Abschnitt 1

Wien


Den zweiten Weihnachtsfeiertag kamen wir hier in Wien an, nachdem wir die Nacht vorher in Stockerau schon echt wienerisch gegessen und geschlafen hatten. An der Barriere wurden wir durch eine Instanz angehalten und an die andere zur Visitation gewiesen. Ich armer Teufel wurde hier in bester Form für einen Hebräer angesehen, der wohl Juwelen oder Brabanter Spitzen einpaschen könnte. Über die Physiognomie! Aber man mußte doch den casum in terminis gehabt haben. Mein ganzer Tornister wurde ausgepackt, meine weiße und schwarze Wäsche durchwühlt, mein Homer beguckt, mein Theokrit herumgeworfen und mein Virgil beschaut, ob nicht vielleicht etwas französischer Kontrebant darin stecke; meine Taschen wurden betastet und selbst meine Beinkleider fast bis an das heilige Bein durchsucht; alles sehr höflich, so viel nämlich Höflichkeit bei einem solchen Prozesse stattfinden kann. I must needs have the face of a smuggler. Meine Briefe wurden mir aus dem Taschenbuche genommen, und dazu mußte ich einen goldenen Dukaten eventuelle Strafe niederlegen, weil ich gegen ein Gesetz gesündigt hatte, dessen Existenz ich gar nicht wußte und zu wissen gar nicht gehalten bin: „Du sollst kein versiegeltes Blättchen in deinem Taschenbuche tragen.“ Der Henker kann so ein Gebot im Dekalogus oder in den Pandekten suchen. Aus besondere Güte, und da man doch am Ende wohl einsah, daß ich weder mit Brüssler Kanten handelte noch die Post betrügen wollte, erhielt ich die Briefe nach drei Tagen wieder zurück, ohne weitere Strafe, als daß man mir für den schönen vollwichtigen Dukaten, nach der Kaisertaxe, von welcher kein Kaufmann in der Residenz mehr etwas weiß, neue blecherne Zwölfkreuzerstücke gab. Übrigens ging alles freundlich und höflich her, an der Barriere, auf der Post, und auf der Polizei. Wider alles Vermuten bekümmerte man sich um uns mit keiner Silbe weiter, als daß man unsere Pässe dort behielt und sagte, bei der Abreise möchten wir sie wieder abholen. Sobald ich meine Empfehlungsbriefe von der Post wieder erhalten hatte, wandelte ich herum, sie zu überliefern und meine Personalität vorzustellen. Die Herren waren alle sehr freundschaftlich und honorierten die Zettelchen mit wahrer Teilnahme. Ich könnte Dir hier mehrere brave Männer unserer Nation nennen, denen ich nicht unwillkommen war, und die ich hier zum ersten Male sah; aber Du bist mit ihrem Wert und ihrer Humanität schon mehr bekannt als ich.


Gestern war ich bei Füger und hatte eine schöne Stunde wahren Genusses. Der Mann hat mich mit seinen Gesinnungen und seiner Handelsweise sehr inter essiert. Er hatte eben Geschäfte, und ich konnte daher seine offene Ungezwungenheit desto besser bemerken; denn er besorgte sie so leicht, als ob er allein gewesen wäre, ohne uns dabei zu vernachlässigen. Wer in den Zimmern eines solchen Mannes Langeweile hat, für den ist keine Rettung. Er hat ebenso einen Achilles bei dem Leichname des Patroklus vollendet, der auch nun gezeichnet und in Kupfer gestochen werden soll. Ich hatte die Stelle nur noch einige Tage vorher in meinem Homer gelesen; Du kannst also denken, mit welcher Begierde ich an dem Stücke hing. Es ist ein bezauberndes Bild. Der junge Held in Lebensgröße bei dem Toten, der bis an die Brust neben ihm sichtbar ist, scheint sich soeben von seinem tiefsten Schmerz zu erholen und Rache zu beschließen. Die Figur ist ganz nackt und scheint mir ein Meisterstück der Zeichnung und Färbung; aber der Kopf ist göttlich. Du weißt, ich bin nicht Enthusiast, aber ich konnte mich kaum im Anschauen sättigen. Wenn meine Stimme etwas gelten könnte, würde ich mit der himmlisch jugendlichen Schönheit des Gesichts nicht ganz zufrieden sein. Der Held, der hier vorgestellt werden sollte, ist nicht mehr der Jüngling, den Ulysses unter den Töchtern Lykomeds hervorsuchte; es ist der Pelide, der schon gefochten und gezürnt hat, der schon der Schrecken der Trojaner war. Um dieses zu sein, scheint mir der Kopf noch zu viel aus dem Gy näceum zu haben. Mich deucht, der Mann sollte schon etwas vollendeter sein; die Periode ist selbst nur sehr kurze Zeit vor seinem eigenen Tode. Ich bescheide mich sehr gern und überlasse dieses den Eingeweihten der Kunst. Ein Sklave steht hinter ihm, auf dessen Gesichte man Erstaunen und Furcht liest.

Mehr als alles war mir wichtig sein Zimmer der Messiade. Hier hängt fast zu jedem Gesange eine Meisterzeichnung, an der sein Geist mit Liebe und Eifer gearbeitet hat. Er sagte mir, daß er vor Angst einige Wochen nicht zum Entschlusse habe kommen können, was er mit dem Gedicht anfangen solle, bis auf einmal die ganze Reihe der Szenen sich ihm dargestellt habe. Es sind zwanzig, und nur von vieren hat Göschen die Kupfer zu seiner schönen Ausgabe erhalten. Es wäre wert, daß Göschen mit seinem gewöhnlichen Enthusiasmus für Wahrheit und Schönheit in der Kunst mit wackern Künstlern sich entschlösse, sie dem Publikum alle mitzuteilen; aber die Unternehmung würde keinen kleinen Aufwand erfordern, wenn Füger auf keine Weise leiden sollte. Figuren und Gruppen sind vortrefflich, die apostolischen Gesichter bezaubernd und Judas mit dem Satan gräßlich charakteristisch, ohne Karikatur. Vorzüglich hat mich das Blatt gerührt, wo der Apostel nach dem Tode des geliebten Lehrers den Weibern die Dornenkrone bringt. Die Stelle ist ein Meisterwerk des Pathos im Gedicht; das hat der Künstler gefühlt und sein Gefühl mit voller Seele der Gruppe eingehaucht. Der Eifer des Kaiphas ist ein Feuerstrom, und der Hauptmann der Römer gleicht einem, der in seinem Schrecken es noch zeigt, daß er zu dem alten Kapitol gehört. Porcia ist ein göttliches Weib. Am wenigsten hat mich das erste und letzte Blatt befriedigen wollen, weil ich mich mit der Personifizierung der Gottheit nicht vertragen kann. Man nehme das Ideal noch so hoch, es kommt immer nur ein Jupiter Olympius; und diesen will ich nicht haben; es ist mir nicht genug. Christus ist das erhabenste Ideal der christlichen Kunst. Er ist selbst nach der orthodoxesten Lehre noch unser Bruder. Bis zu ihm kann sich unsere Sinnlichkeit erheben, aber weiter nicht. Unsere Apostel und Heiligen sind die Götter und Heroen des alten Mythus. Bis zu Platos einzig wirklichem Wesen hat sich auch kein griechischer Künstler emporgewagt. Der olympische Jupiter ist der homerische. Ich wünschte Klopstock und Wieland nur eine Stunde hier in diesem Zimmer: sie würden Lohn für ihre Arbeit finden und Füger für die seinige.

Ich muß Dir noch über zwei Stücke von Füger etwas sagen, die ich in den Zimmern des Grafen Fries antraf, und die Du vielleicht noch nicht kennst. Der Graf erinnerte sich meiner mit Güte von der Akademie her, und seine Freundlichkeit und Gefälligkeit gegen Fremde, so wie sein Enthusiasmus für Kunst und Wissenschaft, in denen er seinen besten Genuß hat, sind allgemein bekannt. Die beiden Gemälde sind ziemlich neu, denn das erste ist nur zwei Jahre alt und das zweite noch jünger. Das erste ist Brutus der Alte, wie er seine Söhne verdammt; und der Moment ist das furchtbare: Expedi secures! Man muß das Ganze mit einem Blicke umfassen können, um die Größe der Wirkung zu haben, die der Künstler hervorgebracht hat. Jede Beschreibung, die auseinandersetzt, schwächt. Das Stück ist reich an Figuren, aber es ist keine müßig; sie gehören alle zur Katastrophe oder nehmen Anteil daran. Alles ist richtiger, eigentümlicher Charakter, vom Konsul bis zum Liktor. Alles ist echt römisch und schön und groß. Ich darf nicht wagen zu beschreiben; es muß gesehen werden. Vorzüglich rührend für mich war eine sehr glückliche Episode, die, soviel ich mich erinnere, der alte Geschichtschreiber nicht hat, oder wenn er sie hat, wirkt sie hier im Bilde mächtiger als bei ihm in der Erzählung. Ein ziemlich alter Mann steht mit seinen zwei Knaben in der Entfernung und deutet mit dem ganzen Ausdruck eines flammenden Patriotismus auf den Richter und das Gericht hin, als ob er sagen wollte: „Bei den Göttern, so müßte ich gegen euch sein, wenn ihr würdet wie diese!“ Vater und Söhne sind für mich unbeschreiblich schön.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802