Erstes Capitel. - In dem grünen Parke von Schloß Richten hatten die zahmen Rehe und Hirsche sich bereits gewöhnt, das Brod aus den Händen des kleinen Renatus zu nehmen, ...

In dem grünen Parke von Schloß Richten hatten die zahmen Rehe und Hirsche sich bereits gewöhnt, das Brod aus den Händen des kleinen Renatus zu nehmen, wenn die Wärterin ihn an das Gitter des Geheges führte, und in Rothenfeld stieg die Kirche schon stattlich aus der Tiefe hervor, als die Kriegstrommel durch das Land rasselte, weil der Feldzug, mit welchem man dem bedrängten Könige von Frankreich zu Hülfe kommen wollte, nun eine beschlossene Sache war.

Ueberall im Lande gab es Truppenmärsche, in allen Häusern hatte man Einquartierung; auch das große, schön gelegene Haus des Juweliers Flies war natürlich nicht davon verschont. Angenehme Gäste waren diese, von Werbern aus allen vier Weltgegenden zusammengebrachten Truppen, diese Söldlinge, welche nur mit Gewalt bei der Fahne erhalten werden konnten, eben nicht, und der Kriegsrath Weißenbach hatte es von dem Juwelier Flies als einen Freundschaftsdienst gefordert, daß dieser die auf das Haus gewiesenen Gemeinen in sein Quartier nahm und dem Kriegsrathe die beiden Offiziere überließ, mit denen doch ein Verkehr und ein anderes Auskommen möglich war.


Der Kriegsrath, dem der Caplan vor einigen Jahren auf den Vorschlag des Juweliers den Sohn Paulinen's übergeben hatte, stand aber auch mit seinem Hausherrn immer auf dem besten Fuße. Herr Weißenbach war ein Mann, der seine Ruhe liebte, der seine festen Gewohnheiten hatte und der für das Muster eines ruhigen und fleißigen Beamten galt. An jedem Morgen ging er um die bestimmte Stunde in sein Bureau, an jedem Mittage kehrte er um die gleiche Stunde heim, und eben so regelmäßig pflegte er dann in den Laden des Juweliers zu treten, der schon lange neben seinem Gold- und Juwelenhandel ansehnliche Bankgeschäfte machte und von dem Gouverneur der Provinz, wie von dem hohen Adel mit mannigfachen Geld-Operationen beauftragt wurde. Dadurch war er meist wohl unterrichtet über alles, was in den Familien des Adels und des Bürgerstandes vorging. Der Kriegsrath seinerseits, obschon er sehr gewissenhaft über seinen Amtseid dachte, wußte doch immer Dies und Jenes von den Maßregeln der Regierung zu erzählen, was er freilich nur als Muthmaßungen bezeichnete, was aber dem scharfsichtigen und gut zusammenreimenden Kaufmanne gelegentlich doch zu Nutz und Frommen gereichte, und da man auf diese Weise für einander zugleich unterhaltend und förderlich war, so liebten beide Männer es, alltäglich ein Viertelstündchen zu sammen zu verplaudern. Sie sprachen daneben vor Fremden auch günstig von einander, und befestigten und steigerten auf diese Weise gegenseitig ihren guten Ruf und ihren Credit, ohne daß sie deshalb einen eigentlichen gesellschaftlichen Verkehr unterhalten hätten. Denn die Flies'sche Familie zu sich einzuladen, fand die Kriegsräthin nicht passend; aber sie verschmähte es deßhalb nicht, sie hier und da einmal allein zu besuchen, von ihr jeden Dienst zu fordern und anzunehmen, welchen dieselbe zu leisten nur irgend geneigt und im Stande schien, und beide Theile glaubten nicht, sich damit etwas zu vergeben. Der Kriegsrath, wie weit er auch von der höchsten Stufe der Macht entfernt war, fühlte sich doch als einen Theil der Beamtenwelt, die in des Königs Namen das Land regierte, und der Juwelier, welcher seinen Schwerpunkt in seinem wachsenden Vermögen hatte, gönnte dem Kriegsrath seinen Beamtenstolz und sein gemessenes feierliches Wesen. Konnte er doch berechnen, wie weit diese Vornehmheit ungefähr zu gehen vermochte!

Selbst die bewegten Zeiten änderten in diesem gegenseitigen Verhältnisse nichts. Denn wie abweichend der Hausherr und sein Miether auch über die Dinge dachten, welche in Amerika geschehen waren und in Frankreich eben jetzt geschahen, so waren beide doch vorsichtig genug, die obwaltende Meinungsverschiedenheit nicht scharf hervorzuheben oder auch nur ernst zu berühren. Der Kriegsrath wünschte es mit einem Manne nicht zu verderben, der nachzusehen wußte, wenn die Quartalszahlungen einmal etwas auf sich warten ließen. Auch um Paul's willen mußte man mit Herrn Flies in gutem Vernehmen zu bleiben suchen, und dieser Letztere hielt beharrlich an der Erfahrung fest, daß man jeden Menschen einmal brauchen könne und also Niemanden unnöthig von sich weisen dürfe.

Herr Flies hatte seiner Zeit mit dem Kriegsrathe das Abkommen wegen des Knaben mit jener Schnelligkeit betrieben, mit welcher er alle seine Geschäfte abzumachen liebte, und er hatte dabei eine doppelte Absicht gehabt. Einmal hatte er gewünscht, sich dem Freiherrn von Arten gefällig zu erzeigen, der ihm ein guter Kunde war, und zweitens hatte er geglaubt, es könne ihm in jedem Betrachte nur vortheilhaft sein, wenn die Einnahmen seines Miethers sich um eine Summe steigerten, welche durch ihn ausgezahlt werden sollte und die mehr als den Betrag des Miethzinses ausmachte. Aber erst, als sie das Kind bereits im Hause hatte, war die Kriegsräthin auf die Frage gekommen, in welcher Weise sie dasselbe vor den Leuten aufzuführen haben werde. Eingestehen, daß sie den Bastard eines Edelmannes bei sich aufnehme, das mochte sie nicht gern, und ein Kind von solcher Herkunft für den Sohn eines seiner Verwandten auszugeben, verweigerte der Kriegsrath. Man gelangte also zu dem Auskunftsmittel, den Knaben als eine Waise darzustellen, deren man sich angenommen habe, und damit schienen die Schwierigkeiten nach allen Seiten auf einmal gelöst.

Man hatte eine Form, in welcher man den kleinen Paul den zahlreichen Bekannten und Freunden des Hauses vorstellen konnte, es war gerechtfertigt, wenn man den Knaben in allen Dingen sparsam hielt, es gab für die Großmuth und Herzensgüte der Pflegeeltern ein schönes Zeugniß, und es erzog, wie die Kriegsräthin sagte, ihren Pflegling auf die einfachste Weise zu der Fügsamkeit, die für ihn am angemessensten schien, weil seines Gleichen doch in der Regel keinen glatten Lebensweg zu haben pflegten.

Die Kriegsräthin war überhaupt eine gescheite und daneben eine hübsche Frau, die freilich nicht in allen Dingen mit ihrem älteren Manne zusammenstimmte. Er war ein wenig trocken und pedantisch; sie nannte sich gefühlvoll und poetisch. Er liebte die Arbeit, sie die Muße; er hielt auf seine Gewohnheiten, sie sehnte sich nach Wechsel und nach Neuem; ihm genügten sein Amt und seine Lebenslage, sie besaß den Ehrgeiz, für ihren Mann ein höheres Amt, für sich eine glänzendere gesellschaftliche Stellung zu begehren, und sie war der Meinung, daß eine hübsche, gescheite Frau ihrem Manne vielfach nützen könne. Es war ja nicht das Verdienst allein, daß man im Staate belohnte, nicht allein die Kenntnisse und die Tüchtigkeit, welche den Beamten vorwärts brachten. Vornehme Verwandtschaften und einflußreiche Bekanntschaften fielen ganz anders in die Wagschale, und Frau Weißenbach, welche sich eine Pflicht und eine Ehrensache daraus machte, ihrem Manne solche Bekanntschaften zu vermitteln, hatte sich eben deshalb auch so schnell bereit erklärt, das Kind des angesehenen Freiherrn von Arten bei sich aufzunehmen. Denn auf die förderliche Gunst eines Mannes, dem man ein Geheimniß bewahrte, meinte sie rechnen zu dürfen.

Wenn man aber mit einflußreichen Leuten in Berührung zu kommen wünschte, so mußte man, wie die Kriegsräthin behauptete, einen gewissen äußern Anstand zeigen, weil sich mit einer Familie einzulassen, von welcher man in jedem Augenblicke irgend einer Anforderung gewärtig sein muß, der Angesehene und Vielvermögende, der wie jeder Andere um seiner selbst willen aufgesucht sein mag, überall Bedenken trägt; und der äußere Anstand war auch gar so schwer nicht zu behaupten. Eine gute Einrichtung, wenn sie einmal angeschafft ist, hält lange vor, und eine gebildete Frau weiß ihre Kleidung so zu tragen, daß alles an ihr einen besonderen Anstrich erhält. Es war auch gar nicht nöthig, daß der Kriegsrath sich viel in der Gesellschaft zeigte und sich aus seiner Ruhe störte. Sah man die Frau nur im Theater, wenn die Schauspielertruppe sich am Orte aufhielt, traf man sie nur in dem Kaffeegarten, in welchem die angesehenen und gebildeten Familien der Stadt sich zusammenfanden, so konnte der Mann in Gottes Namen bei seiner Arbeit bleiben. Hier und da ein Abendbrod zu geben, oder einige Personen zum Spiel bei sich zu sehen, das konnte man leicht ermöglichen. Man schränkte sich dafür in der Familie ein wenig ein, und ließen die Ausgaben und Einnahmen sich dennoch einmal nicht in das Gleiche setzen, so verstand Laura es vortrefflich, den mahnenden Handwerkern mit dem Hinweise auf ihres Mannes einflußreiche Stellung Geduld zu predigen, und sie auf die mancherlei Lieferungen zu vertrösten, welche er zu vergeben hatte und von denen hier und da eine oder die andere ihnen auch zu Theil ward.

Auf solche Art geschah es, daß die Kriegsräthin ihre Handwerker und diese die Weißenbach'sche Familie lobten, daß Herr Weißenbach mit seiner Laura sehr zufrieden war, daß Laura mit heiterer Sicherheit ihre sämmtlichen Angelegenheiten leitete und daß man die Familie Weißenbach durchaus als eine sehr achtungswerthe bezeichnete. Wem die Menschen aber, sei es mit Grund oder ohne Grund, einmal wohlwollen, dem legen sie das Gute doppelt und dreifach als ein solches aus, und Frau Weißenbach hatte selbst nicht voraussehen können, welch ein Gewinn ihr durch die Aufnahme von Paul erwachsen sollte, da man einmal günstig für sie gestimmt war.

Die Leute, welche sich nur an die materiellen Verhältnisse hielten, meinten, daß verständige Personen sich nur dann die Sorge für eine Waise aufladen, wenn ihnen dies ein Leichtes sei. Die weichen Seelen rühmten das liebevolle Herz der Kriegsräthin, welches sich in der Hingebung an ihren Gatten noch nicht genug zu thun wisse, und kam dem Kriegsrath inzwischen doch einmal die Frage, wie seine Laura es nur anfange, mit seinen Mitteln so weit auszureichen, so wußte diese, seit Paul in ihrem Hause war, Alles auf die für ihn bezahlte Pension zu übertragen und es deutlich zu beweisen, was sich leisten und bestreiten lasse, wenn neben der ausreichenden Summe für das Unerläßliche noch eine sichere Einnahme zur Beschaffung des Ueberflüssigen und Angenehmen vorhanden sei. – Es machten sich also, wie gesagt, die Dinge alle ganz vortrefflich, und Jedermann war recht zufrieden, bis auf den Knaben, der in dem Weißenbach'schen Hause seine Heimath haben sollte und der es deutlich genug empfand, daß er von der Kriegsräthin, die sich seine Mutter nannte, nur geduldet, nicht geliebt ward; daß sie ihn entfernte, wenn sie konnte; daß sie ihn ängstlich bewachte, wenn man mit ihm sprach, und daß sie ihn zum Schweigen verwies, sobald er von seiner wahren Mutter und von seinen Erinnerungen zu reden begann.

Dieses Letztere währte jedoch gar nicht lange, denn er hatte des Neuen in der Stadt so viel zu sehen, daß es die alten Eindrücke zurückdrängte, und nachdem der Knabe in den ersten Wochen täglich nach seiner Mutter verlangt hatte, sprach er bald gar nicht mehr von ihr und schien es nach Jahr und Tag völlig vergessen zu haben, daß er je eine andere Heimath gehabt hatte. Aber mit seinen ersten Erinnerungen hatte Paul auch seine kindliche Fröhlichkeit verloren. Er war ein ernsthafter, still beobachtender Knabe geworden, der sich in den Willen und die Weise der Personen, von denen er abhängig war, früh zu schicken lernte.

Morgens, wenn der Kriegsrath sich in sein Bureau verfügte, und der alte, reiche Herr Präsident der schönen Laura seine alltägliche Morgenvisite machte, ging Paul bald ganz von selbst hinaus. Er hatte es ja auch schon so oft gesehen, wie der alte Herr der Pflegemutter zärtlich die vollen, weißen Hände küßte und ihr mit zierlicher Armbewegung und gespitzten Fingern den frischen Strauß oder die gefüllte Bonbonnière überreichte, in der neben dem Zuckerwerk wohl auch ein zierlich gefaltetes Briefchen oder ein kleines, werthvolles Geschenk sich verbargen. Abends hingegen, wenn die Herren Offiziere und die geputzten Damen mit den hohen Flatteusen auf dem Kopfe zum Spiele kamen, dann sollte Paul freilich in der Gesellschaft bleiben, aber er mußte es dann stets aufs Neue rühmen hören, wie gut, wie großmüthig seine Pflegemutter, und wie sie zu beklagen sei, daß ihr Pflegesohn nicht freundlicher, nicht fröhlicher, daß er, trotz seiner schönen Augen und seines lebhaften Gesichtes, ein so verschlossener, ein so wenig liebenswürdiger Knabe sei.

Er war herzlich froh, wenn er endlich die Weisung erhielt, das Zimmer zu verlassen, wenn er aus den lichten Räumen sich über den Corridor in die letzte Stube der Wohnung flüchten konnte, in welcher der Kriegsrath, zwischen Actenstößen vergraben, bei seiner Arbeit saß, oder wenn er hinuntergehen durfte zu dem Hauswirthe in die große Stube, welche an den Laden anstieß.

Unten bei Herrn Flies, da kamen Morgens keine besonderen Besuche zu der Hausfrau und Abends war keine Gesellschaft zum Spiele dort. Da hieß man ihn nicht reden und nicht schweigen, da ließ man ihn nicht hart an, ohne daß er wußte, was er verbrochen habe, da küßte und lobte man ihn nicht vor Fremden, ohne daß er einsah, womit er dies verdient hätte. Herr Flies saß auch Abends niemals so, wie der Kriegsrath, ganz allein in einer stillen, dunkeln Arbeitsstube.

Freilich hatte Herr Flies auch vollauf zu thun von früh bis spät, aber sein Thun war lustiger, als das des Kriegsrathes, es war nicht einsam und nicht immer dasselbe. Denn vorn im Laden, der nach der Straße hinaussah, da standen die spiegelhellen Silbervasen, auf denen allerlei Figuren: Menschen, Thiere und Pflanzen nachgebildet waren, vor dem Fenster. Da führte der silberne Mohr mit goldenem Schurz den schneeweißen Elephanten an goldener Kette, da ringelten sich goldene Schlangen um silberne Palmbäume, da gab es in kostbaren Geschmeiden die rothen Korallen und die schimmernden Perlen, welche man, wie ihm Herr Flies sagte, aus der Tiefe des Meeres hervorholte, und daneben funkelte der rothe Rubin und leuchtete der blaue Saphir über dem strahlenwerfenden Diamanten und dem glänzenden Smaragd, die man in jenen Gegenden finden konnte, in denen die Schlange sich um den Palmbaum ringelte und der Neger und der Elephant und der Hindu und der Löwe zu Hause waren, die Paul am Fuße eines großen Tafelaufsatzes zu bewundern liebte.

Alles gefiel ihm in dem Laden. Er hatte immerfort etwas zu betrachten. Er hörte es gern, wenn Herr Flies den Käufern die Schönheit seiner Waaren rühmte, er sah ihm gern zu, wenn er das eingenommene Geld im Zählen so blitzschnell aus der Rechten in die Linke gleiten ließ, um es dann in gleichmäßigen Haufen neben einander aufzustapeln, oder wenn die Leute kamen, denen man Geld zu zahlen hatte, und der Cassirer es im Comptoir mit nie fehlender Sicherheit in richtigem Betrage auf den Zahltisch hinschießen machte. Die Handlungsgehülfen an den Stehpulten hinter den hölzernen Gittern, welche in den großen, schweren Büchern schrieben, der Hausknecht, der Päcke von Waaren nach der Post trug oder Säcke voll harter, blanker Thaler in das Haus brachte, das alles beschäftigte des Knaben Phantasie, das alles liebte er zu sehen. Mehr aber noch als alles das liebte er Seba, und Seba war es werth, daß man sie liebte.

Sie war das einzige Kind des Juweliers. Seinen größten Schatz nannte sie der Vater, einen wahren Edelstein nannte sie die Mutter, die schöne Seba Flies, die schöne Jüdin hieß man sie in der Stadt. Des Vaters namhaftes Vermögen war für sie erworben; was Liebe gewähren, Geld erkaufen konnte, Pflege und Unterricht aller Art waren ihr zu Theil geworden. In der Liebe ihrer Eltern hatte sich ihr Herz entfaltet, durch Bildung ihr Geist sich entwickelt, sie wußte, was sie werth war, und gerade darum lasteten die Verhältnisse, in denen sie geboren war und lebte, so schwer auf ihr.

Was half es ihr, daß sie weit schöner war, als die meisten der reichen Bürger- und Kaufmannstöchter und selbst als die Edelfrauen und Fräulein, welche in ihres Vaters Laden den Schmuck für ihre Feste und den Trauring für ihre Hochzeit kauften? Was half es ihr, daß sie nur zu sprechen, nur zu wollen brauchte, um die Edelsteine zu besitzen, welche ihr begehrenswerth erschienen? Keiner der Männer, für welche jene Frauen sich schmückten, war für die Jüdin vorhanden, keines von all den Festen, auf denen Jene sich vergnügten, öffnete seine Thüren für Seba, und sich zu schmücken und zu putzen für die Gesellschaft ihrer Stammes- und Standesgenossen machte ihr keine Freude. Die Verachtung, die Zurücksetzung, welche auf den Juden lasteten, drückten sie. Mit unerbittlicher Klarheit sah sie die Schwächen und Widrigkeiten, welche den von der Allgemeinheit ausgeschlossenen Juden anhafteten, und schon oftmals war ihr der Gedanke durch die Seele gegangen, daß Bildung und Erziehung zum Schönen und zum Edeln für denjenigen keine Wohlthat sein könnten, dem es nicht vergönnt sei, sich frei und gleichberechtigt unter den Gebildeten zu bewegen.

Eine heimliche Unzufriedenheit, die auszusprechen schon die Zärtlichkeit und Liebe für ihre Eltern sie abgehalten haben würde, arbeitete, seit sie herangewachsen war, in ihrem Innern fort, und ihre phantastische Hoffnung auf einen Wechsel ihrer Lebensverhältnisse, auf eine Aenderung der allgemeinen Zustände sog ihre Nahrung aus der großen gesellschaftlichen Umgestaltung, die sich jenseit des Rheines durch die Revolution vollzog und auf welche auch ihr Vater sein Auge und seine Erwartungen gerichtet hielt. Denn, wie Herr Flies auch gelegentlich zu schweigen wußte, wenn man sich mit Entrüstung über die Revolutionäre in Frankreich äußerte, welche weder vor göttlichen noch vor menschlichen Gesetzen Achtung hegten – in seines Herzens Innerem dachte er anders, und er hatte dessen vor seiner Familie und vor seinen Freunden auch kein Hehl.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Geschlecht zu Geschlecht. Zweites Buch