Fortsetzung

Der französische Beurteiler hat von einer zehnten Muse Namens „Crineïs" gesprochen, die unser modernes Schriftstellertum inspiriere, und nachdem sie sich zuerst in Lessing in ihrer vollen Hoheit und Unabhängigkeit geoffenbart, dann in dem größten poetischen Genius unseres Jahrhunderts die innigste Verbindung mit dem dichterischen Schaffen eingegangen; in welchem Sinne denn auch Cherbuliez unter die bedeutendsten Epigonen Goethes zu rechnen sei. Das ist viel, aber nicht falsch. Auch bei Cherbuliez ist jeder Gedanke so sorgfältig ästhetisch gewogen, so harmonisch ausgesprochen, dass Absicht und Ausdruck sich fast allenthalben decken; hier wie dort steht das Studium der Natur mit dem der Kunst im engsten Bunde; jede Gegend, jede Blume redet ihre charakteristische Sprache, und der Mensch wiederum mit seinen höchsten geistigen Gefühlen verschwindet als bloße Sache, als kleine Welle in dem großen Ozean der spinozistischen Intuition, die seine Dichtung wie einst die goethesche in einem weilen Rahmen umspannt. Aber freilich, wenn bei Goethe die poetische Inspiration immer das erste, die Reflexion, in die sie sich hüllt, das nachfolgende ist, findet sich bei dem modernen Dichter jedes Motiv sofort in voller verstandesmäßiger Nettigkeit und erlangt erst hinterdrein seine ideale Fassung und dichterische Rundung. Er weiß allerdings jenen geheimnisvollen Reiz deutscher Poesie „in bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit" tief zu empfinden; das schöne Gedicht „die Metamorphose der Pflanze" gibt in dramatischer Verkörperung zu seinem anziehendsten Romane „Graf Kostia" gleichsam die Seele ab. Jedoch wie wenig er selbst sich zum lyrischen Dichter berufen fühlt, bezeugt schon im „Ross des Phidias“ der charakteristische Umstand, dass er ein Gedicht, welches im Gewebe der dortigen Unterhaltungen von Wichtigkeit ist (es hat die Natur des poetischen Schaffens überhaupt zum Vorwurf), nur in Prosa nacherzählen lässt. Auch die einzigen erwähnenswerten Verse, deren wir uns in seinen Werken entsinnen (im Grand Oeuvre), leiden an der allzu diskursiven Form der Konzeption. Trotzdem würde es uns Wunder nehmen, wenn er sich nicht öfters lyrisch versucht hätte. Vielleicht hat er mit derselben Selbstbeherrschung, mit welcher er alle seine jugendlichen Studien dem Auge des Publikums entzog, auch diese poetischen Versuche unterdrückt; ein Prinzip, durch welches wir vielleicht verloren haben, er selbst aber gewiss nicht. Er wusste, wo seine Stärke nicht lag. Von seinen Landsmänninnen sagt er einmal, dass, wenn sie schön sind, sie einen eigentümlichen Reiz besitzen, den man einer geschmückten Prosa vergleichen könne; in diesem Sinne ist seine Muse gleichfalls immer eine schöne Genferin geblieben, auch wenn sie ihre Lieder in der Fremde gelernt hat. Wenn er anderwärts jene kindlich schöne Seele, seinen Fürsten Vitale, die Sonette Tassos ans Ohr halten und ausrufen lässt: o die herrliche Musik da drinnen! so weiß er wohl, dass er mit dieser Betonung des musikalischen Sprachelements beim fremden Poeten der Wirkung seiner Prosa keinen Schaden tut, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit für die eigene Leistung nach dieser Seite schärft. Kraftvolle wohlklingende Diktion ist ganz sein Eigentum; denn wenn er mit Goethe das Bestreben teilt, überall die menschliche Natur in ihrer Aufrichtigkeit und Ursprünglichkeit abzubilden, wenn er es gleichsam als das höchste Gut wie als die einzige Tugend darstellt, immer im Lichte, unserem wahren Sinn gemäß zu kämpfen, so ist diese anscheinende Natürlichkeit bei ihm doch stets das Werk angestrengtester Reflexion und sorgsamster Bearbeitung, nur dass eben die Künstlerhand den mechanischen Apparat mit dem Scheine müheloser Schönheit umkleidet. Er fühlt sich im Besitze des antiken Prinzips, an das er im „Ross des Phidias" sinnig erinnert: „Wie sie Säulen des antiken Tempels in ihrer Neigung zu einander nach einem viel höheren Punkte im Äther gravitieren, als die gotischen Spitzbogen der größten Dome, und so die Seele in leichtestem, unmittelbarstem Aufschwung dem Ewigen entgegenführen, anstatt wie bei letzteren, einem näheren Himmel sichtlich mühevoller zuzustreben." — Für den Kenner freilich liegen die Schwierigkeiten, mit denen er gerungen, zu Tage, und jene Beschreibung, die wir bei ihm von den dürren Stunden des Dichters finden, in denen nichts gelingen will und über die nur die Energie, gleichsam der Wahnsinn verzweifelten Schaffens hinaus hilft, kann nur Selbstbekenntnis sein. Aber die Kontraste locken ihn und er macht seine Dichtung dadurch besonders pikant, dass er das ungeschminkte Naturell seiner Charaktere durch die engsten gesellschaftlichen Formen hin» durchschimmern lässt. Diese letzteren sind ihm allerdings so sehr zur zweiten Natur geworden, dass er selbst seinen niedersten Nebenfiguren, Leibeignen. Kammerjungfern und Dorfgastwirten einen eigentümlichen instinktiv noblen Zug beimischt, der sie in gewissem Sinne salonfähig macht.

Aus seiner Neigung, antike Humanität mit moderner Urbanität zu verbinden, haben wir auch die Vorliebe zu verstehen, die er für die klassischen Dichter der Franzosen beweist. Ein Deutscher kann es freilich nicht ohne Befremden lesen, wenn dieser so vielseitig ästhetisch durchgebildete Autor, nach, dem er die Passion eines seiner Helden für Shakespeares „Hamlet" geschildert, sich, beeilt hinzuzusetzen: „nicht dass er darin mehr Kunst oder Genie gefunden hätte, als im Cid oder Britannicus!" — und muss gegen die Art und Weise, in der er uns die Verkennung und Geringschätzung jener Dichter vorwirft, („unsere“ Klassiker nennt er sie) ernsthaft protestieren. Denn es ist unwahr, dass man dieselben bei uns geflissentlich ignorierte; am allerwenigsten ist es bei Molière der Fall, von dem uns erst kürzlich Graf Baudissin eine vortreffliche neue Übersetzung geschenkt hat, und der soeben wieder durch Humbert, einen Molièrekenner, um den uns Frankreich beneiden darf, eine fast überschwängliche Würdigung erhalten; auch werden diejenigen seiner Stücke, die von bleibendem und allgemeinerem Interesse sind, von den Bühnen gern hervorgesucht; Döring zählte den Tartusse, Dawison den Geizigen zu seinen Glanzrollen, und selbst die „gelehrten Frauen" hat man in Dresden und Prag neulich achtungsvoll aufgenommen. Für Schulen haben wir ganze Molièrechrestomathieen. Was aber die Tragiker anbetrifft, so erscheinen ihre Hauptwerke in immer neuen Abdrücken, und es ist kaum ein Gymnasium, wo nicht wenigstens ein Stück (gewöhnlich die Athalie) gelesen würde. Racines Esther sah Ref. selbst in einer der bekanntesten Erziehungsanstalten Berlins vor wenig Wochen aufgeführt. Dem gegenüber sind wir doch nur berechtigt zu fragen: wann wird es dahin kommen, dass unsere deutschen Klassiker auf französischen Schulen nur in entfernt ähnlicher Weise bekannt werden? und wann wird die französische Bühne mit gleicher Willigkeit gediegenen deutschen Arbeiten ihren Vorhang öffnen? — Das anerkennende Urteil Goethes und Schillers, auf welches Cherbuliez verweist, ist uns, sofern es in jenen Dichtern einen edlen Geist, der immer die Kunst hoch geachtet, und seine sorgfältig geschulten Formen schätzen heißt, nicht fremd geworden, auch wenn unsere Kritik seit Schlegel an manchen ihrer Fehler oft zu kleinlich gemäkelt hat. Wenn aber Herr Cherbuliez es unternimmt, Lessing eine Kritik in die Feder zu diktieren, wie er sie als Philosoph des 19. Jahrhunderts hätte schreiben können und darin diese Dramatiker lobt, dass sie die Tragödie verjüngt, indem sie den Personen des antiken Vorwurfs Geist, Sitte und Anstand ihres Jahrhunderts mitgeteilt, sie gleichsam zu ihren Zeitgenossen gemacht; und indem sie dem Fatum die Politik, den Götterlaunen die allgemeinen Interessen, dem Ringen des Menschen mit dem Schicksal die Kämpfe der Leidenschaft mit den unerbittlichen Gesetzen der Gesellschaft substituiert, wodurch sie die erste moderne geworden, — so ist es ja gerade die Kleinlichkeit dieser Motive im Verhältnis zu jenen gewaltigen Mächten, die Verzopfung der Antike, die Hohlheit der Gesellschaft von Ludwigs des XIV. Gnaden und ihres Anstands, was wir nicht verzeihen und weswegen wir die französische Tragödie nimmermehr als legitime Tochter der antiken anerkennen werden, selbst auf die Gefahr hin, womit er uns droht: den Titel der philosophischen Nation zu verlieren, der übrigens in dem Munde der großen Nation immer nur ein zweideutiges Lob gewesen. Verkehrt ist ebenso, wenn Cherbuliez uns einreden will, Shakespeare sei von Lessing, wo er ihn besonders hervorhebt, meist nur als Werkzeug gegen die Alleinherrschaft der Franzosen gebraucht worden; wäre er der Gott seines Jahrhunderts gewesen, so würde Lessing den großen Briten angegriffen, ihm seine gedrechselten Metaphern, die Witze seiner Clowns, seine Rohheiten, Theatercoups, Totschlägereien, das Auge Glosters, die Fürsten mit dem Lastträgerdialekt, die Bauern, welche im ersten Akt geboren, im fünften gehangen werden, mit Schärfe vorgerückt haben. Es ist leicht antworten, dass der wahrhaft kunstsinnige Kritiker zunächst über Auffassung und Anlage des Kunstwerks entscheidet und die Geißelung solcher Unarten erst da am Platze ist, wo äußerer Prunk ein schiefes oder enges Grundmotiv verdecken soll, oder wo das verfehlte Detail zugleich die Gebrechen der Gesamtauffassung kennzeichnet, wie es den französischen Tragikern so oft passiert. Bei alledem bekennen wir, dass gerade der Aussatz über Lessing trotz dieser dramaturgischen Ungereimtheiten durch die Gründlichkeit, mit der er in die Intentionen unserer deutschen Klassiker einzudringen sucht, und die Aufrichtigkeit, mit welcher er sie ehrt, Anerkennung verdient. Wenn er auch nach einer Richtung die stärkste Opposition hervorruft, so gibt er dafür z. B. in der Darstellung des Theologenstreits evidente neue Wahrheiten, und das ganze Charakterbild ist mit den frischesten Farben gemalt.


In ebenso gediegenen Aufsätzen hat Cherbuliez nach jenem ersten Vorspiel über die Antike, worin er sich mit den Fragen über Eklektizismus, Realismus und Idealismus, Klassik und Romantik auseinandersetzt. 1863 im „Fürsten Vitale", und 1866 im „Grand Oeuvre" seine künstlerischen und geschichts-philosophischen Ansichten weiter entwickelt und zugleich die Tendenz seiner Romane tiefer begründet. Die erstere dieser beiden Schriften gibt eine begeisterte Schilderung der Renaissance als des goldenen Zeitalters, in welchem Religion und Kunst aufs Neue unauflöslich verbunden schienen, da der Gott der Christen den unsterblichen Mächten des Parnasses im gemeinsamen Tempel die Hand reichte und der Großwürdenträger der Kreuzesreligion selbst diese Verbindung segnend eingeweiht. Er zeigt dann, wie durch die überstürzende Ungeduld, mit der die religiöse Umwälzung von reformatorischer wie von antireformatorischer Seite dazwischen trat, jener schöne Bund auf immer gesprengt wurde und wie die neue Lebensgestaltung einem allzu spät geborenen Kinde jener goldenen Zeit, das sich von dem Glauben an sie nicht losreißen konnte, grausam die Leyer zerbrach und das helle Geistesauge umdüsterte, — wie sie noch heut den Edelsten und Besten, die sie in sich neu zu erleben suchen, die Traumgebilde zerreißt.

Die Probleme, welche das wirkliche Leben in dem Gang der Geschichte und den sittlichen Anforderungen der Gegenwart darbot, versucht er im „Stein der Weisen" (Grand Oeuvre) zu erörtern. Hatte er früher mit Vorliebe die Lichtseile des Altertums dargestellt, so zeigt er jetzt, wie dasselbe politisch in dem Prinzip der Sklaverei den Todeskeim in sich nährt, und indem er als den heilsamen Erwerb der Revolution und der siegreich fortschreitenden Arbeit unserer Tage die wachsende Würde persönlicher Freiheit gegenüber dem Staate preist, erinnert er zugleich, wie auch das Mittelalter vermöge des germanischen Prinzips der freien Genossenschaften, das es in beiden Ständen, im ritterlichen wie im städtischen mit dem Christentum verband, den unaufhaltsam sich entfallenden Keim des Fortschritts bis zur Revolution in sich schloss. Seine philosophische Weltanschauung geht von Plato über Spinoza zu Hegel. Überall ist ihm harmonisches Zusammenschauen alles Schönen und dessen Vereinigung zu neuen edlen Gebilden die Basis. Für die Beurteilung alles menschlichen Tuns und Treibens aber behält er das kühle deterministische Prinzip Spinozas, mit dem er die Leidenschaften ohne Unwillen und Eingenommenheit wägt und durch erfahrene Seelendirektoren zügeln lässt. Es ist charakteristisch, dass er auch die katholischen Beichtväter, wo er ihnen heilsamen Einfluss zuschreibt, regelmäßig zu Spinozisten macht. Die Welt unter dieser „Form des Ewigen" zu betrachten ist auch für seine Helden unbedingtes Erfordernis und selbst seine zartesten Frauengestalten wandeln unwillkürlich ihre höchsten geistigen Gefühle nach diesen Formeln sofort zu präzisen Begriffen um. Sofern das Böse nach jener Anschauung keine positive Realität hat, wird auch an der Stichhaltigkeit seiner moralischen Begriffe gezweifelt; materialistisch philosophierende Geister, die er wiederholt einführt, will er nirgend ausdrücklich ganz widerlegen. Aber Frömmigkeit ist ihm ebenso wie es Rückert ausdrückt, „die Lieb' allein zum Schönsten, was es gibt." Aus der neueren Phase der deutschen Philosophie nimmt er den Glauben an eine sittliche Weltordnung zum Dogma, und wenn er mit Hegel alles Wirkliche für vernünftig erklärt und wie dieser die Ethik in die Philosophie der Geschichte auflöst, so ist doch zugleich das Vernünftige in der höchsten Form, in der es sich dem Menschengeiste offenbart, als harmonisches Sein tätig und konsequentes Wollen seine unwandelbare Forderung an jeden, der auf des Lebens Höhen wohnen will. Eine Sittlichkeit aus dunklem Instinkte gibt es bei ihm nicht: „hell sehen und weit schauen" heißt sein Wahlspruch; sowohl dem schwächlich schwankenden als dem ohne klares edles Prinzip starr anstrebenden Willen muss das Lebensziel entschlüpfen. Jenes Ende aller Philosophie aber, „zu wissen, dass wir glauben müssen", drängt sich bei ihm in die optimistische Spitze zusammen, dass wir die tiefsinnigen Denker des Mittelalters, die den Stein der Weisen suchten und in unablässiger ernster Arbeit freilich nicht diesen, aber ein Höheres, nämlich die Wissenschaft fanden, so noch jetzt jedes tüchtige Streben vom Schicksal zu ungeahntem schönen Ziele hinausgeführt wird. Ein Satz, dessen philosophischer Beweis freilich nicht zu Stande gebracht ist, aber wie der Titel jenes Essays scherzend anzudeuten scheint, in den sinnigen Grundzügen, mit denen er hier markiert ist, auch nur als Ferment weiterer Entwicklung dargeboten wird. Dieser günstige „Zufall", mit dem das Schicksal dem Verdienste zu Hilfe zu kommen pflegt, bildet in der Anwendung des Dichters den reizvollsten Zauber seiner Novellen, und nur in diesem Sinne ist es auch zu verstehen und zu verzeihen, wenn er Sadowa einen „Zufall" nennt.

Einer Klassifikation seiner Helden und Heldinnen bietet sich von selbst das oben ausgesprochene antike Prinzip: „Kraft, die sich selbst kennt und beherrscht, Schönheit, die ihrer selbst genieße" als Kriterium dar; es wird bei jenen naturgemäß der Akzent auf die erste, bei diesen auf die zweite Hälfte des Spruches fallen. So ist Gilbert Savile, der Held seines Romans „Graf Kostia" nur darum eine wahrhaft „schöne Seele", weil in ihm die Kraft dargestellt wird, die ganz in sich beschlossen und sich selbst genügend im unverrückten Streben, überall mit Klarheit das Edle zu schaffen, dazu gelangt, wild dämonische Naturen zu bändigen, eine zarte Blume, die für immer geknickt schien, wieder aufzurichten, überhaupt alles, was in ihren Bereich fällt, beherrschend zu beglücken. —

In dem „Roman einer ehrbaren Frau" versucht Ch. sodann, die bloße eiserne Willensstärke und Selbstbeherrschung ohne den sittlichen Halt eines klaren und konsequenten Lebenszieles im Kontrast zu der Schwächlichkeit eines exaltierten Schwärmers zu zeichnen, der sich durch die Leidenschaft des Augenblicks willenlos von Extrem zu Extrem treiben lässt, und Jenen nach einer feurigen Läuterung, die den Helden freilich bis an den Rand der Verzweiflung bringt und doch noch kaum ausreichend erscheint, zum Siege zu führen. — Was hier als tragisches Motiv auftritt, ist dann sofort auch von der komischen Seite gepackt worden: die Karikatur des bloßen starren Wollens ohne vernünftige Erkenntnis seiner selbst und Anderer zeigt im Grand Oeuvre der splenetische Engländer, der sich auf Dezennien voraus seinen Lebenslauf ins Taschenbuch schreibt, aber gerade bei dem Hauptpunkte durch den Missgriff, eine andere Person als sich selbst wie eine Sache mit verrechnet zu haben sehr lächerlich zu Schanden wird; als Relief geht ihm ein Mann von echt besonnener Beschaulichkeit zur Seite. — In „Prosper Randoce" haben wir das interessante Schauspiel, wie ein anscheinend träger und unklarer Charakter dadurch, dass die in ihm schlummernde Kraft den Impuls einer geeigneten Aufgabe erlangt, zu ausdauerndem edlen Schaffen, damit zum Bewusstsein seiner selbst und zugleich zur festen Ergreifung des Glückes, das er sich entfliehen lassen, erweckt wird.

Seinen Frauengestalten ist gemeinsam, dass sie alle sich ihrer Mittel und ihres Werts wohl bewusst sind; die in ingénue, jene märchenhafte Charaktermaske der französischen Komödie, fehlt ihnen so gut wie gänzlich; künstliche Naivität und rührende Sentimentalität findet sich höchstens gelegentlich affektiert von einer mittelalterlichen Peruvianerin, deren verspäteter Leichtsinn freilich ohne entsprechenden Erfolg von ihrer eigenen Tochter bewacht wird. — Je mehr aber bei Cherbuliez die Frauen ihre eigene Würde kennen und die Verehrung, die das Ewig-Weibliche beanspruchen darf, gebieterisch fordern, um so anziehender ist der innere Kampf ihres Herzens, wenn sie es verschenken, mit sich selbst und dem Geliebten. Echte Evatochter, freilich ohne alle Gemütstiefe, ist schon jene kleine eigensinnige Marquise, die sich als neuste Abwechslung ihrer Launen den Kunstenthusiasmus in den Kopf gesetzt und über die Schönheit eines antiken Rosses sich vier Vorlesungen halten lässt, um schließlich zu gestehen, dass es ihr nur um den Reiter zu tun gewesen. Paule Méré ist eine zarte poetische Erscheinung, die in der Prosa und Niedertracht des gemeinen Lebens, der Skandalsucht der ehrbaren Gesellschaft untergeht. Stolz bis zum Übermaß weiß dieses Herz nur einmal zu vertrauen und muss durch den Hauch des Misstrauens für immer gebrochen werden. Wiederum finden wir bei Lucile d'Azado einen Mangel an aller poetischer Schwärmerei, dagegen jenes stille wohltuende Walten über Alles, was ihrer Sorge bedarf; ein sicheres und einfaches Herzensverständnis, eine Größe im Verzeihen, die sie zu einer höchst sympathischen Figur macht. Der Kampf eines weiblichen Herzens, das in seiner Liebe verzeihen möchte und in seinem Stolze nicht verzeihen kann, das erst durch dieses Ringen sich selbst klar wird, gleichwie es den Geliebten sein wahres Selbst erkennen lässt, ist in Isabella von Lestang (freilich bis zu einer nicht mehr erquicklichen Nuancierung) durchgeführt.

Dieser Katalog mag von dem Reichtum der Charaktere des Dichters bei der unveränderten Einfachheit seines Prinzips eine Andeutung geben. Er liebt es, in seinen Romanen nur wenig Personen auftreten zu lassen, aber von diesen bis ins Kleinste ausgeführte Studienköpfe zu zeichnen. Seine Nebenfiguren sind immer sinnig gewählt, oft mit hübschem Humor ausgestattet; sie enthalten stets so viel feine Züge, dass sie selbst, wo man mit der Haupttendenz nicht einverstanden sein kann, einen reichen Vorrat wertvoller Genrebilder hinterlassen.

Unter den Nationalitäten, die er verwendet, erscheint uns am gelungensten die italienische dargestellt, der im Ross des Phidias jene naiv leidenschaftliche junge Künstlernatur angehört, und die dann im Fürsten Vitale in den mannigfaltigsten Typen lebt und webt, von dem betrügerischen Führer, dem borniert-fanatischen Klosterbruder und dem vulgus philogorum, die an den Schätzen des alten Italiens zehren und in unfruchtbaren Streitigkeiten aufgehen, bis zu dem feinen Epikureer Monsignor Spinetta, der wie allen anderen guten Dingen auch den großen Dichtern und Künstlern ohne religiösen Skrupelkram gerecht wird, freilich nur zu kleinlich-realistisch, — bis endlich zu dem fürstlichen Schwärmer, der mit dem Juden sein Mahl teilt und dem kranken Bettler die Stube kehrt, und bei aller Hoheit der Gedanken doch an der Kirche festhält und ihr seine antiken Lieblingsneigungen wenn auch mit Schmerz zum Opfer bringt.

Die slawische Rasse hat der Verf. eingehend studiert. Das Russentum, welches in schlauer Geschmeidigkeit alle Nationen zu verstehen, ihnen die schwache Seite abzugewinnen und dann sie mit dämonischer Despotie zu beherrschen sucht, ist in dem Grafen Kostia und seinem Hofstaat meisterlich beleuchtet. — Während er den mit ritterlichem Anstande gepaarten bon sens fast regelmäßig den Franzosen zuweist, verwendet er englische Charaktere mehr als lustige Personen (im objektiven Sinne); tieferes Studium des englischen Nationalcharakters verrät er jedoch nicht. Besser gelingt ihm das Bild der Lady; so ist in dem Charakterkopf jener getrösteten Witwe Mrs. Simpson und dem Gemisch von sarkastischer Kampflaune und einem herzlichen Gefühl für alles wirkliche Leiden ein Typus erreicht, wie er leibt und lebt. Auffallend, dass alle Bürger Albions bei Cherbuliez stark ausgesprochenem Rationalismus huldigen, einer Richtung, die bekanntlich in der feinen Gesellschaft Englands allem guten Ton zuwiderläuft.

Deutsche Naturen finden wir ausdrücklich fast nur in dem Aufsatz über Lessing geschildert, und auch dort vornehmlich unter dem Gesichtspunkte ihrer literarischen Tätigkeit. Im Romane hat er uns eine einzige Nebenperson, jenen halb gutartigen, halb verschmitzten Doktor Meergraf aus Frankfurt zugeteilt, auf dessen Besitz wir uns nicht viel einzubilden haben. Aber der interessanteste Held, den er geschaffen, Gilbert Savile, besitzt, obgleich er sein Deutsch à la diable ausspricht, doch so viel gutes deutsches Blut, dass er selbst nach dem Urteile des Verfassers wenigstens Lothringer sein musste. Mag er seine weisheitsgraue Jugend, wie sie jetzt in Paris zu Hause, seine rasche Entschlossenheit, die sich mit kühler Selbstbeherrschung und feiner weltmännischer Bildung paart, als französisches Erbteil beanspruchen; diese poetische Seele, die sich auf Jahre mit einem Halbbarbaren auf dem alten Schloss zu einsamen Studien einschließt und für sich nichts begehrt, als in ihren Mußestunden an den eigenen Phantasien in den Zaubergärten goethescher Poesie zu wandeln, dieses sinnige Gemüt, das zu einem jungen Freunde eine wahrhaft Jean-Paulisch romantische Neigung fasst, und später, als ihm statt des Freundes ein liebendes Weib vor Augen steht, ruhiger Fassung bleibt, um erst in der Prüfung eines Jahres zum Bewusstsein der Tiefe seines Gefühls für sie zu gelangen — wer wollte in ihm die deutsche Abkunft verkennen? — Unter den Frauencharakteren steht Lucile d’Azado unserer „züchtigen Hausfrau" in ihrem stillen Walten am nächsten, und das ganze Werk, in welchem sie auftritt, enthält merkwürdig viel deutsche Anklänge. Didier von Peyrols, ein untätig klügelnder Hamletcharakter, der ohne Ambition nur seinen Ideen zu leben wünscht, der sich noch am Hochzeitstage vor dem Bilde seiner Braut höher begeistert als vor dem Original, der mit unzerstörbarer Gutmütigkeit und Sanftmut einem schlimmen Bruder nachgeht, um ihn ins rechte Geleis zu bringen, — das nannte man sonst in Frankreich deutsch. Umso mehr freuen wir uns, dass diese Figur nicht zum Deutschen gemacht ist. Sein Bruder dagegen scheint nach Balzacs boshafter Charakteristik der Deutschem erfunden, „von denen man nie recht wisse, wo die Tiefe des Gefühls aufhöre und die Berechnung anfange"; es ist uns um des Dichters willen lieb, auch diesen Jüngling, der sich übrigens mit vollkommen gallischer Leichtigkeit über seine Ehebrüche und Kulissenabenteuer hinwegsetzt, als Franzosen vorgestellt zu sehen; ein meisterhaftes Charakterbild und eine Warnung vor ähnlich gearteten Künstlernaturen unseres Vaterlandes, die in Leben und Kunst auf der Dissonanz zwischen Überidealismus und krassem Realismus die Schwebe halten, bleibt er immerhin.

Was wir am unliebsten bei Ch. vermissen ist wärmere Würdigung des deutschen Familienlebens in seiner Zwanglosigkeit und Solidität; ebenso dass er bei allem Respekt vor dem arbeitenden Volke die Arbeit selbst fast nur unter den Problemen der geistigen Aristokratie und auch da nur aus der Ferne betrachtet. Vielleicht ist das eine Folge seiner vielgerühmten und in ihrer Art beneidenswerten Unabhängigkeit und Amtlosigkeit. Unseren deutschen Autoren hat es aller Entbehrung zum Trotz doch fast immer zum Vorteil gereicht, wenn sie gezwungen gewesen, wenigstens eine Zeit lang in amtlichem Lebensberufe zu wirken. Die Deutschen sind ohnehin in ihren „moralischen" wie „unmoralischen" Büchern immer darauf ausgegangen, im Namen höherer Gesetze gegen wertlose rezipierte Formen umgestaltend aufzutreten; dagegen müssen wir bei Cherbuliez bedauern, dass, obgleich er gegenüber dem engherzigen Treiben seiner Vaterstadt einen solchen Anflug genommen, er doch dem Codex der großen, speziell der Pariser Gesellschaft unziemliche Konzessionen macht; ja dass er um die Paragraphen desselben gelegentlich einen Nimbus verbreitet, den sie nicht verdienen. In jener Spezialstudie französischer Sitten, welche die Schilderung einer vornehmen Ehe enthält, haben die Franzosen selbst nicht ohne Verstimmung eine Schmeichelei für den Pariser Geschmack gewittert. Wie sollten vollends wir uns für einen Helden erwärmen, der einst ein vollendeter Don Juan, nach seiner Vermählung mit einem schönen und feinsinnigen Wesen zu einem alten Liebesverhältnis zurückkehrt, dann als seine Frau dies entdeckt und mit ihm bricht, stellenweis tiefe Reue zeigt, dann sich aus Verzweiflung neuen Liebesabenteuern ergibt und endlich aus Lebensüberdruss sich für die amerikanischen Südstaaten tot schießen lassen will? — wie für eine Frau, welche beide Balzac'sche Frauentypen, von denen die einen bei den Männern die Heldenkraft, die anderen die Hilfsbedürftigkeit lieben, in sich zu vereinigen scheint, und noch den Tag bevor sie sich nach langem Schmollen mit ihrem Gatten versöhnt, ernstlich Willens ist, mit ihrem seraphischen Anbeter zu flüchten; ja die dann im Epilog von ihrem Beichtvater nur mit freundlichem Lächeln absolviert wird? Die Zeichnung trägt den Stempel historischer Treue; aber diese Art Wahrheit ist doch, mit Platen zu reden, ein fataler Genuss, und wer möchte es den Franzosen verdenken, dass sie nicht gern in diesen Spiegel eines „achtbaren" Mannes und einer „ehrbaren" Frau sehen, zumal wenn ihn ein Fremder, obschon in freundlicher Absicht geschliffen hat? — Sein Bestreben, die Naturkraft der Charaktere innerhalb jener gesellschaftlichen Satzungen zur Geltung zu bringen, zeigt sich noch oft genug als ein missliches, namentlich sind die Rittertaten, durch welche seine Helden zu wirken suchen, meist gar zu kruder Natur. Da entreißt der eine mit Lebensgefahr einer gewaltigen Bulldogge einen Handschuh, ein anderer holt eine Blume vom Rand eines furchtbaren Abgrundes, ein dritter einen Fächer aus dem Käfig eines Wolfes. Eine solche Anekdote findet das erste Mal, wo sie bei Cherbuliez begegnet, eine Art von Entschuldigung; aber in den späteren Fällen erinnern wir uns nur immer entschiedener der alten mit Unrecht von Schiller gestrichenen Zeile: ein rechter Mann muss die Frau, die zu einem solchen Wagstück anreizt, ein weibliches Weib den Mann, der es unaufgefordert unternimmt, von Herzen verachten. Überhaupt ist öfter die Ritterlichkeit gegen die Frauen, sofern sie in Äußerlichkeiten besteht, auf eine Spitze getrieben, gegen die der gesunde Sinn protestieren muss; namentlich wird viel zu viel gekniet. Man ist versucht, selbst das Schicksal in Cherbuliez' Romanen unschicklicher Galanterie anzuklagen. Billig findet bei den Männern die unbeugsame Stärke und Beharrlichkeit, bei den Frauen die zarte hilfsbedürftige Hingebung wahrer Weiblichkeit im Himmel einen Freund, aber dass es auch hier ein Übermaß gibt, zeigt die allzu häufige Anwendung und gleichsam Belobigung ihrer Selbstmordversuche. Den Männern freilich leistet der Selbstmordversuch ebenso wie das Duell die guten Dienste, aus falschen Situationen zu befreien; wie vortrefflich bekommen dagegen den Frauen ihre Selbstmordversuche! Stephanie Kostia, die der Tyrannei ihres Vaters entgehen will, gewinnt auf diese Weise das Mitleid und die treue Freundschaft des späteren Gatten; Paule Méré, die sich ihrer Stiefmutter entziehen möchte, findet ein freundlich Asyl in der englischen Familie; Isabella findet bei einem Priester Trost für ihr häusliches Elend, und so mit Grazie weiter. Dolch und Gift wird in schöner Hand nur spitziger und schärfer, nicht minder die unsittliche Moral, die aus dieser Statistik hervorgeht, dass nämlich das Schicksal die schönen Sünderinnen konsequent belohnt. Auch mit seinen gehäuften Blutszenen und den narkotischen Details der Katastrophen zahlt der Dichter einen Tribut an die gallischen Nervenbedürfnisse seiner Leser, der für uns abgeschmackt ist. — Scheint es aber auch dann und wann, als suchte Cherbuliez in diesen Schwächen seine Stärke, so gibt er uns doch so viel schöne harmonisch abgestimmte Bilder zu genießen und so ehrlichen wissenschaftlichen Kampf zu sehen, dass wir seiner Entwicklung mit der Zuversicht folgen, er werde sich sittlich und poetisch der deutschen Anschauung immer mehr akklimatisieren. Und das ist es, was uns immer wieder mit warmem Interesse für ihn erfüllt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Victor Cherbuliez (1829-1899)
01 Freudeberg, La Soiree d’hiver.

01 Freudeberg, La Soiree d’hiver.

02 Freudeberg, La Promenade du soir.

02 Freudeberg, La Promenade du soir.

03 Freudeberg, Les Confidences.

03 Freudeberg, Les Confidences.

04 Freudeberg, L’Evénement du bal.

04 Freudeberg, L’Evénement du bal.

05 Freudeberg, Le Boudoir.

05 Freudeberg, Le Boudoir.

07 Freudeberg, La Toilette.

07 Freudeberg, La Toilette.

08 Freudeberg, La Visite inattendue.

08 Freudeberg, La Visite inattendue.

09 Freudeberg, Le Coucher.

09 Freudeberg, Le Coucher.

10 Freudeberg, Le Lever.

10 Freudeberg, Le Lever.

11 Freudeberg, Le Bain.

11 Freudeberg, Le Bain.

12 Freudeberg,La Promenade du Matin.

12 Freudeberg,La Promenade du Matin.

13 Moreau, Les Adieux.

13 Moreau, Les Adieux.

14 Moreau, L’Accord parfait.

14 Moreau, L’Accord parfait.

15 Moreau, La Rencontre au bois de Boulogne.

15 Moreau, La Rencontre au bois de Boulogne.

16 Moreau, La Dame du Palais de la Reine.

16 Moreau, La Dame du Palais de la Reine.

17 Moreau, Le Rendezvous pour Marly.

17 Moreau, Le Rendezvous pour Marly.

18 Moreau, Le déclaration de la grossesse.

18 Moreau, Le déclaration de la grossesse.

19 Moreau, N’ayez pas peur, ma bonne amie.

19 Moreau, N’ayez pas peur, ma bonne amie.

20 Moreau, J’en accepte l’heureuse présage.

20 Moreau, J’en accepte l’heureuse présage.

21 Moreau, Les Précautions.

21 Moreau, Les Précautions.

22 Moreau, C’est un fils, Monsieur.

22 Moreau, C’est un fils, Monsieur.

23 Moreau, Les petits parrains.

23 Moreau, Les petits parrains.

24 Moreau, Les délices de la maternité.

24 Moreau, Les délices de la maternité.

25 Moreau, Le Lever du petit maitre.

25 Moreau, Le Lever du petit maitre.

26 Moreau, La petite toilette.

26 Moreau, La petite toilette.

27 Moreau, La grande toilette.

27 Moreau, La grande toilette.

28 Moreau, La course des chevaux.

28 Moreau, La course des chevaux.

29 Moreau, La petite loge.

29 Moreau, La petite loge.

30 Moreau, Le souper fin.

30 Moreau, Le souper fin.

31 Moreau, Oui ou Non.

31 Moreau, Oui ou Non.

32 Moreau, La sortie de l’Opéra.

32 Moreau, La sortie de l’Opéra.

33 Moreau, Le Seigneur chez son fermier.

33 Moreau, Le Seigneur chez son fermier.

34 Moreau, Le pari gagné.

34 Moreau, Le pari gagné.

35 Moreau, La partie de whist.

35 Moreau, La partie de whist.

36 Moreau, Le vrai Bonheur.

36 Moreau, Le vrai Bonheur.

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