XV. Studentenleben.

Risk, Robert K. America at College as seen by a Scots Graduate. Glasgow, 1908. — Hill, George B. Harvard College by an Oxonian, New York, 1906. — Baird, William R. Manual of American College Fraternities, 6 th edition, New York, 1905. — Canfield, James H. The College Student and his Problems. New York, 1902. — Birdseye, Clarence F. Individual Training in our Colleges. New York, 1907 (Fraternities Chap. XXXVI f.).

Ein Fremder, der an Göttingen und Oxford gewöhnt ist, wird sich, so bemerkt Mr. Hill in seinem Buche „Harvard College“, bei dem ersten Besuch einer amerikanischen Universität wundern, wo in aller Welt die Studenten sind. Weder die keck auf einem Ohr sitzende Korpsmütze oder die unvermeidliche Kollegienmappe des Göttinger Studenten, noch der schwarze Talar oder die auffällige Weste des Oxforders finden hier ihr Gegenstück. Dem geübten Beobachter macht hier und da ein Exemplar ungewöhnlich voluminöser Beinkleider den Studenten, oder ein Hut von eigentümlicher Farbe und Größe einen Sophomore oder Junior eines westlichen Colleges kenntlich. Der Fremde würde eine Menge junger Leute auf den Bürgersteigen auf und ab und durch die Tore aus und ein gehen sehen, die sich benehmen und aussehen ganz wie andere junge Leute, ohne die gewichtige Miene einer großen Mission und ohne das Aussehen oder die Kleidung einer besonderen Gesellschaftsklasse. Sie benehmen sich nicht, als ob ihnen die Stadt „mit allem, was drinnen ist“, gehörte und sie damit schalten und walten könnten, wie es sie gelüstet. Sie sind fast zu prosaisch in ihrem ganzen Auftreten. Innerhalb und außerhalb der Pforten des Instituts stehen sie unter den Verordnungen der Polizei wie jeder andere Sterbliche, und wenn sie auch manchmal bei der Feier eines Fußballsieges durch die Straßen paradieren oder sich zusammenrotten, ein Theater mit Beschlag belegen imd mit den Erträgen des Gartens und des Hühnerhofes gegen einen unbeliebten Schauspieler „demonstrieren“, so tun sie es, wie andere junge Leute es auch tun würden, und das Publikum andererseits erwartet, daß sie durch dasselbe Gerichtsverfahren in dasselbe Gefängnis wandern, denselben Obolus hinterlegen wie andere Sterbliche. Hier gibt es keine englischen Proktoren, die in den Straßen auf Delinquenten Jagd machen, und keine Torhüter, die mit Argusaugen über die Rückkehr zu den heimischen Penaten wachen. Es kommt wohl vor, daß in den College-Dormitorien ein in dem Gebäude residierender „tutor“ gelegentlich einige zarte Andeutungen über zu viele nächtliche Konvivien und zu starkes Lärmen fallen läßt, aber in den Instituten, die wie die Staats-Universitäten es den Studenten überlassen, sich ein Unterkommen selbst zu suchen, sind diese denselben Einschränkungen und demselben Zwange unterworfen, wie ihre Mitbürger, nämlich der gewöhnlichen Respektierung der Rechte des lieben Nächsten, mit Rücksicht auf einen guten Ruf oder schließlich auf die Hüter des Gesetzes.


Alles das betrifft nur das Verhältnis der Studenten zu der Gemeinde außerhalb der Universität; in dem inneren Leben der Universität selbst aber liegen in dem Verhältnis der Studenten zu ihren Instruktoren und in dem Verhältnis zu einander zahlreiche Möglichkeiten zu Korrektiv-Maßnahmen. Darüber sind einige besondere Worte am Platze.

Der junge Amerikaner ist in viel höherem Maße als sein europäisches Gegenstück gewöhnt, seinen eigenen Weg zu gehen, seine eigene Wahl zu treffen und sein Leben selbst zu gestalten. Weder zu Hause noch in der Schule ist ihm in gleichem Maße wie dem europäischen Knaben anerzogen worden, formale Autorität anzuerkennen, die Staatsgewalt zu respektieren oder dem Alten und Ehrwürdigen Ehrfurcht entgegenzubringen. Der amerikanische Knabe wird, und aus gutem Grunde, von der ganzen zivilisierten Welt mit Furcht und Schrecken betrachtet. Kein Wunder, daß ein Sohn Albions von ihm sagte:*) „There is little beauty in him, that we should desire him,“ Ob nun die Ursache hierfür darin liegt, daß der amerikanische Vater so vollständig in seinen Geschäften aufgeht, daß er die dringend nötigen Abstrafungen schwächeren und zarteren Händen überlassen muß, oder in einem demokratischen Gefühl, das eine Genugtuung darin findet, ein Individuum frei und unbehindert sich vor aller Welt entwickeln und betätigen zu sehen, oder in sonst etwas: die Tatsache ist da und ihr läßt sich nur durch ernsthafte Behandlung beikommen. Die junge Amerikanerin ist in ihrer Art gerade so individuell, verhältnismäßig nach meiner Meinung sogar in höherem Maße, und man muß die Ehrerbietung des Amerikaners der Frau gegenüber mit in Anrechnung bringen, wenn man die Entwicklung des „Musterknaben“ verstehen will. Das Selbstbewußtsein (self-assertion) der Amerikanerin, dem Professor Münsterberg ein dreißig Seiten langes Kapitel in seinem Buche „The Americans“ widmete, entspringt dem Freimut und der Selbständigkeit des amerikanischen Mädchens.

*) Findlay Muirhead, St. James Gazette.

Der Durchschnittsstudent tritt in die Universität ein, ohne irgend welche bestimmte Idee zu haben, was er tun will; er kommt vielmehr aus dem schönen, althergebrachten Grunde, weil er geschickt worden ist. Es ist klar, daß unter diesen Umständen die Ordnung im Institut wohl kaum durch bloße Proklamation einer Autorität ohne die Unterstützung schweren Geschützes aufrecht erhalten werden könnte. Und doch ist meiner Meinung nach in den meisten Instituten die Ordnung in der Universitätsgemeinde eine mustergültige. Ausnahmefälle sind immer direkt darauf zurückzuführen, daß Maßregeln fehlen, die dem natürlichen Gefühl des Studenten für die Quelle und Sanktion der akademischen Autorität angepaßt sind. Willkürliche Edikte einer von außen kommenden Macht wird der Student früher oder später übel aufnehmen und sich ihnen widersetzen, aber den Entscheidungen der aus dem inneren Geiste sich ergebenden Autorität wird er folgen und gehorchen und zwar mit einer Geduld und Willfährigkeit, die man sich nicht hat träumen lassen. Muirhead in seinem Buche „America the Land of Contrasts“ spricht von „einer gewissen mysteriösen chemischen Zusammensetzung der amerikanischen Atmosphäre“ oder „einer Art von moralischem Wunder“, durch das diese anarchischen Knaben und Mädchen sich in die ordnungatmende Tätigkeit ihres Gemeindelebens fügen. Es handelt sich hier durchaus um kein Mysterium, sondern alles beruht darauf, daß der eigenen Selbstentwicklung als eines ,,law that is within them“, die in der Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt, volle Freiheit gelassen ist. Das ist mehr oder weniger in allen Universitäten die Grundlage, wenn auch die Nutzanwendung sehr verschieden ist. Die Haupt-Charakteristika des Systems, das während der letzten fünf Jahre in der Universität von Kalifornien voll und in den vier vorhergehenden Jahren teilweise in Gebrauch war, sind die folgenden:

1. Das System hat sich allmählich entwickelt und ist bisher noch nicht in geschriebenen Gesetzen, Regeln oder Kontrakten festgelegt worden, sondern lebte in der Handhabung allgemein verstandener und durch den Brauch festgelegter Maßregeln.

2. Die Disziplinargewalt über die Studenten lag früher in den Händen eines Lehrerkomitees für „Student Affairs“. Jetzt besteht ein „Undergraduate Comittee on Student Affairs“, dem das Lehrerkomitee, ohne daß irgend ein bestimmtes Übereinkommen darüber im voraus getroffen worden wäre, alle gesetzwidrigen Handlungen und Übertretungen zur Untersuchung und Berichterstattung überweist. Das Lehrerkomitee hat in den letzten zwei Jahren keine regelrechte Sitzung abgehalten, da der Bericht des Studentenkomitees durch den Vorsitzenden des Lehrerkomitees direkt ans Lehrerkollegium ging und von diesem ohne weiteres bestätigt wurde.

3. Gemeinsame Beratungen der Studenten und des Lehrerkollegiums werden nicht abgehalten; kein Vertreter des Lehrerkollegiums sitzt in dem Studentenkomitee. Was den Studenten anvertraut ist, ist ihnen auch ohne Vorbehalt und Reserve anvertraut. Dies ist der Schlüssel zu dem Erfolg, den das System gefunden hat. Erst als die Studenten sich durch die Erfahrung einiger Jahre vollständig überzeugt hatten, daß die Verantwortlichkeit ohne jeden Rückhalt auf ihre Schultern gelegt war, erfreute sich das Verfahren ihres ungeteilten Vertrauens.

4. Die Fälle, die vor das Studentenkomitee kommen, betreffen alle Arten von Zusammenstößen zwischen einzelnen oder mehreren Studenten, jede Unordnung oder Störung und alles unehrenhafte und unziemliche Betragen im Unterricht und den Lehrern gegenüber. Unehrlichkeit im Examen gehört zu den häufiger vorkommenden Fällen und wird jetzt allgemein als ein Vergehen gegen die Rechte der anderen Studenten angesehen. Die traditionellen Klassenreibereien, besonders die zwischen den Studenten des ersten und zweiten Jahres, sind alle eine nach der andern auf dem gütlichen Wege des Vergleiches und durch Annahme von Substituten beseitigt worden.

5. Das Studentenkomitee erhält seine Autorität in erster Linie von der Organisation der ganzen Studentenkörperschaft, unter dem Namen „Associated Students“ bekannt, die jährlich als ihren offiziellen Leiter und Vertreter einen Präsidenten wählt. Er ernennt das Komitee aus den angesehensten Leuten der Seniorenklasse. Die öffentliche Meinung unter den Studenten, der er verantwortlich ist, erwartet von ihm die größte Sorgfalt in der Wahl dieses Komitees, das ja die wichtigsten Interessen der Studenten in Händen hat.

6. Alle studentischen Angelegenheiten werden ohne jeden Rückhalt in einer wöchentlichen Massenversammlung der Seniorenklasse diskutiert, die in einem besonders zu diesem Zwecke errichteten, im Weichbilde der Universität belegenen Gebäude oder Klubhaus, „Seniorhall“, abgehalten werden. Der Präsident der Studenten und die Vorsitzenden seiner Hauptkomitees, die eine Art von Kabinett bilden, haben über ihre Ansichten und Absichten Rede und Antwort zu stehen. Wenn die Seniorenklasse irgend eine neue und bedeutende Änderung im studentischen Brauch und Herkommen in Vorschlag bringen will, z. B. in Sportangelegenheiten, dann beruft sie eine Massenversammlung der ganzen Studentenschaft ein, erklärt und verteidigt ihren Vorschlag und bittet um dessen Bestätigung.

7. Auf Vorschlag dieses „undergraduate comittee on Student affairs“ werden Übertretungen durch einen privaten oder öffentlichen Verweis des Präsidenten der Universität, durch Annullierung von „credits“, die der Betreffende für Kurse empfangen, durch das „consilium abeundi“ (being put on probation), oder sogar durch Suspendierung oder Relegation bestraft. Unter diesem Verfahren sind Untersuchungen geführt worden, die für ein Lehrerkomitee unmöglich gewesen wären, da nach der ethischen Auffassung der Studenten keiner dem Lehrer gegenüber belastende Aussagen gegen einen anderen machen soll. Im Falle leichter Vergehen gegen die Regeln des Instituts aus Unkenntnis wird das Komitee von der Tatsache unterrichtet und es entscheidet nach entsprechender Untersuchung, so daß einer Wiederholung vorgebeugt wird. Damit ist die Sache abgetan. Das Komitee fungiert demnach nicht allein als Verwaltungs-, sondern auch als Gerichts- und Untersuchungsausschuß. Die Durchführbarkeit des Systems zeigt sich am besten in seinem Erfolge, besonders ist seine Wirkung darin erkennbar, daß es Ehrlichkeit im Examen von dem Studenten als Ehrensache erwartet.*) Auf einen besonderen „College spirit“ legt der heutige Student großes Gewicht, was gerade in dieser Verbindung nicht übersehen werden darf. Es besteht in einer enthusiastischen Loyalität dem Institut gegenüber und findet in gröberer und unverhüllterer Form seinen lautesten Ausdruck bei den zwischen den einzelnen Instituten jährlich ausgefochtenen Wettkämpfen in der Athletik (Wettrennen, Wetturnen und Ballspiele).

*) Weitere Abhandlungen über dieses System sind zu finden in den Aufsätzen von Farnham P. Griffith, International Journal of Ethiks 1905; Warren Cheney, Sunset Magazine 1908; Edwin E. Slosson, The Independent, May 6th, 1909.

Seinem College zu helfen, auf Wunsch durch aktive Beteiligung beim Ballspiel, entweder dadurch, daß man ihm willig seine Zeit opfert und seine gesunden Gliedmaßen riskiert, oder daß man den Spielen regelmäßig beiwohnt, seine Partei durch kräftige Beifallrufe ermutigt, den Siegern zujauchzt, den Besiegten die Wunden verbindet, — das ist die gewöhnlichste äußere und hörbare Betätigung dieses Korpsgeistes, der natürlich noch sonst seinen vergeistigteren Ausdruck findet: durch Sorge für den guten Namen des College, Stolz auf seine Ideale und sein Wachstum, Zusammenwirken in seinen Unternehmungen und später in dem Alumnenstatus durch Rat und Unterstützung in moralischer wie finanzieller Hinsicht, durch Mühe und Opfer aller Art.

Bei den „undergraduates“ gehört zum Beweis dieses „College spirit“ ein loyales und unbedenkliches Annehmen der Entscheidungen der Majorität, ein freudiges Sich-fügen in die Edikte der öffentlichen Meinung unter den Studenten, und ein kraftvolles und kordiales Zusammenarbeiten bei den Unternehmungen der Studentenschaft, sei es im Sport, bei Bällen oder beim Herausgeben von Zeitungen. Ein „kicker“ (Nörgler), „knocker“ (Knurrpeter) zu heißen oder als „sourballed“ erachtet zu werden, ist äußerste Verdammnis.

So scheint es denn doch trotz alledem ein Gesetz zu geben — wenn auch nicht ein auf Sinais heiliger Höhe gemeißeltes — , auf das diese Gelbschnäbel hören, und eine Autorität, der sie sich beugen; und nirgends habe ich ein in seinen Forderungen und Anwendungen gebietenderes Gesetz gefunden.

Eins der Hauptargumente zugunsten der jüngsten außer allem Verhältnis stehenden Entwicklung des sportlichen Wettbewerbs zwischen den Colleges ist die Behauptung, er erzeuge „esprit de corps“. Aber dies hat nur Berechtigung, wenn auch neben der nur zum Zwecke der Schaustellung veranstalteten Ausübung auch andere allgemeinere Vorteile für den einzelnen Studenten sich ergeben. Werfen wir einen Blick auf ein Fußballspiel z. B. von Yale gegen Princeton. Dreißig bis vierzig tausend Menschen sind in einem hölzernen Amphitheater versammelt. Jeder hat für seinen Sitz zwei bis fünf Dollars bezahlt, Stehplätze in den Aufgängen und an den Zäunen kosten je einen Dollar. Tausende, die zu spät gekommen und jetzt die Eingänge belagern, würden gern für einen Platz den doppelten Preis bezahlen. Auf der einen Seite des Amphitheaters ist ein Meer von Dunkelblau, der Farbe Yales; blau ist die vorherrschende Farbe der Damenhüte, blau sind die Blumensträuße, blau die Bänderdekorationen, die von Männern sowohl wie Frauen getragen werden, blau die wehenden Wimpel. Auf der anderen Seite ist alles orange-gelb und schwarz von den Farben Princetons. Auf den mittleren Plätzen jeder Seite sitzen gedrängt die „Musensöhne“, die Yales auf der einen, die Princetons auf der anderen Seite, jeder einzige von ihnen ein Blasebalg mit Stimmbändern, alle bereit, auf den Wink und nach dem Takte der Armbewegungen des „yell-leaders“ in jenes große „concentus virtutum“ einzustimmen, das in majestätischem „teamwork“ (unisono“) ihrer Loyalität zur Wissenschaft und zu ihrem College Ausdruck verleiht.

Yales Ruf lautet: Brekkekekkéx-Koáx-Koáx ! Yale!
Cornells: Cornéll-I-yéll; — yell-yéll — Cornéll.
Berkeleys: Óski wow-wow; wíski-wee-wee, Óly-múcki-eye; óly-Bérkeley-eye Califórnia — W?e — !

Unten in der Arena stoßen, schieben und trampeln zweiundzwanzig Menschen aufeinander; denn das moderne Fußballspiel ist sehr treffend das Spiel, in dem „man den Ball trägt und sich gegenseitig die Schienbeine einstößt“ genannt worden. Diese Spieler sind seit wenigstens zwei Monaten für dieses Ereignis gedrillt worden und haben an wenig anderes gedacht. Sie sind von Leuten trainiert, die ein Gehalt größer als das irgend eines Professors bezogen, sie sind mit Speisen regaliert worden, wie sie nur der Markt und ein guter Koch liefern konnte. Uniformen und Ausstattungen wurden für sie angeschafft ohne Rücksicht auf die Kosten, sie konnten in Sonderzügen mit Speisewagen reisen; alles stand zu ihrer Verfügung, was aus den ungeheuren Kasseneinnahmen beschafft werden konnte. Sie sind in den Augen der zweitausend Kameraden die angebeteten Helden der Saison, und sollten sie gewinnen, so werden ihre Namen einer dankbaren Nachwelt als Wohltäter ihres College und Vorbilder der Menschheit überliefert. Als gewaltige Schaustellung und prunkende Festlichkeit kann dies wohl mit den Gladiatorenkämpfen Roms oder den Stierkämpfen Madrids wetteifern, aber seine Verbindung mit dem Leib und Seele stärkenden Element des Sports oder den verfeinernden Einflüssen einer guten Erziehung ist kaum noch zu bemerken. Nur ein kleiner Prozentsatz der Studenten nimmt an dieser Leibesübung teil, und diese Teilnehmer werden Spezialisten in Athletik und Gladiatoren.

Lassen wir aber das nur als Schaustellung zu wertende Element des „intercollegiate“Wettbewerbs außer Berechnung, so müssen wir doch zugeben, daß unsere Erfahrungen mit dem Sport günstige gewesen sind, — sogar mit den rauheren und ungeschlachteren Sportsübungen. Sie tragen zur Gesundheit und einem moralisch reinen Lebenswandel bei; sie veranlassen den jungen Mann, aus sich herauszugehen, gewöhnen ihn an harte Püffe, unterdrücken Übellaunigkeit und lehren ihn, gute Miene zum bösen Spiele zu machen. Sie sind besser für die Charakterbildung als Turnen und andere körperliche Übungen; es ist besser. Mann gegen Mann zu stellen, anstatt ihm Hanteln in die Hand zu drücken.

Abhilfe für die jetzt so häufigen Ausschreitungen im athletischen Sport ist in der Abschaffung oder starken Beschränkung ihres „intercollegiate“-Charakters und einer umfangreichen Pflege der Formen gegeben, an denen alle, und besonders die, die dessen am meisten bedürfen, teilnehmen können. Darauf hinausgehende Bewegungen treten in allen unseren Colleges jetzt zutage.

Ein Charakteristikum amerikanischen Studentenbrauches, das man bis vor kurzem als jugendliche Spielerei unbeachtet ließ, hat sich in den letzten Jahren zu großer Bedeutung entwickelt und kann nicht ignoriert werden, wenn man nicht einen besonders eigenartigen Faktor studentischer Verwaltung und Erziehung übergehen will; ich meine die „Greek letter fraternities“. Ein interessanter Aufsatz darüber steht in Birdseye's „Individual Training in our Colleges“ Kap. XXVII-XXVIII und eine Aufzählung und Beschreibung in Baird's „Manual of American College Fraternities“ (6. Auflage 1905). Aus rohen und knabenhaften Anfängen im dritten und vierten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts haben sie allmähhch große Bedeutung erlangt und eine allgemein anerkannte hohe Stellung in der Collegeverwaltung eingenommen, da sie ein Bedürfnis nach geselliger Gruppierung der Studenten befriedigten. In ihrer jetzigen Gestalt ist eine „fraternity“ eine Gesellschaft, die in den verschiedenen Colleges durch sogenannte „Zweigvereine“, „chapters“, vertreten ist und mit einer bestimmten Kombination griechischer Buchstaben bezeichnet wird, die angeblich die ganzen Worte eines griechischen Geheimmottos ersetzen. Einige dieser Namen sind: Kappa Alpha, Sigma Phi, Alpha Delta Phi, Delta Kappa Epsilon, Psi Upsilon etc. Die Mitglieder eines Zweigvereins, 18—25 an der Zahl, wohnen in einem „chapter“-Hause zusammen, pflegen enge gesellige Beziehungen, unterwerfen sich gewissen Verordnungen, die durch das gemeinsame Interesse und die gemeinsamen Ziele des Ganzen diktiert sind, und beobachten gewöhnlich über das Ritual ihrer Versammlungen strengstes Geheimnis. Die Mitglieder tragen ein kleines, häufig mit Juwelen besetztes Abzeichen auf ihrer Weste. Es existieren jetzt im ganzen ungefähr 33 solcher fraternities des „intercollegiate“-Typus und 17 Frauen-„fraternities“ (oder sororities), mit ungefähr jetzt lebenden 250.000 Mitgliedern, graduiert und aktiv. Sie verteilen sich auf 1.240 „chapters“, von denen über 900 entweder „chapter“-Häuser bewohnen oder besitzen.

Das ursprüngliche Vorbild aller dieser ist die berühmte Phi Beta Kappa-Vereinigung, die 1776 in Williams and Mary College als geheime Verbindung mit geselligen und literarischen Zwecken gegründet wurde, aber schon seit langem in eine „honour society“ umgebildet ist, deren Mitgliedschaft eine Belohnung und Anerkennung für vorzügliche Leistungen bedeutet und deren weitere Betätigungen fast ganz und gar auf die Veranstaltung eines jährlichen Diners und einer alle ein oder zwei Jahre stattfindenden Ansprache in den verschiedenen Colleges beschränkt sind; ihr charakteristisches Abzeichen, ein hängender Uhrschlüssel, wird jedoch weit und breit und mit Freuden getragen.

Das gegenwärtige „fraternity“System wurde im Union College (Schenectady) N. Y. begründet, als 1825 Kappa Alpha und 1827 Sigma Phi entstanden, oder besser gesagt, als Sigma Phi im Jahre 1831 einen Zweigverein in dem unweit in demselben Staate liegenden Hamilton College anlegte. Im nächsten Jahre wurde Alpha Delta Phi zu Hamilton als eine rivalisierende Vereinigung errichtet und legte bald Zweigvereine in anderen Colleges an, bis es innerhalb eines Jahrzehntes elf „chapters“ hatte: Columbia, Yale, Amherst, Brown, Harvard etc. 1850 bestanden schon 16 der jetzigen „fraternities“. Die ersten entstanden sonderbarerweise aus dem Wirbelwind jener gesellschaftlichen und politischen Aufregung, die der angeblichen Entführung William Morgans im Jahre 1826 folgte, der behauptete, die Geheimnisse der Freimaurerei preisgegeben zu haben. Opposition gegen alle Geheimbünde machte man eine Zeitlang zum Partei- und Glaubensgesetz und das Wohl und Wehe vieler in der Öffentlichkeit stehender Männer wurde dadurch besiegelt. Über 3.000 im ganzen Lande verstreute Freimaurerlogen gingen aus diesem Grunde ein. Die Phi Beta Kappa-Vereinigung wurde unter Androhung der Aufhebung gezwungen, die wenigen Geheimnisse, die sie besaß, aufzugeben und wurde, was sie jetzt noch ist, eine offene, in ihrer Farblosigkeit außerordentlich respektable Gesellschaft. Der neue, in den dreißiger Jahren geschaffene Typus der „Greek letter fraternities“ empfängt seine Färbung und zweifellos viel von seiner Intensität von dem Widerstände und der versuchten Unterdrückung, welche die früheren „chapters“ ultra-geheim und leidenschafthch loyal machten. „Das Blut der Märtyrer ist die Saat der Kirche“. Vorher hatte jedes College gewöhnlich zwei „debating societies“ gehabt, berühmt und berüchtigt wegen ihrer stürmischen und lärmenden Sitzungen und großsprecherischen Nomenklatur. Philatethean, Erosophian, Linonian sind so einige Beispiele. Allmählich unterminierten und verdrängten die „fraternities“ diese Klubs, so daß sie 1870 schon verschwunden waren, außer in Princeton, wo die fraternities erfolgreichen Widerstand fanden; die beiden dortigen Gesellschaften, Cliosophic und Whig, sind als Denksteine und Rudimente einer früheren Epoche übrig geblieben. Aber sogar in Princeton, wo die „fraternities“ unterdrückt wurden, sind unabhängige Klubs an ihrer Stelle entstanden, als ob sie den geselligen Instinkt, den diese Körperschaften repräsentieren, zur Geltung bringen wollten. Vor kurzem machte der Präsident von Princeton einen Vorschlag, der viel diskutiert worden ist, nämlich diese Klubs in dem College-Schulhof unterzubringen und sie zum Kern eines Collegesystems zu machen, das dem englischen nicht unähnlich ist.

In den „fraternities“ sind heute nicht nur ,,undergraduates“ Mitglieder. Ihre Alumnen bezeugen großes Interesse daran und erhalten besonders durch sie eine lebhafte Verbindung mit dem College aufrecht. Wenn ein Graduierter zu seinem College zurückkommt oder wenn er meinetwegen irgend ein anderes College besucht, begibt er sich in den meisten Fällen zuerst nach dem „chapter“-Hause seiner „fraternity“. Auf diese Weise knüpft er die ersten gesellschaftlichen Verbindungen an. Nicht allein die allgemeinen Interessen der verschiedenen „chapters“ stehen besonders in allen finanziellen Fragen unter der Oberaufsicht der Graduierten, sondern in einem höheren Maße sogar die Zentralleitung. Die „fraternity“ wird auf diese Weise ein Band zwischen den Graduierten der verschiedenen Colleges und in New York z. B. haben eine Anzahl „fraternities“ Klubs von außerordentlich guter Qualität und eleganter Ausstattung.

In Colleges von der Größe und der Art von Williams und Amherst sind die meisten der Studenten Mitglieder einer oder der anderen „fraternity“. Die Dormitorien zu Amherst sind meistenteils von den „Freshmen“ bewohnt; auch einige Sophomores residieren dort; aber über 90% der Senioren wohnen in den „chapter“-Häusern.

Die „fraternities“ haben auch ihre Schattenseiten. Sie sind früher häufig Treibhäuser für Vornehmtuerei und gelegentlich auch für lockere Sitten, Trägheit und Ausschweifungen gewesen, aber seit die Collegeverwaltung sich dazu veranlaßt sah, sie als unvermeidlich anzuerkennen, und sei es auch als leider unumgängliches Übel, und seit sie selbst herausgefunden haben, wie ihre „amour propre“ zur Ordnung und zu Zwecken der Erziehung verwandt werden kann und wie durch wirkliche und ernste Betätigung, z. B. durch Besorgung von Heimstätten für ihre Mitglieder, ihr Wert für das öffentliche Leben gewachsen ist, haben sie sich als von größerem Nutzen als Schaden erwiesen. Seitdem die Colleges solch ungeheure Dimensionen angenommen haben, hat sich der Mangel einer Einrichtung, die die Stelle des englischen College als Heim, Unterkunft und gesellschaftlicher Faktor ausfüllen könnte, schmerzlich fühlbar gemacht; es mag sein, daß die „fratemity“ noch einmal diese Bedürfnisse befriedigt. Wie dem auch sei, sie liefert in ihrer bisherigen Geschichte ein schönes Beispiel dafür, vde eine für irgend einen trivialen Zweck ins Leben gerufene Einrichtung unversehens Glück haben und sich selbst, in der Erfüllung einer großen Pflicht, zu Ansehen und Achtung bringen kann.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterricht und Demokratie in Amerika