in welchem die Sitzungen der meisten wissenschaftlichen Sektionen des Hochstifts abgehalten werden. Links daneben das Zimmer Karl Augusts, rechts das des Bedienten des Grafen Thorane [14], Jean, jetzt zur Aufbewahrung des Goetheschatzes verwandt. Dies ist eine Sammlung aller Schriften von und über Goethe, die fortwährend ergänzt wird. Wie wenig sie dem Ideal einiger Vollständigkeit nahe ist, geht aus der Thatsache hervor, daß allein Engels Verzeichnis der Faustschriften etwa 3.000 Nummern umfaßt.

Im zweiten Stockwerk liegt in der Mitte das Gemäldezimmer, links des alten Rats Arbeitszimmer nebst Bücherei, rechts Frau Goethes Zimmer, dahinter das sog. Geburtszimmer Wolfgangs. Die Nummer des Frankfurter Intelligenzblattes, in welcher die Geburt angezeigt wird, hängt unter Glas und Rahmen aus. Die Anzeige lautet buchstäblich: „Getauffte hierüben [15] in Frankfurt, Freytags den 29. dito (=August) S.T. Hr. Johann Caspar Göthe, Ihro Rom. Kayserl. Majestät würcklicher Rat: einen Sohn, Johann Wolffgang.“




[14] So, nicht Thorane schrieb sich der Königsleutnant selber.
[15] Im Gegensatze zu dem jenseits des Mains gelegenen Sachsenhausens. Die Taufe fand einen Tag nach der Geburt statt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco