Victor Cherbuliez (1829-1899)

Aus: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik Literatur und Kunst. 28. Jahrgang. II. Semester. II. Band
Autor: Redaktion: Die Grenzboten, Erscheinungsjahr: 1869

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Kultur, Literatur, Schriftsteller, Schweiz, Genf,
Inhaltsverzeichnis
„Genf ist die Welt in einer Nuss", — es will scheinen, als ob diese Worte, die Karl Viktor von Bonstetten (1745-1832) gegen Ende des vorigen Jahrhunderts schrieb, sich immer mehr und mehr bewahrheiteten. Ist doch der Genfer je länger je mehr Kosmopolit geworden; in einem Kontingent, wie es schwerlich eine andere Stadt aufweisen wird, sendet es seine Söhne und Töchter in die Familien aller Länder, und nicht geringer ist der Gegenstrom fremder Einzügler. Zu den mannigfaltigen Gattungen derselben kommt in unseren Tagen wohl eine ganz neue: die jungen Helden von Frankfurt, welche um procul militiis leben zu können, ins Land der Winkelriede verstoßen werden. Die Stadt am Leman hat für den Pulsschlag der Fremde gleichsam ein doppeltes Sensorium und es spiegeln sich ja in dem inneren Leben des kleinen Staates die religiösen und sozialen Gegensätze, welche die Welt bewegen, konzentrierter und schärfer als je. Aber gerade in Bonstettens Sinne treffen seine Worte nicht mehr zu. Denn was er hervorheben wollte, war jenes harmonische Zusammenleben und gegenseitige Aufeinanderwirken der geistigen Aristokratie, vor allem der literarischen Größen, die hier residierten und in ihrem Verkehre die Reize der Pariser Geselligkeit, die man in der großen Stadt nur zerstreut zu genießen vermochte, in holderer Enge vereinigten. Diese Eigenschaft musste Genf, je mehr es selbst große Stadt und namentlich Fremdenstadt wurde, verlieren; ganz besonders aber klagen die Genfer selbst über die Zersplitterung ihrer Literatur, deren jetzige Hauptgrößen ihren Schriften bald ein englisches, bald ein französisches, bald ein deutsches Gepräge geben und wesentlich diesen fremden Literaturen angehören, während eine echt heimatliche Färbung, die lokalen Anschauungen und der eigentümliche Humor der Vaterstadt nach dem Dahinscheiden Rodolphe Töpffers (1799-1846) nur noch einmal, bei dem kaustischen Maler Joseph Hornung (1792-1870), den man darum wohl auch den letzten Genfer genannt, hervorgetreten ist.

Indessen genießt zu Genf eine Anzahl von Familien, die dort gleichsam ein geistiges Patriziat zu wahren haben, eines traditionellen Rufs in der literarischen Welt, der sich zugleich auf ihre Verdienste um die Heimat gründet; man gedenke nur der Namen Pictet, Saussure, Candolle. Zu ihnen gehört, wenn auch erst seit einer kürzeren Periode, die Familie Cherbuliez. Noch leben die drei Söhne jenes Abraham Cherbuliez, welcher der Begründer der bedeutendsten Buchhandlung zu Genf wurde: Anton, eine der Hauptstützen jener berühmten juristisch-nationalökonomischen Richtung, der auch Sismondi einst angehörte; Joel, dessen geistvolle Schriften über Genf einen gleichen Sturm von Beifall wie von Widerspruch erregten, endlich André, der älteste, der, nachdem er früher mit einer englischen Familie in Italien und später bei einem russischen Fürsten gelebt, in Genf sich als Geistlicher und später als Professor der altklassischen Literatur einen Namen erwarb.

Erst im Jahre 1860 ist der Sohn dieses Letzteren, Victor Cherbuliez, damals ein Mann von 30 Jahren, mit einer Schrift vor die Öffentlichkeit getreten. Er hatte schöne Lehr- und Wanderjahre durchgemacht. Nachdem er in Genf eine gründliche Vorbildung genossen, war er in Paris zu sprach-wissenschaftlichen und Kunststudien übergegangen, hatte sich später in einem längeren Aufenthalte zu Bonn und Berlin in das Studium der hegelschen Philosophie vertieft, auch in näherem Verkehr mit Schilling gelebt, immer zugleich mit dem Studium der bildenden Kunst beschäftigt und dem Genuss unserer deutschen Musik mit Begeisterung ergeben. Alle noch so vorteilhaften Stellungen, die ihm im Lehrfache angeboten wurden, verschmähend, wendete er die Mittel, die ihm durch eine kleine Erbschaft zufielen, auf eine Reise nach Italien, Kleinasien und Griechenland, um dann, ins Vaterland heimgekehrt, seine schriftstellerische Tätigkeit zu beginnen.

Sein erstes kleines Buch, „Causeries Athéniennes à propos d’un cheval de Phidias " war in Form und Inhalt gleichsam das Programm zu allen nachfolgenden. Es war einem italienischen Grafen gewidmet und machte sich mit Geist als Gründlichkeit an die Lösung eines bedeutenden ästhetischphilosophischen Problems in den Gesprächsformen der höchsten gesellschaftlichen Kreise, indem es den mannigfaltigen Gesichtspunkten der Betrachtung, den philosophischen, kulturhistorischen, poetischen und religions-philosophischen, durch Individuen verschiedener Nationalitäten Gestalt gab. Damit hatte er die Methodik aller seiner Arbeiten gezeichnet. Der Charakter der Antike aber, wie er ihn hier beschreibt: „die Kraft, die sich kennt und beherrscht, die Schönheit, die ihrer selbst genießt", wird als das Beste und Köstlichste auf Erden überhaupt gepriesen und bildet das Grundthema auch seiner modernen Ethik, das er durch seine Schriften in allen Tonarten zu variieren sucht. Der kleine Roman endlich, in dem das Ganze verschlungen war, besagte, dass das Schicksal, wiewohl es allenthalben überraschend und ironisierend eingreift, doch mit dem klaren Streben des Menschen eben so deutlich im Bunde steht, als es dem unklaren den Untergang bringt: auch dies ein Glaubensbekenntnis, dem wir immer wieder begegnen.

Das Buch verleugnete geflissentlich jede schweizerisch partikularistische oder lokale Eigentümlichkeit; es trat vielmehr sofort mit Bewusstsein in die Reihen der französischen Nationalliteratur ein, und das sollte uns billig nicht Wunder nehmen. Geister, deren Phantasie und Erfahrung ein weites Bereich umfasst, haben immer einem großen Ganzen gewidmet, was sie schufen, nur das Gebiet, soweit die heimatliche Zunge klingt, als ihr Vaterland gekannt. Für die französisch Dichtenden aber kommt noch das Dogma hinzu, dass nur in Paris und im Anschluss an seine Weise der mustergültige Ton und Stil gefunden wird. Wir kennen keine solche Zentralisation, aber auch uns erscheint es, seit wir zum Bewusstsein gelangt, welch teures, unvergleichliches Band die Sprache ist, nur als das einzig natürliche, dass ferne Provinzen unter fremdem Zepter, denen ihre deutsche Sprache geblieben ist, auch in allen Richtungen zum Anschluss an das deutsche Wesen drängen.

Was Cherbuliez betrifft, so hatte er zudem ein verlockendes Vorbild. Denn von dem größten aller Genfer, an dem er mit innigster Verehrung hängt, war es ja klar, dass er, auf seine heimatlichen Täler beschränkt, ohne seine Teilnahme an der tonangebenden französischen Literatur und im Wetteifer mit ihren glänzendsten Sternen nie der gewaltige Prophet und Reformator geworden wäre, als den die Nachwelt ihn feiert. Einen Platz in dieser Literatur zu verdienen, hatte denn auch unser Autor durch sorgfältiges Studium angestrebt, und dies verhalf ihm zu einer Würdigung ihrer klassischen Poesie, wie sie selbst in Frankreich nichts Gewöhnliches ist, während wir andrerseits kaum irgend einen Schriftsteller wüssten, dem jene Formen des Pariser Salons für seine Darstellung so unentbehrlich geworden.

Und der Erfolg gab ihm Recht. Sein Buch wurde in den Kreisen, an die es sich vor allen wendet, warm aufgenommen; es eröffnete ihm für sein nächstes Werk den Eintritt in die Revue des deux Mondes, will sagen, die Verbreitung in die ersten Lesekabinette der ganzen Erde. Und nicht genug, dass die Revue nach dem großen Erfolg seines ersten Romans „Graf Kostia“ ohne Ausnahme alle seine Schriften brachte, von denen er seit 1862 jährlich eine in einem kleinen Bande geliefert; sie hat ihm durch einen ihrer besten Kritiker. Emile Montégut, im Bereich ihrer eigenen Blätter noch ein besonderes Denkmal setzen lassen. Darnach ließ auch die gesamte übrige französisch druckende Presse nicht auf sich warten. Sie hat wie in Frankreich, so in Belgien und der Schweiz fast durchgängig seinen Werken das Lob der Meisterschaft gespendet.

In seiner Vaterstadt freilich macht man ihm dauernd zum Vorwurf, wie er trotz seiner Geburt und seiner Familientraditionen weniger Genfer sei, als irgend einer ihrer jetzigen Autoren. Er hat allerdings nur in einer einzigen seiner Schriften ausdrücklich die Scene nach Genf verlegt, und gerade hier hat er bei allen guten Eigenschaften, die er den werten Mitbürgern lässt, im Ganzen doch ein abschreckendes Bild von der Kleinlichkeit und Engherzigkeit des dortigen Honoratiorentums gegeben. Aber das Bild war treu und es konnte in seiner Objektivität nur heilsam wirken. Und dass durch seine Schöpfungen immer noch ein gutes Teil heimatlicher Luft weht, das haben die ächten Franzosen, so warm sie ihm entgegenkamen, doch immer herauszuerkennen gewusst. Ihm selbst entgeht das nicht, wie er denn einen seiner Helden einmal sagen lässt: „Ich glaube wenig an die Macht der Reisen; die Ideen, die unsere Jugend liebend hegte und die ersten Regungen unseres Geistes erfassten, lassen unvertilgbare Spuren in uns zurück; man kann vorübergehende Neigungen haben, aber früher oder später kommt man auf die erste Liebe zurück". So ist bei ihm in der Darstellung oft die wanderlustige, malerische Weise seines Lehrers und Freundes Töpffer unverkennbar, die Natureindrücke, die er an den Ufern des heimatlichen Sees empfing, so mächtig in ihm, saß er den Leser nicht bloß oft ausdrücklich an diese Gestade führt, sondern überhaupt die Katastrophen aller seiner Romane an kleine Orte, an die sich der unmittelbare Verkehr mit einer herrlichen und imposanten Natur knüpft, niemals aber in große Städte verlegt. So ist das kritische Raisonnement, womit der Genfer jedes philosophische Aperçu, jedes religiöse Dogma zu vergegenständlichen sucht, bei ihm besonders wirksam, nur ist es hier erhöht zu der künstlerischen Verbindung von Denken und Schauen, die einst Rousseau zum Meister in der Prosopopöie machte. Vor allem vertritt er die hervorstechendste Eigenschaft seiner Mitbürger, den Kosmopolitismus. Dann, wie in dem Erstlingswerke, bleibt es auch später durchgängig ein Hauptmittel seiner Darstellungskunst, auf den höchsten geistigen Gebieten den Austausch der Ideen durch Personen verschiedener Nationalität zu bewerkstelligen und den Anteil, den ein ganzes Volkstum an der großen Weltarbeit nimmt, anzudeuten. Es ist offenbar, dass Werke von edlem menschlichen Gehalte, denen diese Form gelingt, zu einem wertvollen internationalen Bande werden müssen, und schon das bloße Streben ist der Anerkennung wert. Für uns liegt die Frage am nächsten, in wie weit bei ihm das deutsche Element zur Geltung kommt.

Doppelte Pietät machte ihm dasselbe wert und verständlich. Sein Vater, an dessen Lebensgang er oft zu erinnern scheint, war es gerade, der an der Genfer Universität die Resultate deutscher Wissenschaft besonders begünstigt; sein Erzieher Töpffer hatte mit dem deutschen Namen sich deutsche Gemütsart erhalten und seine eigenen reifsten Studienjahre fallen nach Deutschland. Obgleich das soziale Leben Frankreichs ihm die unverbrüchliche Form darbietet, und seine Leidenschaft für die bildende Kunst Italien ihm zur zweiten Heimat macht, immer vernehmen wir doch in der dichterischen Empfindung und Stimmung seiner Werke den Wiederhall deutscher Musik und Poesie und sehen den Einfluss deutscher Wissenschaft in der gediegenen philologisch-historischen Basis, auf die er seine Essays gründet; auch die philosophische Weltanschauung, die alle seine Gestalten und Motive umschließt und illustriert, ist deutsches Eigentum.

Cherbuliez, Victor (1829-1899) schweizerisch-französischer Schriftsteller

Cherbuliez, Victor (1829-1899) schweizerisch-französischer Schriftsteller

Bonstetten, Karl Victor von (1745-1832) schweizer Schriftsteller

Bonstetten, Karl Victor von (1745-1832) schweizer Schriftsteller

Stadtansicht Genf

Stadtansicht Genf

Genf

Genf

Genfer See und seine Umgebung im Norden 1780

Genfer See und seine Umgebung im Norden 1780

Töpffer, Rodolphe (1799-1846) französich-sprachiger Schweizer Zeichner und Novelist - Selbstporträt

Töpffer, Rodolphe (1799-1846) französich-sprachiger Schweizer Zeichner und Novelist - Selbstporträt

Töpffer, Rodolphe - Denkmal in Genf

Töpffer, Rodolphe - Denkmal in Genf

Hornung, Joseph (1792-1870) schweizer Historienmaler

Hornung, Joseph (1792-1870) schweizer Historienmaler

Paris Blick auf die Dächer der Stadt

Paris Blick auf die Dächer der Stadt

Paris Blick vom Trocadéro

Paris Blick vom Trocadéro

Paris Boulevard

Paris Boulevard

Paris Kähne auf dem Kanal Saint-Martin

Paris Kähne auf dem Kanal Saint-Martin

Paris Kanal Saint-Martin

Paris Kanal Saint-Martin

Paris Notre-Dame 2

Paris Notre-Dame 2

Paris Notre-Dame

Paris Notre-Dame

Paris Omnibus auf dem Pigalle

Paris Omnibus auf dem Pigalle

Paris Place Chlichy

Paris Place Chlichy

Paris Quai Herry IV.

Paris Quai Herry IV.

Paris Rue Neuve Notre Dame

Paris Rue Neuve Notre Dame