Städte und Schlösser

Autor: Scholz, Wilhelm von (1874-1969) deutscher Schriftsteller, Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Herausgeber und Übersetzer., Erscheinungsjahr: 1918
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Reisen, Wandern, Reisebilder, Eisenach, Wartburg, Weimar, Städte und Schlösser, Schloss Elmau, Würzburg, Schloss Altenburg, Naumburger Dom, Bildhauer, Künstler
Umstritten ist die Rolle des Autors unter den Nationalsozialisten. Siehe dazu auch unter http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_von_Scholz


Bilder

01 Markgraf Eckard und Markgräfin Uta (An der Saale)
02 Blick auf die Wartburg (Auf der Wartburg)
03 Schloss Altenburg (Schloss Altenburg)
04 Besigheim a. Neckar (Neckarstädchen)
05 Südseite der Mainbrücke (Würzburg)
06 Schloss Elmau (Schloss Elmau)
Inhaltsverzeichnis
  1. An meinen Sohn
  2. Die große Stadt
  3. An der Saale
  4. Die Dichterstadt
  5. Auf der Wartburg
  6. Die Turmschenke zu Eisenach
  7. Schloss Altenburg
  8. In Würzburg
  9. Die Stadt des Elias Holl
  10. Schloss Elmau
  11. Solitude im Herbst
  12. In einem Schloss Gottes
  13. Neckarstädchen
  14. Flandrische Stadt im Kriege
  15. Die Abendburg
  16. Der Raum
An der Saale

Es gibt Städte, die als Ganzes einen außerordentlich starken Eindruck auf den Besucher machen, deren lebendige Gesamtwirkung alle einzelnen baulichen und sonstigen Schönheiten überwiegt. Aus sehr verschiedenen Momenten kann sich solche Gesamtwirkung ergeben: die Lage der Stadt an Flusstal, Bergen, See oder dem Meere, ihre Umgebung spricht mit; aber auch der Puls des gegenwärtigen Lebens wie die sichtbar bewahrte Erinnerung an eine bedeutende geschichtliche Vergangenheit sind wichtig; die Anlage ihrer Straßen und Plätze ist von Einfluss, und nicht zuletzt die manchen Städten eigentümliche Daseinsstimmung, die in fränkischen und Rhein-Städten z. B. mit dem Weinlande, in dem sie liegen, zusammenhängt. Es gibt kaum einen größeren Reisegenuss als in solchen Städten, die den Besucher mit dem Zauber eigenen stimmungsstarken Lebens umschließen, den einzelnen geschichtlichen und kunstgeschichtlichen Denkmälern nachzugehen und sich sofort, wenn das Auge ermüdet ist vom Sehen, der Geist fast überlastet von erfassten inneren Bildern, im gleichzeitig anregenden und die Seele tragenden, behaglich-tätigen Dasein einer Gesamtheit aufgenommen zu fühlen. In ihr ruht der Geist wachend, indes man schlendert und schweift, und genießt das Gesehene nach, ohne Leere, ohne unsteten Wetterdrang zu empfinden.

Anders ist es in Städten, die man um einiger bedeutender Sehenswürdigkeiten willen besucht, in denen aber die Stunden, die zwischen dem Aufnehmen des wertvollen Einzelnen liegen, unerfüllt und genusslos sind. In ihnen leidet ein wenig auch der Eindruck selbst der wichtigsten baulichen oder künstlerischen Denkmäler, weil keine Gesamtstimmung sie trägt, kein weithin lebendiger Hintergrund sie aufnimmt, wenn das Auge von ihnen fortgleitet. Der Geist vermag nicht so oft zu den gleichen Werken und Schönheiten zurückzukehren, weil er dazwischen nicht durch allgemeine Anregungen abgelenkt und erfrischt worden ist. So ist er manchmal nicht dankbar genug für das Vollendetste, solange er ihm nahe ist, und sieht es später doch aus seiner Erinnerung plötzlich mit einer überwältigenden Kraft treten.

Vielleicht geht es ihm ähnlich mit den großen Schönheiten, die von der Saalestadt Naumburg umschlossen werden: dem aus gewaltigster deutscher Zeit heraufragenden viertürmigen Dom, welcher die Werke von der Hand des namenlosen und doch vielleicht größten deutschen Bildhauers in sich birgt; der schweren, hochgedrängten Wenzelskirche, die den von mehreren, nicht bedeutenden, doch malerisch-altertümlichen und baulich lebendigen Häusern umstandenen freien Marktplatz gebietend überragt; dem entzückenden, gut erhaltenen Marientor. Er kann zwischen die Betrachtung dieser Bauten und Bildwerke zwar ein-, zweimal eine sehr behagliche Nachmittagsstunde im Kaffee auf dem Marktplatz einschieben; er sieht dann ausruhend hinauf zu den reichverzierten gotischen Strebepfeilern der Wenzelskirche, die mit bem Turm und Dach ihm fast den Südhimmel überdecken. Aber er beschließt dennoch vielleicht nach zwei Tagen, abzureifen und erst später, wenn seine Eindrücke sich durch die Zeit geklärt und erfrischt haben, wiederzukehren, um das Gesehene zu vertiefen.

Man hat den Bildhauer des Naumburger Domes den größten deutschen Bildhauer genannt. Solche Superlative lassen sich zwar nie beweisen. Aber doch möchte man dieser Bewertung, im unmittelbaren Anschauen jedenfalls, beipflichten; so stark ist der Eindruck des Lebens, so groß der der Kunst, der von diesen — unheimlich zugleich alter­tümlichen und ganz modernen — Stiftergestalten und dem Szenenfries am Westlettner ausgeht. Die zwölf Stifter, zu denen sich noch ein im Nordarm des Querschiffs aufgestellter pulthaltender Diakon gesellt, vielleicht die Kreuzigungsgruppe, die die Lettnertür umrahmt, und die plastische Folge von Passionsbildern des Frieses umschreiben das Werk des Bildners. Sie zeigen — immer mit einem Fragezeichen bezüglich der Kreuzigungsgruppe — eine Hand, einen seine Zeit weit überragenden Schöpfer, wie dies etwa die Dramen Shakespeares tun. Dass sein bürgerlicher Name, sein Bildnis, jede Kenntnis seines Lebens Verloren ist, bedeutet wenig: in der Einheit dieses erhaltenen Werkes besitzen wir das Wesentliche des großen Mannes, sein Unvergängliches; und es ist gleichgültig, dass wir ihn nicht Meister Albertus oder Eginhard, sondern nur den Bildhauer des Naumburger Domes nennen können. Der erste Eindruck, den wir von dem Manne empfangen, ist Überraschung. Soviel schöne und starke mittelalterliche Plastik wir gefeiert haben, bewundert und genossen haben — uns wird bei dem ersten Bildwerk des Naumburgers klar, dass wir sie immer mit geschichtlicher Einstellung ansahent und stillschweigend Voraussetzungen zugaben, die sie von uns fort in eine andere Zeit mit anderen Zielen, anderen Grenzen des der Hand Möglichen entrückten, dass sie uns Stufen, Wegstationen, vom Herrscherstil der Architektur gebundene Schöpfungen waren, an denen wir zwar auch letzte Schönheiten entdeckten, die aber doch irgendwie von uns getrennt blieben. Hier ist ein Vollender, schlechthin ein Klassiker, ein ganz gegenwärtiger Künstler, zu dem wir, das Auge noch erfüllt von Menschen unserer Tage, treten können, dem gegenüber wir keine geschichtliche Einschränkung zu machen brauchen und der sich doch ganz wie seine Genossen der Architektur unterordnet. Während sie aber die Kräfte des Baustils zu brauchen scheinen, um an ihnen emporzuranken, scheint es bei ihm nur eine freiwillige Anpassung zu sein; er wäre stark genug, auch allein zu stehen. Was ist nun das Große an ihm? Man kann es vielleicht in dem Wort zusammenfassen: die volle Erlösung des Lebens aus aller stilistischen Starrheit, ohne je stillos zu werden. Es ist für ihn kennzeichnend, dass er den Moment des Lebens, den besonderen Menschen, den er darstellen will, nicht nur sieht und dies Sehen verständlich andeutet — das konnten Viele seiner Genossen auch —, sondern dass er ihn restlos darstellt; dass in seinen Werken keine Absicht, keine Schwere, kein Ungelöstes mehr sichtbar ist, sondern die Aufgabe in der Vollendung untergeht. Sein Können erscheint so unbegrenzt wie sein Verhältnis zum Leben. Ich möchte ihn mit einem heutigen Dichter vergleichen, der uns gleichzeitig die Seele einer Frau unserer Tage darzustellen vermag und ebenso den Eindruck eines uralten Märchenkönigs, eines Helden, eines Ritters, eines Zauberers hervorrufen kann. Der Naumburger hat diese Spannweite von Jahrhunderten. Er scheint von seinem Zeitstandpunkt aus weit zurück- und weit vorzugreifen, in das vergangene erste Jahrtausend und bis zu uns in das zwanzigste Jahrhundert. Dieser Mann, der um die Mitte des 13. Jahrhunderts bildet, als etwa der gotische Stil den spätromanischen abgelöst hatte, stellt Gestalten hin, die schon zu seiner Zeit die entrückte, ganz unrealistische Größe haben mussten, wie etwa die Helden des Sophokles für die zeitgenössischen Griechen (Dietmar, Sizzo, Wilhelm), und daneben steht die durch die Jahrhunderte ewig jung bleibende Frau, der Kulturen und wechselnde Stile nichts anzuhaben vermögen, die wir für unsere Genossin erkennen (vor allem die entzückende Uta). Beides erreicht er mit denselben Mitteln seines unbeschränkten Könnens, welches sowohl dem Bleibenden wie dem Lebensmomente an einer Gestalt gewachsen ist. Dabei ist seine Behandlung des Gewandes, des Faltenwurfs und des Stoffes so lebendig und fesselnd wie die der Köpfe und Hände. Wie ist der im Mantel liegende, den Kragen hebende rechte Arm der Uta gleichzeitig als Glied gegeben und für den langfaltigen Fall der Gewandung benutzt; wie ist durch die den Mantel vorhebende rechte Hand der Gerburg, die mit der Hand der Uta an plastischer Schönheit wetteifert, der beginnende Schritt als Gewandmotto für den Beschauer freigelegt! Der köstlichen Einzelheiten — die im Buch blätternde Hand der Gepa, der verhäkelte Mantel des Dietrich z. B. — sind zahlreiche. Aber über ihnen allen steht die Durchpustheit der Gestalten, die Beseeltheit der Köpfe.

Nicht minder groß wie als Einzelplastiker ist der Naumburger als Gestalter von Gruppen und Szenen. Das Zusammenspiel der Gliedmaßen wird zum Zusammenspiel der Figuren. Kein noch so vollendeter Moment auf der Bühne wird die Pilatusszene, die Wächtergruppe oder den Petrus der Verleugnung an Klarheit, bei gedrängtester Fülle, übertreffen können. Wie wundervoll ist dabei der bewegte Rhythmus der lebenden Gestalten unter das raumeinteilende Regelmaß der Spitzbogenbedachung des Frieses eingeordnet!

Erst wenn man die Werke des großen Bildners ganz in sich aufgenommen, wird man innerlich für die anderen Schönheiten des Domes frei, sieht man die bewundernswerte Steinmetzarbeit am Laubwerk der Kapitale, ja kommt man erst zu einer Empfindung der Leistung des Baumeisters. Es ist wahrscheinlich nicht seine Schuld, dass der Dom nur eine ganz zjerstörte Raumwirkung hat: die aus romanischem Gefühl hervorgegangenen Langhauskirchen entbehren die große Raumeinheitlichkeit immer, wenn die geschlossene Hinwendung des Raumes auf eine betonte Schmalseite durch das Vorhandensein eines Ost- und eines Westchors aufgehoben, das Auge des Betrachtenden durch diese Doppelheit des Zieles beunruhigt wird. Der Westchor ist spätere Zutat. Weiter wird der Gesamtraum durch die beiden hohen Lettner zerschnitten, so dass man eigentlich drei Kirchen vor sich hat, wie auch der jetzige Gebrauch die drei Raumteile zu verschiedenen Zwecken benutzt. Die reinsten, dem Stile gemäßeren Raumeindrücke des Romanischen entstehen da, wo der ganz von Stein umschlossene, aus unsichtbarer, verdeckter Lichtquelle erhellte Raum fensterlos in seiner schweren Steinheit in die Erscheinung tritt: ich nenne den Blick durch das von einer Vorhalle überdeckte, hineingestufte Hauptportal auf die Südwand des Ostlettners mit seinem Treppenbogen oder den Blick durch das nördliche Seitenschiff auf die Wand des nördlichen Querschiffarmes. Da erweckt diese Architektur das Gefühl der Inburgheit, wie es die mittelalterlichen Mystiker in Gott hatten.

Wenn man nach dem Betrachten des Domes sich noch einmal an dem malerischen Bilde seines Hofes, dem hallenweiten Kreuzgang und dem zusammenstehen der beiden gotischen Nebenkirchen mit dem Kalksteingebirge des Domes erfreut hat, wandert man langsam durch Straßen mit kleinen Häusern zu seinem völligen Gegensatze, der Wenzelskirche am Markt, einem mächtigen, fast zur Rundkirche zusammengedrängten Baukörper in gotischem Stile, der einen erhabenen, übersinnlichen Raum in seinen hohen, weit über den Stadtgiebeln erst ihr Dach tragenden Mauern verheißt. Dies Verheißen eines schon vom Anblick des Außen in der Vorstellung entstehenden Raumes ist die beste Leistung des Meisters dieser Kirche. Vielleicht hat er sie schon selbst nicht erfüllt, und jedenfalls haben Erneuerungen nach Brand und Zutaten späterer Bauzeiten, Einbauten und Schlechte Schmückung das ihrige dazu getan den Eintretenden sogleich wieder zurückzuschrecken: die Wirkung der Größe kommt nicht auf, und dabei sind die absoluten Maße dieses Kircheninnern so gewaltig, dass sie im Volksmunde den Namen der „Predigermörderin“ bekommen hat. Man tritt schließlich doch ein um der zwei schönen Gemälde Cranachs willen und um an Leublfings Grabstein der Novelle vom Pagen Gustav Adolfs zu gedenken.

Ganz rein ist dann die Freude an dem alten Marientor. Es ist eine Torburg. Vom Eingange der Stadtseite, der etwa in der Linie der Stadtmauer gelegen haben muss, führt ein gebogener Mauerhals zum Ausgangstor, das sich senkrecht zur Befestigungslinie öffnete und so gegen jeden Frontangriff geschützt war. Der auf der ausgebauchten Wand sitzende Wehrgang, nach außen eine turmartige Bastion mit engen Schießscharten bildend, ist innen mit einem Fries großer, ziemlich steiler Eselsrücken verziert, während das Wächtergebäude neben dem zinnengekrönten und darüber Spitz gedachten Dorturm, das über die Straße gebaut ist, und das anschließende kleine, die Treppe enthaltende Haus mit grobem, aber sehr wirkungsvollem Ziegelmaßwerk geschmückt sind. Ein Meister Valentin Weiße hat das Tor im Jahre 1446 erbaut; zu Anfang des 16. Jahrhunderts ist es erneuert worden. Zwischen Tor und Tor, von den hohen „Fittichen“ der Seitenmauern umschlossen, steht man plötzlich nicht mehr in der kleinen preußischen Beamtenstadt, sondern im Mittelalter, dessen Wesen in solchen Befestigungsbauten treuer bewahrt ist als in romantischen Ritterburgen und Schlössern.

* * *

Wer mit romantischen Empfindungen reisen möchte, wer den unklar-phantastischen Dämmerzustand der Seele liebt, in dem sie an Überresten der Vergangenheit ein untätiges Gegenmartschwelgen und Zukunftsträume entzündet, der Ruinenfreund — der suche nie die Rudelsburg auf, sondern begnüge sich, sie malerisch an ihrem Saalebogen, hoch auf den kahlen, aus dem Steilufergrün herausblendenden Kalksteinfelsen, weißgrau wie ein wettergebleichtes Steingerippe, daliegen zu sehen, wenn er von Berlin über Halle ins Thüringer Land oder nach Frankfurt fährt. Er wird an Franz Kuglers Verse denken, die so berühmt geworden sind, und vielleicht leise vor sich hinsummen:

An der Saale hellem Strande
stehen Burgen stolz und kühn.
Ihre Dächer sind zerfallen,
und der Wind streicht durch die Hallen
Wolken stehen drüber hin ...

Nichts stört ihm bei solchem Fernblick die Illusion des romantischen Gedichts, das wohl manchem von uns in der Jugend zu einem der lebendigsten dichterischen Landschaftsbilder geworden ist. Der Vorüberfahrende stellt sich die von den Zinnen grüßenden hellen Gestalten vor, fasst das Schöne, breit bis zur höchsten Turmspitze abgestufte Umrissbild in den Blick, der, ehe er von irgendeiner Gegenwartsgeschmacklofigseit beleidigt werden konnte, schon weitergeleitet wird und die nächste etwas zurückgelegene Uferhöhe, den Saalecker Berg mit seinen beiden, wie unmittelbar auf dem Felsboden aufragenden Turmpfeilern, ins Bild treten sieht, während die Rudelsburg rasch aus dem Fensterrahmen schwindet. Dann drängt sich der Kalkstein, senkrecht angeschnitten, als jähe Wand aufdröhnend und alle Aussicht verdeckend, hart an den jagenden Zug, um links gleich noch einmal ein anmutiges Flussbild freizugeben: ein hohes, mit Häusern und Gartenanlagen gekröntes und ein baumbestandenes niederes Ufer, zwischen denen der Fluss senkrecht von der Bahn zurückweicht. Das Ganze währt nur Minuten und gibt doch Bleibendes: eine bruchlos hinfließende Landschaft, die trotz der einen Augenblick lang verdeckten Sicht einen schönen, gegliederten Zusammenhang zeigt. In ihrer geschwungenen Linie, in dem Heranspielen und Ausweichen des Flusses und der Uferhöhen, in dem Sinken und Steigen chres Kammes, hinter dessen Senkungen sich sichtbar die Landweite verschiebt, gleicht sie ein paar ganz reinen und schönen Takten in der unendlichen Melodie des neben dem Zugfenster zurückeilenden Bandbildes.

Auch dem unromantiSchen MenSchen, der, mit Starken und klaren Lebenszielen ruhevollen Frieden suchend, in die Landschaft und den Kreis der an sie zurückgefallenen Menschenwerke hinaustritt, den keine Schwärmerempfindungen verleiten, in Ruinen Erhabeneres zu sehen als in Bauten, die noch dem vollen Leben dienen, wird das vorüberfliegende, selbst in seiner Erinnerung stets fließende Landbild wertvoll sein — und es wird ihm selbständig und gesondert bleiben von den Bildern und Eindrücken, die ein Aufenthalt zwischen diesen Höhen und Burgen, dem Fluss, den tiefgelegenen Wiesen und den verstreuten Dörfern und Landsitzen gibt. Ein Romantiker aber müsste wohl eilig in das Fernbild zurückflüchtcn, wenn er die Rudelsburg selbst betrat: Wolken ziehen zwar darüber hin, aber kein Wind weht durch die Hallen, und die hellen, milden Gestalten, die dem Wandersmann erscheinen, sind beschürzte Kellner. Unter Wahrung des zerfallenen Umrisses der Ruine hat man eine Bier- und Kaffee-Restauration (nur das Fremdwort ist hier bezeichnend!), zum Teil im „alt-deutschen“ Geschmack, in die mächtigen Mauern hineingebaut. Jeder reine Inneneindruck des alten Ritterhauses ist damit zerstört; und der mit starker, lapidarer Empfindung geschaffene, seinen aufzeigenden Felsgrund zur gestalteten architektonischen Form auswirkende Burgbau ist eine Art Vergnügungslokal geworden. —

Aber es ist die Aufgabe unseres Reisens wohl nicht, nur Vollendetes und Unverderbtes am Wege zu finden, nur zu genießen und wandernd zu schwelgen. Wir reisen zu dem Ziele, mit dem erregten Glücksgefühl des Schreitenden, des von aller Enge Gelösten diese Erde, vor allem unser deutsches Land, in geistigen Besitz zu verwandeln, in eine innerliche Heimat voll Reichtum und weitem Raum. Mit solcher Vergeistigung erlösen wir sie, wie der Prinz das Dornröschen, aus dem Schlaf und den Stachelhecken aller Zeitgebundenheit. In der Vergeistigung kehrt die Zeit, die in Nichts hingeschwundene, die unaufhaltsam weiter enteilende, kehren Jahrhunderte zurück und werden das bewegte Leben des Landes, das nun nichts unverändert Starres mehr ist, sondern wogende Wandlung, in die sich für eine kurze Zeitspanne unser Auge auftut — gerade lange genug, dass wir im scheinbar Festen, Ruhenden, die Wandlung erkennen und bedenken können.

Wenn wir so reisen und sehen, dann kommt uns eine häßliche Restauration, die ein altes Bauwerk verunziert, kaum mehr zu Bewusstsein. Der Geist, der die Wandlung als das einzig Bleibende nicht nur erkannt hat, Sondern sie als ein immer fließendes Vorstellen sein Daseinsgefühl tief hat kränken lassen, sieht vielleicht — während der Restaurationsbetrieb, das harmlose Kaffeegeplauder von Sonntagsgästen vor ihm schattenhaft und wesenlos wird — die frohndende Dumpfheit des Lebens vor sich, die einst von herrischem Stolze gezwungen ward, den Felsen noch mit Felsgestein zu übertürmen. Am leichtesten begreift der Geist im Wandern die Wandlung, wenn Nähe und Feme sich um ihn unablässig verschieben und nur ein Allerfernstes dahinter noch zu ruhen scheint. Dann dünkt ihn das Seiende ein über die Zeit Hinausliegendes, das in der Zeit sich wie ein Wandlungsspiel auflöst, wieder Zusammengefügt wird und entgleitet — doch nie ganz zu greifen ist. Und in diesem Fühlen des allerfernsten Seienden hinter dem Wandel der Wanderung wird er misstrauisch gegen jede ästhetische, jede vom Geschmack geleitete Betrachtung der Dinge; sie erscheint ihm als Enge und Grenze, Verkümmerung und Täuschung.

Diese Gedanken haben sich mir oft, aber wohl selten so stark aufgedrängt wie auf der Rudelsburg. Nicht die Postkarten- und Kuchenbuden am Bergfuß und vor dem Tor, nicht die herumlaufenden Kellner und klappernden Teller störten mich mehr. Irgendeine Kraft in mir zerstörte das Kleine, Vergängliche vor dem Dauernderen der Natur und dem in sie hineingestellten Menschenbau, den die Natur schon wieder in sich zurückzuziehen, in ihr größeres, dunkleres Leben aufzulösen begonnen hat; dieselbe Kraft, die auch mich und mein Dasein vor mir auszulöschen vermag, wenn das Bleibende und Ewige in meinen inneren Blick tritt. Während ich auf den umgrünten Hochwegen über dem Fluss und den Felsteigen der anderen Seite das Mauerviereck umgehe, oder in einem enggassigen Außengang steil die hohen, rauhen, grellbesonnten Kalkwände bis zum lichten Blau des Sommerhimmels hinaufsehe, spüre ich ein Sichdehnen und Recken in den alten Steingliedern, das auch mich erfasst. Noch einmal drängt sich meinem Gefühl mit ganzer Wucht der Kampf des Beharrens und der Wandlung auf, aus dem unser inneres wie unser äußeres Schicksal hervorgeht, und entrückt das Erlebnis dieses Wandersommertages mir einen Augenblick weit aus aller räumlichen Gebundenheit.

Dann fällt mein Sehen und Denken rasch ganz an die Gegenwart und den Raum zurück. Ich bin in den Spätnachmittagsstunden eines warmen, staubigen Sommersonntags, gehe durch Gruppen von Spaziergängern hin und genieße das Abendnahen über Land und Fluss. Auf dem gleiten noch ein paar Boote, und sonntäglich rastend liegt am Wiesenufer drüben festgemacht ein Floß schöner, gerader Stämme. Beim Hinabschauen auf den sich an den Bergfuß heranwindenden und wieder zurückgleitenden Fluss, dessen sanftes Hinschlängeln überall die Wiesen tränkt, fällt mir ein ganz ähnliches mitteldeutsches Landschaftsbild ein: ein Blick von der alten Brandenburg bei Eisenach hinab auf die Werra, deren Uferbild auch an anderen Stellen ihres Laufes, so mit den Kalksteinfelsen bei Creuzburg, an die Saale erinnert. Dann gehe ich langsam und umschauend den steinigen Pfad von der Rudelsburg zur Talsenkung hinunter und nach Saaleck hinüber, dessen freiere Höhe recht mitten im Landring steht und das Rotdämmern des Abends weit über Berg und Tal, über Felder, Straßen und Wälder genießen lässt. Und indem die Burg mit ihren beiden Türmen über dem ruhenden Zuschauer noch in das entfliehende Licht hineinragt, verbindet sie ihn lange noch dem letzten Leuchten, bis sein Schritt weiter in das verdunkelte Tal und Dorf hinunterhallt. Aber auch, wo das freundliche Dorf beginnt und die Umfriedung des weitausgedehnten Herrensitzes darin, ist die Tiefe des Flussbettes noch nicht erreicht. Ich stehe im Park und sehe umbuschte Wände ins Dunkel hinab, aus dem weit unten das Flussband heraufleuchtet.

* * *

Am nächsten Tage führt mich der Gastfreund durch seinen Besitz Die landschaftliche Lage des Gutes ist noch schöner als die der beiden Schlösser, deren eines den rückwärtigen Blickpunkt der Parkanlagen bildet. Mit einer Mauer, aus der ein hohes Torhaus sich erhebt, grenzt das Gut gegen das Dorf, um sich dann breit auf dem nach Süden zu noch ansteigenden, ganz steilen Felsenufer der Saale auszudehnen. Das ist das Stück idyllischer und doch großzügiger Flusslandschaft, das man von der Bahnstrecke senkrecht zurückweichen sieht, wenn man an den Schlössern vorüberfliegt und sich nach dem Herandrängen der Schienen an den verdeckenden Berg die Aussicht nach links noch einmal für einen Augenblick tief eröffnet. In dem der Bahn zunächst liegenden Teil ist das Hochufer mit vollendeter Gartenkunst in terrassenförmige, ummauerte und umheckte mehrstufige Anlagen verwandelt, in denen das Herrschaftshaus und Nebengebäude stehen. Weiße Weinlaubgänge und Veranden, breite Treppen und vertiefte Plätze gliedern den Park, in dem die Gebäude wie malerische, abschießende Prospekte wirken. Man bewundert den Laudschaftskünstler, der das schuf. Er tritt am bedeutsamsten hervor; ihm musste der Architekt, der mit dem Gartenkünstter freilich dieselbe Person ist, dienen. Und trotz einiger Mängel, die der Künstler selbst fast zu eigensinnig immer wieder hervorhebt, erscheint es vorbildlich, wie hier der Baumeister — wenn auch vielleicht noch in irgendeiner Axenlage irrend — vom breiten Untergrund des Geländes als dem Gegebenen ausgegangen ist, aus der Landschaft heraus gestaltet und komponiert hat. Man ergeht sich mit Genuss in dem still umfriedeten Landpark, immer schöne Abschlüsse und Hintergründe um sich fügend, hinter denen die Landschaft — die Burg Saaleck über Wipfeln und Dächern, das tiefer gelegene Jenseitsufer, Felder und Berge — raumvoll zurücktritt. Mit unmerklichem Übergang ist der, sozusagen, bewohnte Park, in die freiere Natur des anschließenden Fels- und Waldufers weitergeleitet. Ein Pfad über die Höhe und einer, neben dem das Flussgewell hinspült, der hier fast unter die Felsen tritt, dort sich durch eine schmale Aufschwemmung mit Bäumen und Büschen zieht, führen weit bis zu einer seitlich einmündenden Bachschlucht. Eine noch im Park in die Vorsprünge und Falten der Uferwand eingefügte Stufenreihe verbindet beide Wege; dann führen sie erst wieder durch die Schlucht mit dem tropfenden Bächlein zusammen. Der untere, da und dort mit Steinplatten belegte Pfad hat seinen Reiz durch die unmittelbare Nähe des Wassers. Dessen kühle Wellenluft streicht über den Weg. Das hinziehende Spülen mit dem darin ruhenden verwischten und verstreiften Spiegelbilde des gegenüberliegenden flachen Baumufers beleben die einsame Stille, in die sonst nur der Ruf von den in den Felsen nistenden Vögeln klingt, oder ein springender Steinfall schallt, wenn die Vögel auffliegen. Auch hört man wohl noch das gluckende Anschlagen des Wassers am Holz bei der Bootslände und manchmal fern den über die Brücke rollenden Bahnzug. Der obere Weg ist ganz Blick und Aussicht, gesammelt in eine kleine, durch eine niedrige Aufmauerung geschützte Terrasse unterhalb der Kammhöhe, an die sich die Taltiefe malerisch heranbiegt. Da, in dem absinkenden Nahblick, der über dem Fluss unten an allen Seiten bald seine weiche Begrenzung findet — die sich vorwendende Bergwand und volle Baumwipfel — fühlt man das genussvolle freie Schweben, Steigen und Sinken, das aller Aussicht körperlicher Inhalt ist. Reiner, klarer sind die verwehenden Gefühle des Wandernden, wenn er so in der vom heutigen für den heutigen Menschen wohnlich gemachten Landschaft seine Gedanken still zur Gegenwart sammeln kann, als wenn er in mühevollen Bewusstseinshandlungen gewaltige Zeugnisse der Vergangenheit, die in seinen kurzen Lebenstag eindringen, dem geistigen Lebensbesitz vereinen muss.

Für ein paar Tage ist mein Schritt von der Landstraße und den offenen Wegen in den Frieden und die Stille eines sinnvoll geschaffenen Eigentums eingetreten. Gastlich durchseelte Einsamkeit umgibt mich.

01 Markgraf Eckard und Markgräfin Uta (An der Saale)

01 Markgraf Eckard und Markgräfin Uta (An der Saale)

02 Blick auf die Wartburg (Auf der Wartburg)

02 Blick auf die Wartburg (Auf der Wartburg)

03 Schloss Altenburg (Schloss Altenburg)

03 Schloss Altenburg (Schloss Altenburg)

04 Besigheim a. Neckar (Neckarstädchen)

04 Besigheim a. Neckar (Neckarstädchen)

05 Südseite der Mainbrücke (Würzburg)

05 Südseite der Mainbrücke (Würzburg)

06 Schloss Elmau (Schloss Elmau)

06 Schloss Elmau (Schloss Elmau)