Todleben, Franz Eduard Graf von (1818-1884) kaiserlich russischer Feldherr und Generaladjutant. Biographie

Allgemeine Deutsche Biographie Bd 38 (1894)
Autor: Oettingen, M. v., Erscheinungsjahr: 1894
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Todleben: Graf Franz Eduard T., kaiserlich russischer Feldherr und Generaladjutant, geboren am 8./20. Mai 1818 zu Mitau, † am 19. Juni (1. Juli) 1884 in Bad Soden. Unter den zahlreichen Männern deutscher Herkunft, welche sich unsterbliche Verdienste um den russischen Staat erworben haben, gebührt Todleben ein besonders hervorragender Platz. Die bedeutendsten Erfolge der russischen Waffen in den beiden letzten mit den Türken, dem „Erbfeind“ russischer Nation geführten Kriege sind mit diesem deutschen Namen verknüpft. Sein Vater Johann Heinrich Todleben betrieb in Mitau ein kaufmännisches Geschäft. Bald nach der Geburt dieses, unter sieben Geschwistern fünften Kindes, verlegten die Eltern Geschäft und Wohnsitz nach Riga, wo die später von dem ältesten Sohnes Karl Heinrich vertretene Firma „J. H. Todleben“ zu den geachtetsten zählte. Ihren Ursprung leiten die Todlebens von einem Adelsgeschlecht Thüringens her. Die Familienpapiere geben keine Auskunft darüber, was einzelne Sprösslinge dieses Geschlechtes im 18. Jahrhundert zur Auswanderung nach Russland bewog, sondern lassen nur erkennen, daß sich der Großvater des nachmaligen Grafen in den Ostseeprovinzen niederließ.

Nach Beendigung de häuslichen Unterrichts besuchte Todleben in Riga die Privatschule des Dr. Hüttel, deren Schüler für die höheren Klassen des Gymnasiums, wie für den Eintritt in das praktische Leben vorbereitet wurden. Doch er sollte nicht mit dem großen Strom in einer dieser beiden Lebensrichtungen ausmünden, sondern einen eigenen, seinen frühzeitig sich zeigenden Neigungen entsprechenden Weg wandeln. Es zeugt von seiner Beobachtungsgabe des Vaters, daß er aus den bei Knaben so allgemein üblichen Kriegsspielen, denen der Sohn Eduard sich mit großem Eifer hingab, zu erkennen vermochte, daß es sich hier um eine spezifische Begabung, um ein technisch-militärisches Talent handele, welches auf des Knaben künftigen Lebensberuf hinweise. Mag es auch richtig sein, daß, wie berichtet wird, die von Todleben namentlich auf Collins Höfchen, wo die Familie den Sommer zu verbringen pflegte, erbauten Festungen mit ihren Brustwehren, Gräben und Zugbrücken nach den Regeln der Ingenieurkunst hergestellt waren, und daß er als Führer der Angreifer oder Verteidiger in seinen Anordnungen einen ausgeprägten militärischen Sinn verraten habe, so gebührt dem Vater doch Anerkennung dafür, daß er nicht allein des Sohnes Fähigkeiten richtig zu schätzen, sondern auch die Wege zu deren Ausbildung zu ebenen wusste, indem er ihn in die Ingenieurschule zu St. Petersburg eintreten ließ. Das war nicht ohne Schwierigkeiten zu ermöglichen. Vor allen Dingen galt es den bisher in deutscher Sprache unterrichteten Knaben tüchtig russisch lernen zu lassen, dann aber auch dessen Aufnahme in die Schule zu erwirken. Hierzu bedurfte es einer Standeserhöhung, der Vater musste, was mit nicht geringen Mühen und Geldopfern verbunden war, den Titel eines erblichen Ehrenbürgers erwerben. Die Hindernisse wurden überwunden, im Jahre 1831 brachte Johann Heinrich Todleben seinen noch nicht 14jährigen Sohn nach St. Petersburg und im Herbst 1882 fand derselbe, nachdem er vom Ingenieurkapitän Kirpitschow dazu vorbereitet worden war, in die dritte Classe der erwähnten Anstalt Aufnahme. Hier mag einer Begegnung Erwähnung geschehen, welche später von besonderer Bedeutung für Todleben sein sollte. Als sich Vater und Sohn von einander auf der Petersburger Poststation verabschiedeten, war der Bankier Hauff zufälliger Zeuge der Szene; gerührt von des Knaben Trennungsschmerz, bat er um die Erlaubnis, denselben an Feiertagen zu sich laden und ihm sonst behilflich sein zu dürfen. Die freundliche Aufnahme, die dem Ingenieurschüler in dem Hauff’schen Hause wurde, fand ihren schönen Ausdruck in der am 23. Februar 1853 erfolgten Vermählung des Garde-Ingenieurkapitäns Todleben mit des Hausherrn Tochter, der Baronesse Victorine Hauff. Die Ingenieurschule hat Todleben nicht beendet; auf Anraten der Ärzte, die bei ihm das Entstehen eines Herzübels befürchteten, wurde er im Jahre 1836 als Fähnrich nach Riga kommandiert. Hier erholte er sich zwar so weit; daß er nach einigen Monaten zur Fortsetzung seiner Studien in die Offiziersklasse wieder eintreten konnte, doch bald zeigten sich die Krankheitszufälle abermals und brachten es mit sich, daß er an den Kursen der höheren Offiziersklassen sich zu beteiligen verhindert, im Jahre 1838 mit dem Range eines Secondlieutenants aus der Anstalt entlassen und dem Rigaschen Ingenieurkommando als dejourirender Offizier zugewiesen wurde. Diese Stellung, deren Aufgaben sich auf Remontearbeiten beschränkten, konnte den regen, nach umfassender militärischer Tätigkeit sich sehnenden Geist des jungen Offiziers nicht befriedigen und veranlasste ihn, wegen seiner Überführung zu den Gardesappeuren einzukommen. Dieser Wunsch fand allerdings keine Erfüllung, wohl aber wurde Todleben in das bei Dünaburg befindliche Sappeurbataillon des Grenadiercorps und bereits im Jahre 1840 in das Übungs-Sappeurbataillon nach Zarskoje-Sselo versetzt, wo er bald die Aufmerksamkeit des Generalmajors Schilder auf sich zog, eines genialen Ingenieurs, der sowohl auf die weitere militärische Ausbildung des künftigen Verteidigers von Sebastopol, als auch auf den äußeren Lebensgang des jugendlichen Freundes von großem Einfluss gewesen ist. In der Umgebung von Petersburg, wie später auch bei Kiew, wurden auf Befehl des Kaisers Nikolaus ausgedehnte Versuche mit dem von General Schilder erfundenen Röhrenminiersystem gemacht, die für Todleben als ein praktischer Vorbereitungskursus für die ihm von der Vorsehung zugewiesenen späteren Aufgaben bezeichnet werden können. Mit großem Eifer studierte er auf diese Weise den Minierkrieg, konstruierte einen verbesserten Erdbohrer und erwarb sich die Anerkennung seiner Vorgesetzten, welche in zwei Ordensauszeichnungen und in der Beförderung zum Stabskapitän (1847) ihren Ausdruck fand. Der Minenbohrer war offenbar dazu bestimmt, Todleben auf seiner militärischen Laufbahn zu geleiten. Mit ihm hat er sie begonnen, mit ihm sie beendet.

Im Jahre 1848 wurde er in den Kaukasus beordert, um seine Minierkunst in Daghestan an den Bergfesten Schamyl’s zu erproben. Zwei Jahre währte der kaukasische Aufenthalt, während dessen er, dem Fürsten Argurinski-Dolgorukow zukommandiert, sich mehrfach auszuzeichnen Gelegenheit fand, so daß er zum Kapitän befördert, mit dem goldenen Säbel für Tapferkeit und dem St. Wladimirorden 4. Classe belohnt, heimkehrte. Nach Wiederherstellung seiner durch den Feldzug angegriffenen Gesundheit wurde er von dem inzwischen nach Warschau versetzten Schilder dahin berufen und zum Adjutanten ernannt. Indessen bereits im folgenden Jahre (1852) erfolgte seine Versetzung zu den Gardeingenieuren nach Petersburg, wo er sich theoretischen Studien hingab und zugleich die Arbeiten der Gardesappeure im Lager zu Peterhof leitete. Als zwei Jahre später der russisch-türkische Krieg ausbrach und Fürst Gortschakow den Generaladjutanten Schilder mit der Leitung der Geniearbeiten betraute, verwandte dieser sich abermals dafür, daß ihm Todleben als Adjutant beigegeben werde. Das geschah bei seiner gleichzeitigen Beförderung zum Oberstlieutenant. Am 26. Januar verließ er St. Petersburg in der festen Überzeugung, aus dem Feldzuge wohlbehalten heimzukehren: „die türkischen Kugeln sind nicht für mich gegossen“, heißt es wiederholt in den Briefen des Verteidigers von Sebastopol. Nachdem er bei der Brückenlegung über die Donau tätig gewesen und vor Kalafat wichtige Recognoscirungen vorgenommen, leitete er unter Schilder und dann als dessen Stellvertreter vor Silistria die Belagerungsarbeiten der linken Flanke. Mit unermüdlichem Eifer 35 Tage in den Trancheen arbeitend, sprengte er das Fort Arab-Tabia in die Luft und bereitete dadurch die Einnahme der Festung vor. Doch als in der Nacht vom 8./20. Juni 1854 der Sturm auf dieselbe ausgeführt werden sollte, traf ein Befehl des Feldmarschalls Paskewitsch ein, der die Aufhebung der Belagerung und die Zurückziehung der russischen Truppen auf das linke Donauufer anordnete. Was Todleben, der an dem Erfolge eines Sturmes nicht zweifelte, bei diesem unerwarteten Rückzuge empfand, drückte er in folgenden Zeilen eines Briefes aus: „Die ersten Trancheen vor Silistria habe ich errichtet und als letzter verließ ich dieselben, mit dem Gefühl, es habe mich jemand schwer beleidigt, ohne daß ich die Möglichkeit hätte, für die erlittenen schweren Verluste Genugtuung zu nehmen.“ Zu den schweren, auch persönlichen Verlusten vor Silistria hatte der für Tapferkeit mit dem Georgsorden und der Ernennung zum Oberst belohnte Todleben in erster Reihe seines väterlichen Freundes und Gönners Schilder Tod zu rechnen. Er schreibt über ihn: „Der Alte hat uns durch seine sonderbaren Ideen oft in Verzweiflung gebracht. Doch er war ein Mensch von Herz und Gemüt, und darum werde ich ihm stets ein gutes Andenken bewahren.“ Während die Armee nunmehr sich aus den Donaufürstentümern zurückzog, wurde daß Hauptquartier davon benachrichtigt, daß die Alliierten in der Krim zu landen beabsichtigten. Das veranlasste den Fürsten Gortschakow, der wusste, daß es dem Fürsten Menschikow an einem erfahrenen Genieoffizier fehle und das Sebastopol nur von der Seeseite befestigt sei, ihm Todleben zur Verfügung zu stellen. Indessen war Menschikow von diesem Akt feldherrlicher Kollegialität offenbar nicht sehr erbaut, denn er empfing, wie der „Russische Invalide“ berichtet, den zukünftigen Verteidiger Sebastopols höchst kühl und mit folgenden Worten: „Der Fürst Gortschakow hat in seiner Zerstreutheit gewiss vergessen, daß ich in Sebastopol ein Bataillon Sappeure besitze. Erholen Sie sich und kehren Sie dann zur Armee zurück.“ Doch Todleben, zum Glück für Russlands Waffen, auf die Möglichkeit eines solchen Empfanges vorbereitet, folgte dem Rate Menschikow’s nicht, sondern machte sich daran, die vorhandenen Befestigungen in Augenschein zu nehmen und einen Plan zu deren Erweiterung auszuarbeiten. Durch seinen Eifer und beispiellose in der Arbeit erwarb er sich bald die Freundschaft und Unterstützung der Admiräle Kornilow, Nachimow und Istomin, endlich auch das Vertrauen des Fürsten. Zwar wollte dieser an die Möglichkeit einer Landung nicht glauben, aber nach der Schlacht an der Alma erkannte auch er den verzweifelten Ernst der Lage und ließ Todleben gewähren. Auf dessen Anregung erfolgte die Sperrung des Hafens durch Versenkung von 10 Kriegsschiffen und die Befestigung der Stadt von der Landseite in einer Ausdehnung von nicht weniger als 7500 Meter. Woran man zuerst nicht gedacht, was hernach für unausführbar gehalten ward, daß erzwang der feste Wille eines Mannes, er schuf eine Festung aus nichts und hat den an Zahl und Ausrüstung überlegenen Feinden einen Widerstand entgegengesetzt, dem Russland allein es zu danken hat, daß ihm ein glimpflicher Friedensschluss gewährt wurde. Am 31. August (12. September) 1855 äußerte sich der Fürst Gortschakow in einem Tagesbefehl wie folgt: „Es ist ein Ereignis ohne Beispiel in den militärischen Annalen, daß eine in der Eile, im Angesicht des Feindes befestigte Stadt sich so lange (349 Tage) gegenüber einem Angreifer zu halten vermochte, dessen Angriffsmittel das Maß aller üblichen Berechnungen weit überschritten.“ Unter den zum Schluss dieses Tagesbefehls aufgeführten Personen befindet sich ziemlich an letzter Stelle auch Todleben’s Name.

Die Geschichte weist ihm den ersten Platz zu. Übrigens hat der Fürst jenen auffälligen Fehler wieder gut gemacht, indem er in seinem an den Kaiser gerichteten Rapport über den Verlauf der Verteidigung Sebastopols, die Verdienste Todleben’s, „der trotz seiner Leiden bis ans Ende die Verteidigungsarbeiten leitete“, besonders hervorhebt. Diese Leiden rührten von einer türkischen Gewehrkugel her, die den bereits zum General Beförderten, als er im Feuer die Verteidigungsarbeiten besichtigte, in die Wade des rechten Beins traf. Die Wunde nahm bald einen bedenklichen Charakter an und gab wegen der um Sebastopol herrschenden Krankheiten zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass. Aus diesem Grunde bewirkte es der ihn behandelnde Arzt und Landsmann, Professor Dr. v. Hübbenet aus Kiew, das der General in das Thal Balbek gebracht wurde, wo reine Luft und die sorgsamste Pflege einem bösen Ausgang der Krankheit entgegenwirkten. Und so bewahrheitete sich daß Wort, daß für Todleben eine türkische Kugel nicht gegossen sei. Doch auch auf dem Krankenbett gab sich der pflichtbewusste Soldat nicht der Untätigkeit hin, sondern erteilte Befehle und Weisungen, führte die Verteidigung bis zu Ende. Es hat nicht an Neidern und Missgünstigen gefehlt, die Todleben seine Lorbeeren von Sebastopol streitig machten, namentlich einem Nationalrussen, dem Oberst Melnikow zuerkennen wollten. Die Wahrheit ist aber doch durchgedrungen und hat alle diese kleinlichen Intrigen zu Schanden gemacht. Zum Generaladjutanten des Kaisers Alexander II. ernannt und auf daß reichste dekoriert verließ Todleben, nachdem er noch Pläne zur Verteidigung der Stadt Nikolajew und der Mündung des Dniepr ausgearbeitet hatte, im November 1855 den südlichen Kriegsschauplatz, um die Befestigung Kronstadts ins Werk zu setzen. Von den zahlreichen, dem Helden von Sebastopol erwiesenen Ehrenbezeigungen, seien die von seiner engeren Heimat ihm entgegengebrachten – die Aufnahme in die Verbände der baltischen Ritterschaften und die Erteilung des Ehrenbürgerrechts der Städte Riga und Reval hervorgehoben.

Nach dem Abschluss des Pariser Friedens (1856) wurde der Generaladjutant v. Todleben mit einer Besichtigung der Befestigungen von Sweaborg, Reval, Baltisch-Port und Riga betraut, und nachdem er in Moskau der Krönung Alexander’s II. beigewohnt hatte, von diesem ins Ausland gesandt, um einerseits sich zu erholen, andererseits mit dem Auftrages, die Festungen Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Italiens zu studieren. Überall in zuvorkommendster Weise empfangen, kehrte er im Oktober 1858 nach St. Petersburg zurück, um die Leitung des gesammten russischen Geniewesens zu übernehmen. – Für Russland trat jetzt eine langjährige Friedenszeit ein, während der es galt, die aus dem Krimkriege gezogenen Lehren praktisch zu verwerten. Ob das auf allen Gebieten des russischen Militärwesens geschehen, mag dahingestellt bleiben, daß Todleben diesen Zeitraum nicht müßig gewesen, sondern auf die tüchtige Ausbildung von russischen Ingenieuren hingewirkt und beständig an der militärischen Stärkung aller strategisch wichtigen Grenzpunkte gearbeitet hat, ist zweifellos. In diese Jahre fällt auch die Abfassung seines in drei Sprachen erschienenen Werkes: „Die Verteidigung von Sebastopol“. Mit größtem Interesse folgte er den Kriegsereignissen von 1866 und 1870. Seine persönlichen und militärischen Sympathien waren auf Seite Preußens, beziehentlich Deutschlands. In dieser Hinsicht ist der folgende Ausspruch Kaiser Alexander’s II. von Interesse: „Was mir Todleben mitteilt, geht genau in Erfüllung, was andere mir berichten, wird durch die Tatsachen nicht bekräftigt.“ Als im Jahre 1876 am politischen Horizont Russlands sich Kriegswolken zu zeigen begannen, wurde Todleben plötzlich nach Livadia berufen und erhielt dort den Auftrag, Odessa, Sebastopol, Kertsch in Verteidigungszustand zu setzen. Die in dem bewährten Feldherrn hierdurch erregte und gewiss berechtigte Erwartung, falls es zum Kriege komme, in ihm mitwirken zu können, erwies sich als Täuschung. Ihm ward der Auftrag, für die Armierung der Festungen und Häfen in der Ostsee Sorge zu tragen! „Ich glaubte“, so schreibt er mit seiner Ironie, „man werde mich rufen. Man hat mich in Petersburg belassen, mich mit der Befestigung der Ostseehäfen betraut. Offenbar misst der Kriegsminister denselben, in der Befürchtung eines Zerwürfnisses mit England, eine besondere Bedeutung bei.“ Die kränkende Zurücksetzung verdankte der russische General deutscher Herkunft der Thatsache, daß er der panslavistischen Strömung, die tongebend geworden und Russland frivoler Weise in diesen Krieg getrieben hatte, keinen Geschmack abzugewinnen verstand und in der ihm eigenen offenen und furchtlosen Weise seiner Meinung Ausdruck zu geben keinen Anstand genommen hatte. Nur slavisch empfindende Herzen sollten bei der Befreiung der Slavenbrüder mitwirken! Als aber Osman Pascha in Plewna den Russen durch eine improvisierte Festung, die, wie im Krimkriege Sebastopol, angesichts des Feindes errichtet wurde, einen Widerstand entgegensetzte, den dreimaliges Stürmen zu brechen nicht vermochte, da endlich gelangte der vom Kaiser Alexander II. präsidierte Kriegesrat zu der Überzeugung, daß hier nur überlegene Kriegskunst, nicht aber das nationale Empfinden, wenn auch mit Tapferkeit verbunden, zum Ziele führen könne. So wurde denn durch die Macht der Verhältnisse dem Gekränkten die glänzendste Genugtuung. Der Kaiser berief Todleben nach Plewna. Am 18. September besichtigte Todleben zum ersten Mal die Positionen vor der Festung und am 28. November (10. Dezember) erfolgte Osman Paschas Kapitulation auf Gnade und Ungnade. Als nach Abschluss des Präliminarfriedens von St. Stefano daß Erscheinen der englischen Flotte vor Konstantinopel die Befürchtung neuer kriegerischer Unternehmungen wach rief, erhielt der inzwischen nach Petersburg heimgekehrte General, an Stelle des zum Feldmarschall ernannten Großfürsten Nikolaus, den Oberbefehl über die gesamte russische Streitmacht. Es sei hier noch erwähnt, daß ihm die nationalen Heißsporne vor Plewna nicht wenig zu schaffen machten. Sie wollten durchaus noch einen vierten Sturm versuchen, die Einschließung der Festung erschien ihnen, nach einer Äußerung von Skobelew, „unrühmlich“. Ja, dieser ließ sich vom Großfürsten mündlich, unter Übergehung Todleben’s, die Genehmigung zum Sturm erteilen. Als dieser hiervon noch rechtzeitig Kenntnis; erhielt, untersagte er den Sturm und nahm auch keinen Anstand, den Großfürsten selbst auf das Unzulässige solchen Verfahrens aufmerksam zu machen. Nach Schluss des definitiven Friedens kehrte der Feldherr, geschmückt mit dem St. Georgsorden 2. Klasse und dem St. Andreasorden, im März 1879 heim. Am 5./17. Oktober 1879, dem 25. Jahrestage des ersten Bombardements von Sebastopol, wurde Todleben mit seiner Descendenz in den Reichsgrafenstand erhoben. Inzwischen hatte der Nihilismus im Reich sein Haupt erhoben, die Ermordung des Gouverneurs von Charkow, Krapotkin, die Mordversuche auf das Leben des General Drentelen und am 2./14. April auf die Person des Kaisers selbst, verlangten ein energisches Eingreifen und führten zur Ernennung von mit besonderen Vollmachten ausgestatteten Generalgouverneuren in Petersburg, Charkow und Odessa. An letzteren Ort wurde Todleben gesandt, um dort den Kampf gegen den inneren Feind zu führen. Bis zum Mai 1880 hat er diese Stellung bekleidet, um darauf das Generalgouvernement und das Kommando der Truppen von Wilna, Kowno und Grodno zu übernehmen. Man hat ihm in einem Teil der russischen Presse den Vorwurf großer Härte, die er in Odessa bewiesen hätte, gemacht, namentlich in der Anwendung administrativer Beahndungen und Verbannungen. Es ist hier nicht der Ort die Berechtigung derselben zu erörtern, doch möge hervorgehoben werden, daß diese Presse weder das System der administrativen Maßregelung, noch dessen Handhabung durch national russische Beamte gerügt hat, wenn es sich keineswegs um Staatsverbrecher handelte, sondern um die Beseitigung aus irgend einem Grunde unbequemer Personen, wie etwa der Stundisten, lutherischer oder katholischer Geistlicher. Diese Thatsache gibt einen Maßstab zur Beurteilung jenes Vorwurfes gegen den General deutscher Herkunft. In seiner letzten amtlichen Stellung hat Todleben unausgesetzt sich den Arbeiten zur militärischen Sicherung der Grenzen hingegeben. Seit dem Jahre 1882 begann es mit seiner Gesundheit zur Neige zu gehen. Zur Wiederherstellung derselben begab er sich nach Deutschland, und beendete am 19. Juni (1. Juli) 1884, nach schwerem Leiden, in Bad Soden sein ruhmreiches Leben. Die Leiche wurde nach Riga gebracht, wo sie in der Familiengruft bestattet werden sollte. Doch auch dem Todten gegenüber machte der Staat, dem er gedient, seine Rechte geltend. Der regierende Zar wünschte, um des Verstorbenen außerordentliche Verdienste auch außerordentlich zu ehren, daß er in Sebastopol neben dem Fürsten Gortschakow die letzte Ruhestätte finde. Die Wittwe gab ihre Zustimmung, eingedenk des das gräflich Todleben’sche Wappen zierenden schönen Wahlspruches: „Treu auf Tod und Leben“. Rigascher Almanach für 1858. – N. Schilder, Graf Eduard Iwanowitsch Todleben. Sein Leben und seine Tätigkeit. 2 Bde. St. Petersburg 1885 (in russischer Sprache). – A. Brialmont, La General Comte Totleben, sa vie et ses travaux. Bruxelles 1884. – Russkaja Starina 1884, Bd. XLIII u. 1885, Bd. XLV. – O. Heyfelder, General Graf Todleben vor Plewna 1877. M. v. Oettingen.