An meinen Sohn

Wilhelm von Scholz, geb. 13. XII. 1899, gest. als Fähnrich im II. Nassauischen Feldartillerieregiment Nr. 63, an seinen in der Artillerieschlacht in Flandern erhaltenen Wunden am 25. X. 1917.

Mein lieber, geliebter Junge,


als ich Dir die erste Sammlung meiner Wanderbilder „Reise und Einkehr“ zueignete, da hoffte ich, dass sie Dir auf einer langen glücklichen Lebenswanderung das Geleit geben würde — nicht stofflich als das Buch, das auf der Widmungsseite Deinen Namen trägt, wohl aber geistig als eine Anregung zu sehen, das Schöne der Welt zu genießen, in Dich aufnehmen, was deutsches und fremdes Land Dir zeigen würden, und dabei Deines Vaters zu gedenken, der dann vielleicht schon von seinen Wanderungen ruhen und doch in Dir fortwandern würde, offnen Auges über die Schöne Erde.

Nun ruhst Du, und ich wandere noch — jetzt traurig-sehnsüchtig, oft an Dich denkend und an Dein Stilles Grab am Bodensee. Und ich schreibe wie früher nieder, was ich auf meinen Wegen sehe, was an meinem Schritt rückwärts und vorüber gleitet, was in mein Auge fällt und mir die Seele bewegt. Stiller und leiser schwingt sie jetzt mit dem ziehenden Bildervorhang vor meinen Blicken, müder und ärmer, dunkler ist sie — so, wie Sie damals im September 1917 wurde, als ich Dich in Deinem Feldlazarett besuchte, in der kleinen flandrischen Stadt, in dem Kloster, in dem Du verwundet lagst. Damals aber war alles noch voll Hoffnung für Dich und uns. Gerade, als ich bei Dir war, sank das Fieber, schien sich Dein Zustand zu bessern, und mein Herz wollte fast schon seinen alten frohen Schlag und Wandertakt wiederfinden, weil es Dich nun vor den schlimmsten Gefahren geborgen wähnte, und weil das große Erlebnis Krieg, zu dem Dein junger, mutiger, pflichtbewusster Sinn so ungeduldig gedrängt hatte, nun Dein Besitz war, für den Du trotz der überstandenen Leiden tiefen Dank fühltest, und Dir doch das volle fruchtbare Leben gelassen zu haben schien. Aber in die frohe Hoffnung kam immer wieder das innerliche Zittern, die Angst um Dich, die dann wuchs und erst endete, als sie Dich ganz sicher vor allem Schlimmen des Lebens geborgen wusste, in Deinem Grab.

Lieber Junge, ich habe nichts Erschütternderes erlebt als unser Wiedersehen in Kortrjik, als wir beide kein Wort sprechen konnten und Du, Dich mühsam ein wenig aufrichtend, Deinen Kopf an meine Brust drücktest. Da drängte sich Hoffnung und Furcht, Glück und Schmerz in überströmender Liebe so furchtbar nah zusammen wie noch nie in meinem Leben. Dies unser letztes Zusammensein wird mich mit seinem selig-wehen Gefühlen noch in meinen letzten Stunden begleiten, die so nicht einsam sein wird.

Dann kam das Niederschmetternde, und dann noch einen vom Zufall geschenkte unbegreiflich tiefe Rührung: ich erhielt den ersten Brief, den Du an mich nach Deiner Verwundung schriebst und der lange in der Welt herumgereist war, Wochen nach Deinem Tode. Noch einmal sprachst Du zu mir, als seiest Du nur fern. Damals entstand wohl mein Plan, auch Dir noch einmal zu schreiben, als seiest Du nur fern. Lass mich Deinen Namen auch auf dies neue Buch meiner Wanderungen setzen. Denn ich glaube, mein Junge, als Wanderer haben wir uns wohl am tiefsten und reinsten verstanden, hierin wir beide geistige Erben Deines Großvaters und Urgroßvaters. Du schriebst mir, als Du nicht einmal fertig ausgebildet auf Deinen Wunsch schon hinausziehen durftest und Dich Dein wohlwollender Batteriechef noch auf kleinen Dienstreifen hinter der Front ein wenig von der Welt sehen lassen wollte, am 12. Mai aus Brüssel: „Lieber Papa, ich muss Dir schreiben, Du hast mir die Liebe für Bauten und Städte gegeben und hast mich reisen gelehrt. Ich bin eben auf einer der allerherrlichsten Reisen. Mein dritter Batteriechef hat mir eine dienstliche Fahrt von Valenciennes nach Tourcoing (bei Lille) zugeschustert und mir gesagt, ich solle mich etwas hier hinten umtreiben und mir alles ansehen. Na, ich hab mir das nicht zweimal sagen lassen und bin frech gleich nach Brüssel gefahren, Brüssel ist baulich wohl das herrlichste, was ich kenne. Du musst Dir von Mama mal meine Bilder schicken lassen um zu sehen. Ich habe eine neue Methode, mir schöne Baulichkeiten anzusehen. Ich suche mir einen Gasthof gegenüber und setze mich mit einem Glase Wein ins kühle Fenster. Jetzt sitze ich hier auf der grande place wohl schon zwei Stunden und sehe über den Blumenmarkt und das Leben der Stadt hinweg auf die herrlichen Bauten. Ich sehe fast unbewusst, wenigstens ohne die bestimmte Absicht, in aller Ruhe und nehme so das Bild auf. Dabei empfindet man wahren Genuss, wenn man sich nicht vor jedes Haus stellt, sondern so gemächlich den ganzen Platz sieht, belebt durch das Leben auf dem Markt. Das ist der größte Genuss. Ich bin überhaupt ein Freund der Ruhe geworden, weil ich so wenig davon habe, und da genieße ich das doppelt. Heute Vormittag saß ich auf der anderen Seite, jetzt auf der. Ich kann kaum genug sehen. Dann gibt’s hier noch die herrliche Kirche St. Gudule. Ich weiß keine Kirche, die mich so stark beeindruckt hat. Du hast mich auch den Raum lieben gelehrt. Dich würde dies alles sehr interessieren. Fahre doch, wenn Du Deine Vorträge hälst, über Brüssel, das gibt fast ein Reise und Einkehr für sich. Hoch über der Stadt liegt der mächtige Justizpalast; von dem aus übersieht man die ganze herrliche Stadt. Diese Reise hätten wir eigentlich zusammen machen müssen, ich führe sie in Deinem Stil. Gestern war ich in Lille. Lille ist zum größten Teil Trümmerhaufen. Es gibt noch ein herrliches Haus, die alte Börse, der gegenüber habe ich auch lange vor einem Glase Wein gesessen und sie ungewollt im Auge gehabt ...“

Ja, Junge, wir hätten diese Reise zusammen machen sollen, auch diese Einkehr. Da hätte ich mit Deinen frischeren Kräften gut mitgekonnt. Sonst sah ich freudig und neidlos, wie Du mich als Tourist längst in allem übertrafst, im Bergsteigen und Schneeschuhlauf, wo Du Dich als Sechzehnjähriger Retter Abgestürzter bewährtest, im Wassersport, wenn Du die bayrischen Gebirgsflüsse im Faltboot herunterfuhrst oder in demselben schwankenden Fahrzeug über den Bodensee rudertest; als Radfahrer, Reiter, Schwimmer und wie sonst immer. Du gehörtest zu unseren Besten, geliebter Junge, von denen so viele da draußen den Tod empfingen. Lächle nur und sage Dein gewohntes „Es ist ja halb so wild!“, wenn ich Dein kleines Ehrenregister hierher schreibe; aus väterlichem Stolz, väterlicher Liebe hierher schreibe, weil es mir jetzt viel wichtiger erscheint und Viel bedeutsamer als etwa ein Platz in der Literaturgeschichte: dass Du außer Deiner leiblichen Tüchtigkeit und Gewandtheit auch seelisch ein voller Mensch warst, ein reines tiefes und bis zu Tränen inniges Verständnis für Musik, für die edelste Musik der Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, der ganzen Klassik der Musik entwickeltest, dass Du wissenschaftlich Dir die Anerkennung errangst, mit sechzehn Jahren schon in die Oberprima zu kommen, und dass Du Dich als Soldat auszeichnetest, was Dir sicher das Wichtigste war, und Dein Regimentskommandeur Dir selbst das eiserne Kreuz ins Lazarett brachte.

Wilhelm, wir wollen nicht trauern sondern fröhlich sein und dankbar an das Glück denken, das Du in die siebzehn Jahre Deines jungen Lebens zusammengedrängt hast, wollen an das andere Glück denken, dass Du nach den ersten schweren Tagen Deiner Verwundung nicht mehr sehr littest und voll Hoffnung warst, und daran, dass Deine Mutter, die mit Dir wie niemand sonst und wie mit niemandem sonst in Liebe verbunden gewesen ist, dass Deine Mutter die letzten sieben Wochen Deines Lebens ständig um Dich war, Dich pflegte, alle Angst von Dir nahm und für Dich mit starker Seele trug. Wenigen nur ist das heute beschieden. Wir wollen, mannhaft den Schmerz über das Scheiden voneinander bezwingend, froh und dankbar sein, dass Du warst.

Ruhe nun tief und still, lieber Junge! Die Stelle, wo wir Dich in die Erde gebettet haben, wo Du als erster von uns auf dem kleinen Familiengrabplatz eingezogen bist, droben auf dem Allmannsdorfer Friedhof am Hochufer des Bodensees, ist schön. Himmel und Wolken, Berge, See, Wiesen und Wald sehen herein auf Deine Ruhestätte. Frei überweht sie der Wind mit dem Rauschen der Bäume am nahen Ufersteilabfall und dem Rauschen der Wellen darunter, durch die Du so oft fuhrst. Das ganze Land, in dem Du Deine glückliche Jugend verbracht, drängt sich mit seinem Segen um Dich. Des Abends, weißt Du, da ist der Uferhügelzug, wenn man ihn vom See aus sieht, wie ein einziges, dunkles, geliebtes Grab. Und neben Dir, Jüngstem von uns, ist Platz für die, die Dich liebten, so lange Du lebtest, und so lange sie leben, Dich lieben werden. Sie kommen. Du gingst ihnen nur um eine kurze Spanne Zeit voran. —

Dein Vater.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Städte und Schlösser