Bregenz und Bregenzerwald

Der Horizont erweitert sich ins Endlose. Es ist, als blickte das Auge in eine unermessliche lichtblaue Glasglocke, aus welcher magisch unbestimmte Konturen langsam hervortauchen. Alles ist blau: die Luft, die Ferne. Da zeigt sich im blässeren Blau ein tiefgefärbter, unendlich ausgedehnter Streifen, in welchem goldene Flimmer aufblitzen. Das ist der Bodensee. Wir nähern uns ihm windschnell. Bald rollt der Zug gleichsam mitten hinein ins tiefe, flüssige Element, man sieht kaum den Damm, über den er hinwegsetzt, um die Stadt zu erreichen, die auf einer Insel im Mittagssonnenlicht glänzt. Wir sind in Lindau.

Wir fliegen nur durch. Ein kleiner Dampfer wartet bereits und pustet ungeduldig. Wir nehmen unter dem Zeltdache Platz. Unmittelbar darauf wird die Brücke weggenommen. Und nun geht es zwischen dem monumentalen Löwen und dem netten Leuchtturm hinein in die schimmernde Spiegelfläche des schwäbischen Meeres.


Man muss monatelang quer und krumm durch finstere Gassen umhergewandert sein, um das Glück eines solchen Moments recht zu empfinden. Waldesgrün, Almwiesen, Felsabstürze, schneebedeckte Berghäupter, alles das auf einmal wiederzusehen, nachdem man es gekannt, geliebt und lange vermisst hat, das beglückt, das befreit! Es wiederholt sich in der Menschenbrust gleichsam das Gefühl Adams, wie er zum ersten Male mit staunenden Augen in die gestern geschaffene Gotteswelt blickt. Man hat keine Ruhe mehr, man möchte mitten hineinfliegen und in Wald, Wiese und Schnee toll wie ein Knabe herumspringen.

Der Steuermann hat die Richtung nach Südosten gegeben, wir nähern uns Bregenz. Die Fenster zweier Ungeheuern Gebäude hart am See glänzen im Sonnenschein, dahinter, eine Anhöhe hinaufgebaut, liegt das Stäbchen, von allerlei altem Gemäuer gekrönt; den Hintergrund bilden mächtige, herrlich bewaldete Berge. Seitwärts, von der ernsten, schneebedeckten Alpenkette überragt, dehnt sich die Rheinebene. Es ist ein Bild von unaussprechlicher Pracht. Doch schon steuern wir in den Hafen. Auf dem Molo erblicke ich schon von fern eine mächtige Gestalt, die sich durchaus nicht in der Menge verbergen kann; es winkt ein Tuch — mein lieber Freund Robert Byr erwartet mich. Und schon bin ich der Erste am Ufer.

Ich treffe die Stadt in Aufregung und festlich geschmückt. Es beginnt das Freischießen des vorarlbergschen Schützenaufgebots. Die Häuser sind beflaggt, die Farben aller fünf den See umgebenden Länder flattern in den Lüften. Ich sehe auch ein paar deutsche Banner. Wie auf einem Jahrmarkte haben sich alle Holtei'schen „Vagabunden“ ein Rendezvous gegeben. Ein Zirkus ist aufgeschlagen, unmittelbar gegenüber macht ihm eine Akrobatengesellschaft Konkurrenz. Ein Clown, der auf einer Wange ein Pique-, auf der andern ein Coeur-Aß aufgemalt hat, haranguirt die Menge von der Höhe einer Tribüne, doch seine Worte bleiben fast unverständlich, denn auf der andern Seite setzt sich unter gräulichen Trompetenfanfaren eine Reitergesellschaft in Bewegung, um ihren phantastischen Umzug zu halten. Sie hat ein paar Weiber bei sich, von deren braunen Zigeunergesichten und beinahe schwarzen Händen sich die kurzen, hochaufgebauschten Florkleider und fleischfarbenen Tricots an Armen und Beinen ganz wunderbar abheben. Dass sie unmöglich verführerisch sein können, sehen sie selbst ein und blicken finster und streng. Ein Mohr der schwärzesten Gattung sitzt auf dem hohen Trapez, schaukelt sich nachlässig, beide Anne um die Seile geschlungen, scheint aber weniger darüber nachzudenken, welche Folgen der Sieg der Unionsstaaten für seine Rasse, als vielmehr, welches Ergebnis; dieser Umzug für die Gesellschaftskasse abwerfen werde.

Schaubühnen noch anderer Art sind aufgeschlagen, mit Zwergen, Meerjungfrauen, Riesendamen und Missgeburten, und locken die Menge in ihre Räume. Ich höre von fern eine Ansprache an die Schützen richten und unmittelbar darauf krachen die Böller, die den Beginn des Freischießens kundgeben. Die Musik zahlreicher Schützenkapellen ertönt aus den Wirtshäusern, nun kommt auch eine Prozession mit frommen Liedern von der Höhe daher; das gibt ein Chaos von Tönendem musikalisches Charivari, halb fromm und halb weltlich, wie in einer Meyerbeer'schen Oper, und ich würde mich bei dem Gewühle von Landvolk und Städtern in dem sonst so stillen Bregenz kaum zurechtfinden, wenn ich nicht meinen Führer zur Seite hätte. Arm in Arm mit ihm steige ich durch die gewundenen Gassen in die Höhe, bis zu einem kastellartigen Wohnsitze, dem uralten Hause derer von Deuring, wo ich im freundlichen Familienkreise die herzlichste Aufnahme finde.

Als ich meinen Freund Robert Byr zum letzten Male in Prag sah, trug er den hellblauen, goldverschnürten Attila und einen rasselnden Säbel an der Seite. Er war Husarenrittmeister, hatte eine Reitschule unter sich und lag der Pflicht ob, eine Menge mehr oder minder ungelenker Bengel zu Reitern auszubilden. Er durfte nur ganz nebenher Poet sein. Indes hatte er seit lange schon, eilig, gleichsam im Sattel sitzend, eine ganze Reihe von Bildern aus dem Soldatenleben wie mit farbigen Crayons entworfen und bekannt gegeben. Diese Bilder missfielen dem und jenem seiner Herren Vorgesetzten. Sie ließen ihn ihren Unwillen fühlen, einen Unwillen, den sein Stolz nicht ertrug. Unabhängig gestellt, nahm er seinen Abschied.

So war der Freund lange verschwunden. Ich wusste nur, dass er, Zerstreuung und Ablenkung von traurigen Gedanken suchend, seit Monaten im Alpenlande umherstreife. Da erhalte ich plötzlich einen Brief aus Bregenz mit nur folgenden Worten:

„Seit drei Monaten hier — Fahrt im Boot — Sturm — Lebensrettung — Liebeserklärung — Verlobung — in vier Wochen Hochzeit.“

Damit waren allerdings in Kurzem die Kapitelüberschriften eines Romans gegeben, damit ich mir ihn nach Belieben weiter ausmale, aber sein Verlauf konnte doch so oder anders gedacht werden. Nun, es ist Alles zum Besten gegangen, und kann ich von einem Menschen, der zu allem Andern noch eine liebenswürdige Frau zur Seite hat, denken, er sei vollkommen glücklich, so ist es Byr, der Autor der „Österreichischen Garnisonen“. Dabei möchte ich ihn auch den bestsituierten deutschen Schriftsteller nennen, schon darum, weil er aus seinem Fenster eine Aussicht genießt, wie kein anderer Poet in sämtlichen deutschen Vaterländern. Er kann, ohne sich zu wenden, von seinem Schreibtisch durchs Fenster in fünf Staaten blicken.

Dem Gebhardsberg, zu welchem ein bequemer Weg hinaufführt, gilt am Abend meiner Ankunft, nachdem sich die Schwüle des Tages gemindert, mein erster Besuch. Innerhalb der Ruinen des alten Montfort'schen Schlosses Pfannenberg hat sich eine Gastwirtschaft aufgetan. Welcher Blick vom Altan auf das Rheintal und die Kette des Säntis! Sie glüht im Purpur. Doch schon will die untergehende Sonne in den Seespiegel tauchen. Dieser glüht wie geschmolzenes Gold; breite, vom glühenden Rot ins prachtvollste Orange verlaufende Flächen rollen sich auf und breiten sich aus, noch weiterhin blitzt es wie mit großen goldhellen Augen aus dem Wasser. Es ist die prächtigste der Phantasmagorien! Dass auf dieser Seite die Sonnenscheibe voll und ganz unmittelbar in den See zu tauchen scheint, das ist, was dieses Ufer vor allen mir bekannten auszeichnet.

Tags darauf ist in Bregenz Alles wieder still. Ich sitze in dem kleinen, aber wunderschönen Garten in einer Laube, an welcher die Hand des Freundes dichte Zweige des Rosenstocks hinangezogen. Unten erhebt sich terrassenförmig der weitgedehnte Weingarten. Der süße resedenähnliche Duft der blühenden Rebe würzt die Luft, Die Flinten- und Böllerschüsse auf der Schießstätte, deren Scheiben im See stehen, sind verstummt, denn es ist eben Mittag. Auf Büchsenschussweite von mir liegt in einem grünen Grunde das Nonnenkloster Thalbach; unmittelbar darüber erhebt sich der schöne alte Turm der Pfarrkirche; nur wenige Schritte davon, auf einer andern Anhöhe, steht — welches Übermaß von Erbauungsmitteln! — abermals eine Kirche. Dass sie einem Kapuzinerkloster angehöre, sagt die Windfahne, die nicht etwa einen Hahn oder einen Pfeil, sondern einen Bruder Kapuziner vorstellt. Die Glocken unter demselben läuten eben jetzt wie zu allen Tageszeiten. Sie begannen schon um halb vier Uhr, und ich fragte, mich im Bette umwendend, was denn die frommen Fratres schon so früh trieben und ob denn der Tag nicht zum Beten ausreiche, dass sie einen ermüdeten Touristen noch in der besten Schlummerzeit aufstörten? Endlich schweigen die Glocken. Welche Stille umher! Welcher Frieden! Welche Schönheit! Weiße Segel beleben die azurne Fläche, und die Dampfschiffe ziehen horizontale Rauchstreifen von einem User zum andern. Da sehe ich jenseits des Sees ein lichtes weißes Wölkchen sich am Gelände gegen Lindau hinabschlängeln. Es ist der Eilzug, mit welchem ich gestern gekommen. Ich sehe ihm nach, froh, dass ich nicht mit ihm weiter muss.

Das Panorama des Gebhardsberges wiederholt sich in weit großartigerem Maßstabe von der Spitze des Pfänder. Es ist zum Verwundern, dass dieser Aussichtspunkt, welcher ohne Anstrengung in zwei Stunden erstiegen werden kann und mit den schönsten im deutschen Alpenlande rivalisiert, nicht zahlreichere Besucher findet. Man übersieht die ganze weite Rheintalebene und eine ganze Kette schneebedeckter Berge: Schweizer-, Tiroler- und Algäuer-Alpen. Lindau auf seiner Insel, wie ein kleines Venedig, liegt so täuschend nahe; man meint, man könne einen Stein hineinwerfen. In seiner blauen Bucht erscheint Langenargen, wo der verstorbene König von Württemberg eine großartige Villa erbauen ließ; das rasch emporblühende Friedrichshafen ist im blauen Dufte sichtbar; ein gutes Auge erblickt sogar die alte Konzilstadt Konstanz unheimlichen Andenkens mit ihrem Münster und der neuen Rheinbrücke. Dort ragt der Hohentwyl, wohin Viktor Scheffel seine schöne Ekkehardssage verlegte. Drüben auf Schweizerufer Romanshorn und Rohrschach und all die kleinen Niederlassungen, die den See auf dieser Seite umsäumen. Zu ihnen gehen, von ihnen kommen rastlos eilende Dampfer, Symbole und Zeugen regen Warenverkehrs. Wie der Blick auf all diese wohlhabenden Städte, diese emporblühenden Fabriken, diese Villen und Dampfer das Gemüt ergreift! Welch Ungeheuern Schritt aus der Rohheit und Wildheit, aus der Geistesnacht und der Barbarei hat die Welt seit jenem Tage gemacht, an welchem aus dem Winkel dort der Wind die Asche Hussens in den See trieb!

Ein seltsamer Zufall hat es gefügt, dass um den See herum sich allerlei exilierte, vertriebene und abgedankte Souveräne angesiedelt haben. Wie das Auge mit dem Fernrohr herumspäht, sieht es diese Asyle wie zu einem Rendezvous zusammengerückt. Bei Lindau in einer kleinen Villa wohnt der jüngere Großherzog von Toskana, der auch bereits regiert hat; davor liegt seine kleine Flottille vor Anker, denn der Prinz ist ein großer Schifffahrer, dessen Hauptvergnügen es ist, durch Wind und Wetter zu steuern. Unweit davon, in der Villa des Prinzen Luitpold, wohnt dessen Gemahlin, eine Prinzessin von Modena. Drüben, auf Schweizerseite, auf der Bahnlinie von Rohrschach nach Chur, steht Schloss Wartegg, das bis zu ihrem Tode der Aufenthalt der verwitweten Herzogin von Parma war. So hat die Neugestaltung der Dinge in Italien allerlei Fürstlichkeiten hierher geschleudert; der Mann aber, der diese Neugestaltung hervorgerufen, hat seine Wohnung am Bodensee längst aufgegeben, der Bürger von Salenstein wohnt in den Tuilerien.

Läge der Pfänder in der Schweiz, hier stände gewiss ein großartiges Hotel. Wie es nun eben ist, nimmt ein Wirtshaus bescheidenster Art uns auf. Ein Schweizer hat achtzehntausend Francs für das kleine Besitztum geboten; der Eigentümer hat sie nicht angenommen, man riet ihm davon ab. Dem Abraten lag die Furcht zu Grunde, noch mehr Protestanten im Lande zu sehen.

                                                II.

Mir war so wohl im alten Kastell derer von Deuring, im Gartenzimmer, wo die alten Holzschnitte hingen, und unter dem großen Nussbaum, dass ich kaum ins Städtchen hinabkam. Höchstens streifte ich es, wenn wir nachmittags eine Spazierfahrt im Kahn vorhatten. Da ketteten wir das Boot los, stellten, je nachdem der Wind war, Segel auf oder griffen nach dem Ruder, und pfeilschnell ging es dann die mächtig hinansteigenden, nussbaumbewaldeten Ufer entlang, bis wir vor irgend einem an der Chaussee gelegenen Wirtshause anlegten, um dort den Sonnenuntergang zur Rückfahrt abzuwarten.
Endlich sollte doch ein Ausflug in den Bregenzerwald unternommen werden.

Über uns lacht ein goldener Morgen. Wir schreiten den leuchtenden Gebirgen zu. Auf den Feldern arbeiten schon Leute, die Wiesen sind hell betaut, da blühen Millionen Blumen. Die Vögel schießen durch die Luft, jagen von Busch zu Busch, als spielten sie Fangen und Verstecken, Wir kommen nach Schwarzach, nach Alberschwende; das sind nette, reinliche Dörfer. Man sieht große Wohlhabenheit. Viele Häuser haben zwei Stockwerke, Viehhaus und Nebengebäude, die Giebelbalken gehen in Rossköpfe aus, nicht selten steht oben ein Kreuz. Bald mutet es den Wanderer an, als befände er sich im weltverlassensten Hochgebirge. Weithin gedehnte Nadelwälder umfangen ihn, er hört nur dann und wann das Rauschen der Wasser, das Klappern einer Schleif- oder Sagemühle, den Schlag des Beils. Hin und wieder vernimmt man den wehmütigen Pfiff des Geiers.

Die Sonne hat fast die Mittagshöhe erstiegen. Ein kurzes Steigen über die „Loreine“, auf deren Abhang allenthalben die blauen Genzianen aus hohem Grase herausschauen, und es öffnet sich dem Blick eine ungeheure Fernsicht über Matte und Wald. Schwarzenberg liegt in der Tiefe, ein friedliches Dorf mit einem Kirchlein in der Mitte. Die Sonne brütet fast senkrecht über dem Tal, die Schatten sind kurz, fast nicht vorhanden, die Fichtenwälder starren empor, in der Ferne stehen im Halbkreise mächtige Gebirge, teilweise noch mit ihrem Winterkleid von Schnee. Das Bild ist so schön, wir müssen laut aufjauchzen , unser Führer stimmt mit echt tirolischem „Juchezer“ ein; so eilen wir den Berg hinunter.

Hier, in diesem weltfernen Erdenfleck, haben die Musen ein Kind in der Wiege geküsst, hier wurde Angelika Kaufmann geboren, vielleicht das interessanteste weibliche Talent, das je den Pinsel geführt. Im Dorfe angelangt, trete ich in die Kirche, wo Arbeiter auf einem Gerüst beschäftigt sind, und sehe mir ihre Marmorbüste an.

Mich interessiert Angelika Kaufmann. Im Zimmer, das ich als Knabe bewohnte, hing eine ganze Reihe ältlicher englischer Kupferstiche, ihre Zeichnungen zur „Odyssee“. Wie oft stieg ich auf Kanapee und Stühle, um sie recht genau zu betrachten! Die gute Mutter nannte mir jede Figur, wer der Prinz Telemach sei, wer die Prinzessin Nausikaa, wer Ulysses und wer Penelope; ich wusste auch, dass der Hund Argus heiße. Diese Bilder gefielen mir ganz außerordentlich und ich habe noch jedes klar im Gedächtnis.

Später sah ich Angelikas Bild, von Mengs gemalt, und noch weit später las ich von ihren wunderlichen Schicksalen. Die Tochter des bischöflichen Hofmalers in Chur, in Italien früh zu Ruhm und Ehren gelangt, war sie nach England gekommen. Sie malte die Töchter Georgs II. Ein reicher Mann bot ihr Hand und Vermögen, erhielt einen Korb von ihr und rächte sich furchtbar, in ähnlicher Weise, wie in Diderots Erzählung sich Madame de la Pommeraye rächt. Ein schöner junger Mensch, doch einer aus der Hefe Londons, wurde in den Stand gesetzt, sich in Angelikas Hause zu zeigen und sich um die Künstlerin zu bewerben. Er gefiel ihr, sie heiratete ihn; nach der Trauung entdeckte der verschmähte Bewerber Angelika, welchem Verworfenen sie angetraut sei. Die Ehe wurde geschieden, Angelika kehrte nach Rom zurück, wo sie sich wieder verm?hlte. Als bald darauf der zweite Gatte starb, sah man sie bis an ihr Ende nur für die Kunst leben. Canova hat 1807 ihren Leichenzug angeordnet.

Nach einem frugalen Mittagsmahl im Wirtshause zu Schwarzenberg eilen wir weiter. Unser Weg führt über eine romantische Brücke auf eine neue Chaussee, welche die Verbindung im Walde vermittelt.

Wir kommen an einzelnen Häuschen vorbei; obwohl ganz aus Holz, sind sie doch schmuck und nett, die Wände gegen die Wetterseite hin mit gerundeten Schindeln beschlagen. Die vielen und breiten Fenster lassen viel Licht ins Innere fallen; selbst die ärmsten Hütten haben weiße Vorhänge. Vor dem Hause liegt zumeist ein kleiner Garten mit Obstbäumen, dazwischen blühen Rosen und Malven; auch Bienenstöcke sieht man häufig. Wir blicken durch ein halboffenes Fenster in eine niedrige Stube. Da sitzen Frauen und Mädchen am runden Stickrahmen, die Tambourirnadel in der feinen Hand, die keine Bauernarbeit und kaum ein anderes Geschäft der Haushaltung verunstaltet hat. Ihr Teint ist zart. Die Arbeit, die sie liefern, wandert in alle Welt. Dieser Tüll, dieser Mussein mit der merkwürdig bunten Blumenzeichnung gehört für den grellen Geschmack des südlichen Amerika. Unter dem glühenden Himmel der Tropen, in der brasilianischen oder mexikanischen Azienda trägt die Gemahlin des Plantagenbesitzers das Kleid, vom deutschen Waldkind in der Kühle und im Dämmerlicht gestickt. Die Schweiz ist es meist, welche diese Bestellungen macht. Nordamerika, früher der beste Boden für diese Industrie, hat seit dem Kriege beinahe aufgehört, ein Absatzort zu sein.

Da kommen schöne Kinder uns entgegen, deren Teint so zart wie der der Städterinnen, mit dunklen Augen, in einer eigentümlichen, aber kleidsamen Tracht. Sie haben feingefaltete, schwarze, glänzende Leinwandkleider über den grünen, rotgeränderten Unterrock aufgeschürzt; ein Lederriemen, die Schnalle nach rückwärts, umfasst die zierliche Taille; die Brust umschließt ein festes, in Gold und Silber gesticktes Mieder, in welches bunte seidene Ärmel eingenäht sind, wodurch eine kleine Abwechselung in die sonst uniforme Tracht gebracht wird. Auf dem Kopfe sitzt eine dunkle Wollmütze, die mich in ihrer Form an den Hut chinesischer Mandarine erinnert und die dennoch nicht unkleidsam ist, wenn ein allerliebstes Gesichtchen darunter hervorlächelt und freundlich grüßt. Es sind Stickerinnen.

Unwillkürlich bleibe ich vor einem offenen Fenster stehen, an welchem ein zartes, schönes Mädchengesicht mich fesselt. Ich blicke in ein Zimmer, licht, reinlich und einfach, wie das Zimmer Gretchens.

„Sind das schöne Rosen“, rufe ich, mit einem Blick auf den Stickrahmen, „fast so schön wie die im Garten.“

„Passiert“, erwidert das Mädchen, das sich rasch in diese Situation findet, indem es freundlich lächelnd aufblickt; „aber mehr Mühe koschte sie mir, wie dem lieben Herrgott.“

„So einen Schatz wollt' ich haben, der so schön sticken kann!“ sage ich und fasse nach dem Händchen.

„Wem ich was sticke, der muss es redlich mit mir meinen.“

„Und sollte ich das nicht? Ich komme aus dem Lande der braven Leute, die es mit den Mädchen gut meinen.“

„Wem ich was sticke, der muss mir's Brautschäppele dafür schenken“, entgegnete schelmisch das schöne Kind, und ich musste mich entfernen, das „Brautschäppele“ konnte ich ihr unmöglich versprechen! Halte ich ja nicht einmal einen klaren Begriff, was für ein Ding damit gemeint sei. Später habe ich erfahren, dass es das Krönlein ist, das die Jungfrau vor dem Traualtar trägt.

Gegen Abend waren wir in Bezau, einem weitgestreckten Dorfe mit hölzernen Häusern und steinbeschwerten Dächern, dem Hauptorte des Bezirks, angelangt und stärkten uns im Wirtshause zum Engel. Da die geringe Zeche unsere Verwunderung erregte, wir aber keinen Anlass geben wollten, dass die Wirtin bei später kommenden Touristen von ihren Rechnungsgewohnheiten abgehe, wechselten wir ein paar Worte französisch, „Vous avez raison. Il ne faut pas trop éclairer les gens!“ hebt plötzlich zu unserm größten Erstaunen ein alter Bursche an, der bei einem Gläsel Branntwein uns gegenübersitzt. Wir fragen ihn, wo er Französisch gelernt habe.

„Ach Gott!“ erwiderte er, „ich bin aus dem Montafun, fünf Stunden von hier, und da reden alle Leute französisch.“

Neues Erstaunen von meiner Seite, doch der Alte erklärt mir schon, wie sich das verhalte. Die jungen Leute in Montafun sind vorwiegend Maurer und Krautschneider. Die ersteren brechen im Frühjahre auf und wandern in den Elsaß, wo sie reichliche Arbeit finden. Dabei begleiten sie ihre Mädchen, die ihnen den Reisebusch auf den Hut gesteckt, und tragen, einer alten, rührenden Sitte gemäß, ihre Ranzen bis an die Grenze des Gebiets. Im Winter, meist erst gegen Weihnachten, wo der Frost dem Bauen ein Ende macht, kehren sie, wie auch die im Herbste ausgewanderten Krautschneider, die das deutsche Sauerkraut gehobelt und eingestampft, in die Heimat zurück. Viele bringen das hirschlederne Beutelchen voll blanker Napoleons heim.

Des Abends waren wir in Reute. Es ist dies ein kleines Frauenbad in großartiger, düsterer Umgebung und eine gar eigentümliche Welt.

Dreißig bis vierzig Frauen, manche jung, manche in den Mittlern Jahren, manche blass wie Todesbräute, trinken das eisenhaltige Wasser, baden, spazieren im Tale, denn sie leiden alle mehr oder minder an Herzklopfen. Das Erscheinen eines Mannes in dieser Kolonie ist ein Ereignis, das mit scheuer Unruhe betrachtet wird. „Im Frauenbad“, das wäre meines Erachtens ein ganz hübscher Titel für ein Lustspiel, das mit dem Titel zugleich gegeben ist. Der Doktor, um welchen Alles kreist, dem aber jetzt nicht mehr wie einst Wunderkuren gelingen, der erwartete Assistent, der endlich eintrifft, und ein ganzer Chor von Damen, unter denen nun ein Krieg ausbricht — das gäbe ein Lustspiel in halb Aristophanischem Geiste.

Gegen Einbruch der Nacht sind wir wieder in Bezau. Eine große Stube, in welcher vier Betten stehen, wird uns als Nachtquartier angewiesen. Sogleich macht sich der Freund daran, die Bettstellen zu messen, und wieder stellt sich das Missgeschick heraus, das er so oft im Leben erfahren. Der Tischler, der diese Betten baute, hat nur den sogenannten Normalmenschen im Auge gehabt, die Statur des Freundes geht aber über dessen Maß weit hinaus. Er hat beinahe den Wuchs des Mannes von Gath und könnte wie dieser einen Speer schwingen, stark wie ein Webebaum. Nur ein breites Gestell aus festem Eichenholz kann es mit dieser Last aufnehmen. Es bleibt ihm nichts übrig, als Strohsack und Matratze herauszunehmen und auf dem Boden Platz zu nehmen. Endlich löschen wir das Licht, das Mondlicht blickt durchs Fenster, da wird nebenan die Stube geöffnet, zwei Personen trappen mit eisenbeschlagenen Schuhen umher. Es sind zwei Engländer, Vater und Sohn; die dünnen Holzwände lassen uns jedes Wort, das sie sprechen, deutlich vernehmen. Endlich gehen auch sie zu Bett, der Vater aber lässt sich noch ein Kapitel aus der Bibel vorlesen und uns wird die Erbauung zu Teil, die ganze Geschichte vom Paradiese anhören zu müssen. Tief ärgerlich können wir nicht umhin, sie mit Kommentaren zu begleiten, bis uns der Schlaf die Lästermäuler schließt.

                                                III.

Am andern Morgen machte ein wolkenbruchartiger Regen unserm Ausflug ein Ende. Statt, wie wir es im Sinne gehabt, über den Schröcken ins Allgäu hinüberzuwandern, nahmen wir Plätze im Stellwagen und kehrten nach Bregenz zurück.

Tags darauf hatte ich die Stadt und das freundliche Vorarlberg verlassen.

Einige Reflexionen sind unabweisbar. Der Eindruck, den man von diesem Lande mit fortnimmt, ist ein höchst poetischer, aber es schlummert, und wo ist der Zauberstab, der es zum Leben erweckt? So viel Wasserkraft vertost in der Einsamkeit, so wenig Produkte finden den Weg nach auswärts. Der Bretterhandel ist bedeutend, Butter und Käse gehen bis Köln und Berlin, man sieht keine Armut, aber es fehlt bei aller industriellen Tätigkeit der hin und her verstreuten Fabriken der behäbige Eindruck des Wohlstandes, der in der Schweiz dem Reisenden allenthalben entgegentritt. Die Schweizer haben auf die unwegbarsten Gebirgsgrate prächtige Pensionen hingesetzt, wo ganze Kolonien von Fremden und Einheimischen die Sommerfrische genießen; in Bregenz finden sich während des ganzen Sommers kaum vierzig Familien zu einem längern Aufenthalte zusammen. Die Touristen kommen, besteigen den Gebhardsberg und eilen abends weiter. Die übrigen um den Bodensee liegenden Länder stehen im regsten Verkehr unter einander, Gesellschaftszüge von Turnern und Sängern fallen bald hier, bald dort ein und bringen Leben in die Orte; hier, am schönsten Punkte des Sees, gibt es nichts dergleichen; die österreichische Passförmlichkeit lässt dergleichen nicht aufkommen. Und was hat die Regierung für das Land getan? Sie hat zwei riesige Kasernen, jede groß genug, ein ganzes Regiment aufzunehmen, ans Ufer hingebaut, sie müssen Millionen gekostet haben. Aber in fortifikatorischer Beziehung sind sie unnütz, und sie stehen auch seit ihrer Erbauung leer; was brauchte man Militär im friedlichen Vorarlberg? Drei andere Kasernen stehen gleichfalls leer. Wozu also sind die neuen da? Wohl nur, um den Uferstaaten und allen Vorbeireisenden zu verkünden, dass Österreich für militärische Zwecke stets Überfluss an Geld habe!

Noch vor einem Jahrhunderte war Bregenz die wichtigste Stadt am Bodensee, jetzt ist es von Lindau und Konstanz weit überflügelt. Ebenso hat Vorarlberg als Ländchen mit den übrigen Uferstaaten nicht Schritt gehalten. Es ist eben eine fern hinaus gerückte Provinz, deren man sich in der Reichshauptstadt kaum erinnert. Zur Eisenbahn, die es mit Innsbruck, mit Lindau, mit der Schweiz verbinden soll, ist nicht einmal ein Spatenstich in Aussicht. So viele Schiffe den Verkehr auf dem Bodensee vermitteln, Österreich allein besitzt keinen Dampfer, österreichisch ist nur der eine Kahn, den ich im Hafen liegen sah und auf welchem die Finanzwache ihre nächtlichen Streifzüge unternimmt. Der Geist der Intoleranz, der Tirol so hässlich entstellt, herrscht in Vorarlberg im Ganzen genommen nicht mehr. Protestanten sitzen im Gemeinderat, sie haben eine schöne Kirche gebaut, die weithin über den See sichtbar ist, fast wie ein Wahrzeichen. Durch das ganze Land zieht im Vergleich mit dem mittelalterlichen Tirol ein freierer Geist, und dennoch, welche verschiedenen Stufen der Entwickelung dies- und jenseits jenes schmalen Wasserstreifens, der Vorarlberg von der Schweiz scheidet — dies- und jenseits des Altvaters Rhein! Bei aller Ähnlichkeit im Wesen und im Charakter der Bewohner, welche Verschiedenheit! Möge der Bann bald gehoben werden, der noch immer auf dieser Provinz lastet und sie verhindert, der schönen Zukunft, für die sie unleugbar prädestiniert erscheint, rascher entgegenzugehen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterwegs. Reisebilder