Abschnitt 2

Wien


Das zweite Stück ist Virginius, der soeben seine Tochter geopfert hat, das Messer dem Volke und dem Decemvir zeigt und als ein furchtbarer Prophet der künftigen Momente nur einen Augenblick dasteht. Dieser Augenblick war einzig für den Geist des Künstlers. Die beiden Hauptfiguren, Virginius und Appius Claudius, sind in ihrer Art vortrefflich; aber unbeschreiblich schön, rührend und von den Grazien selbst hingehaucht ist die Gruppe der Weiber, die das sterbende Mädchen halten. Diese bekümmern sich nicht um den Vater, nicht um den tyrannischen Richter, nicht um das Volk, um nichts, was um sie her geschieht; sie sind ganz allein mit dem geliebten Leichnam beschäftigt. Eine so reizende Verschlingung schwebte selten der Seele eines Dichters vor; nimm nun noch die Vollendung und Zartheit der Figuren und das Pathos des Augenblicks dazu! Es ist eine der schönsten Kompositionen aus der Seele eines Künstlers, den der Genius der hohen und schönen Humanität belebte. Ich würde niederknien und anbeten, wenn ich die Römer nicht besser kennte. Du weißt aber schon hierüber meine etwas ketzerische Denkungsart. Als Philantrop betrachtet, möchte ich lieber in Rußland leben, an der Kette der dortigen Knechtschaft, als unter dem Palladium der römischen Freiheit. Beschuldige mich nicht zu schnell eines Paradoxons! Wehe den neuen Galliern, wenn sie die altrömische Freiheit ihrer Nation oder gar ihren Nachbarn aufdringen, oder, wie Klopstock spricht, aufjochen wollen! Aber wo gerate ich hin?


Fügers neuestes Werk, an dem er jetzt, wie ich höre, für den Herzog Albert von Sachsen-Teschen arbeitet, ist ein Jupiter, der dem Phidias erscheint, um ihn zu seinem Bilde vom Olympus zu begeistern. Da es in die Höhe kommen soll, ist die Anlage etwas kolossalisch. Der Gedanke ist kühn, sehr kühn; aber Füger ist vielleicht gemacht, solche Gedanken auszuführen. Mit einer liebenswürdigen Offenheit gesteht der große Künstler, daß er einige seiner herrlichsten Kompositionen aus Vater Wielands Aristipp genommen hat. Nun wünschte ich auch David einige Stunden so nahe zu sein, wie ich es Füger war; und ich hoffe, es soll mir gelingen. –

Während der vierzehn Tage, die ich hier hauste, war nur einigemal ein Stündchen reines, helles Wetter, aber nie einen ganzen Tag; und die Wiener klagen, daß dieses fast beständig so ist. Da ging ich denn so finster allein für mich auf dem Walle und etymologisierte „Vindobona, quia dat vinum bonum; Danubius, quia dat nubes;“ wer weiß, ob die Römer bei ihrer Nomenklatur nicht an so etwas gedacht haben. Wenn Harrach, Füger, Retzer, Ratschky, Möller und einige andere nicht gewesen wären, die mir zuweilen ein Viertelstündchen schenkten, ich hätte den dritten Tag vor Angst meinen Tornister wieder packen müssen.

Von dem Wiener Theaterwesen kann ich Dir nicht viel Erbauliches sagen. Die Gesellschaft des Nationaltheaters ist abwechselnd in der Burg und am Kärntner Tore und spielt, so gut sie kann. Das männliche Personal ist nicht so arm als das weibliche; aber Brockmann steht doch so isoliert dort und ragt über die andern so sehr empor, daß er durch seine Überlegenheit die Harmonie merklich stört. Die andern, unter denen zwar einige gute sind, können ihm nicht nacharbeiten, und so geht er oft zu ihnen zurück; zumal da auch seine schöne Periode nun vorbei ist. Man gab eben das Trauerspiel „Regulus“. Ich gestehe Dir, daß es mir ungewöhnlich viel Vergnügen gemacht hat, vielleicht schon deswegen, weil es einen meiner Lieblingsgegenstände aus der Geschichte behandelte. Ich halte das Stück für recht gut gearbeitet, soviel ich aus einer einzigen Vorstellung urteilen kann, wo ich mich aber unwillkürlich mehr zum Genuß hingab, als vielleicht zur Kritik nötig war. Es sind allerdings mehrere kleine Verzeichnungen in den Charaktern; aber das Ganze hat doch durchaus einen festen, ernsthaften, nicht unrömischen Gang; die Sprache ist meistens rein und edel, und ich war zufrieden. Zum Meisterwerke fehlt ihm freilich noch manches; aber Apollo gebe uns nur mehrere solche Stüc ke, so haben wir Hoffnung, auch jene zu erhalten. Es wird mir noch lange einen großen Genuß gewähren, Brockmann in der Rolle des Regulus gesehen zu haben. Der weibliche Teil der Gesellschaft, der auf den meisten Theatern etwas arm zu sein pflegt, ist es hier vorzüglich, und man ist genötigt, die Rolle der ersten Liebhaberin einer Person zu geben, die mit aller Ehre Äbtissin in Quedlinburg oder Gandersheim werden könnte. Die Dame ist gut, auch gute Schauspielerin; aber nicht mehr für dieses Fach.

Die Italiener sind verhältnismäßig nicht besser. Man trillerte sehr viel und singt sehr wenig. Der Kastrat Marchesi kombabusiert einen Helden so unbarmherzig in seine eigene verstümmelte Natur hinein, daß es für die Ohren eines Mannes ein Jammer ist; und ich begreife nicht, wie man mit solcher Unmenschlichkeit so traurige Mißgriffe in die Ästhetik hat tun können. Das mögen die Italiener, wie vielen andern Unsinn, bei der gesunden Vernunft verantworten, wenn sie können.

Ich, meines Teils, will keine Helden,
die uns, entmannt und kaum noch mädchenhaft,
sogleich den Mangel ihrer Kraft,
im ersten Tone quiekend melden,
und ihre lächerliche Wut
im Schwindel durch die Fistelhöhen
von ihrem Brett herunter krähen,
wie Meister Hahns gekappte Brut.
Wenn ich des Hämmlings Singsang nicht
wie die Taranteltänze hasse,
So setze mich des Himmels Strafgericht
mit ihm in eine Klasse!

Schikaneder treibt sein Wesen in der Vorstadt an der Wien, wo er sich ein gar stattliches Haus gebaut hat, dessen Einrichtung mancher Schauspieldirektor mit Nutzen besuchen könnte und sollte. Der Mann kennt sein Publikum und weiß ihm zu geben, was ihm schmeckt. Sein großer Vorzug ist Lokalität, deren er sich oft mit einer Freimütigkeit bedient, die ihm selbst und der Wiener Duldsamkeit Ehre macht. Ich habe auf seinem Theater über die Nationalnarrheiten der Wiener Reichen und Höflinge Dinge gehört, die man in Dresden nicht dürfte laut werden lassen, ohne sich von höherem Orte eine strenge Weisung über Vermessenheit zuzuziehen. Mehrere seiner Stücke scheint er im eigentlichsten Sinne nur für sich selbst gemacht zu haben; und ich muß bekennen, daß mir seine barocke Personalität als Tiroler Wastel ungemeines Vergnügen gemacht hat. Es ist den Wienern von feinem Ton und Geschmack gar nicht übel zu nehmen, daß sie zuweilen zu ihm und Kasperle herausfahren und das Nationaltheater und die Italiener leer lassen. Seine Leute singen für die Vorstadt verhältnismäßig weit besser als jene für die Burg. Die Kleidung ist an der Wien meistens ordentlicher und geschmackvoller als die verunglückte Pracht dort am Hofe, wo die Stiefletten des Heldengefolges noch manchmal einen sehr ärmlichen Aufzug machen. So lange Schikaneder Possen, Schnurren und seine eigenen tollen Operetten gibt, wo der Wiener Dialekt und der Ton des Orts nicht unangenehm mitwirkt, kann er auch Leute von gebildetem Geschmack einigemal vergnügen; aber wenn er sich an ernsthafte Stücke wagt, die höheres Studium und durchaus einen höheren Grad von Bildung erfordern, muß der Versuch allerdings immer schlecht ausfallen; aber hier wird er vielleicht sagen: ich arbeite für mein Haus; dawider ist denn nichts einzuwenden. Nur möchte ich dann nicht zu seinem Hause gehören. Er will aber höchstwahrscheinlich für nichts weiter gelten als für das Mittel zwischen Kasperle und der Vollendung der mimischen Kunst im Nationaltheater. Die Herren Kasperle und Schikaneder mögen ihre subordinierten Zwecke so ziemlich erreicht haben; aber das Nationaltheater ist, so wie ich es sah, noch weit entfernt, dem ersten Ort unsers Vaterlandes und der Residenz eines großen Monarchen durch seinen Gehalt Ehre zu machen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802