Ministerkrisis.

Der Reichskanzler hat seine Entlassung angeboten. Alle Gutgesinnten können dies nur aufrichtig bedauern, zumal nach den gestrigen Vorfall. Aber der Reichskanzler soll etwas überarbeitet und nervös aufgeregt sein. Es wäre wirklich kein Wunder. Denn er hat das Hundertfache zu denken und zu arbeiten von demjenigen, was früher die Reichskanzler der Bourgeoisie zu tun hatten. Der Undank der Menge hat ihn tief gekränkt. Der Vorfall am Schlossportal war der letzte Tropfen welcher das Faß zum überlaufen brachte.

Die Stiefelwichsfrage hat allerdings die Ministerkrisis veranlaßt. Es wird jetzt bekannt, das der Reichskanzler schon vor längerer Zeit dem Staatsministerium eine ausführliche Druckschrift überreicht hat, über welche die Beschlussfassung stets ausgesetzt worden ist. Nun besteht der Reichskanzler auf sofortige Entscheidung und hat seine Denkschrift im „Vorwärts“ veröffentlichen lassen. Die Denkschrift verlangt, daß Unterschiede gemacht werden. Er könne die Dienstleistungen Anderer für seine Person nicht entbehren. Der achtstündige Maximalarbeitstag ist für den Reichskanzler tatsächlich nicht vorhanden, es sei denn, daß man statt eines Reichskanzlers drei Reichskanzler einsetzt, welche innerhalb 24 Stunden umschichtig je 8 Stunden zu regieren hatten. Der Reichskanzler hat, wie er ausführt, an jedem Morgen sehr viel Zeit und Arbeitskraft verloren mit dem Reinigen seiner Stiefel und seiner Kleidung, mit dem Zimmeraufräumen, dem Frühstückholen u. s. w. Infolge dessen hätten wichtige Staatsgeschäfte, welche nur er erledigen könnte, einen Aufschub erfahren müssen. Habe er nicht mit abgerissenen Knöpfen vor den Botschaftern auswärtiger Mächte erscheinen wollen, so hätte er selbst — der Kanzler ist bekanntlich unverheiratet — sich alle Kleiderreparaturen besorgen müssen, die nicht warten können auf die Abholung zu den großen Reparaturanstalten des Staates. Solchen großen Zeitverlust hätte er bei entsprechender Hilfeleistung durch einen Diener zum Besten der Gesamtheit ersparen können. Auch das Essen in der ihm zugewiesenen Staatsküche war lästig wegen des Andranges von Bittstellern, welche dort förmlich auf ihn Jagd machten. Spazierfahrten in den Tiergarten mit seiner Dienstequipage will der Kanzler nur unternommen haben, wenn es ihm wegen der beschränkten Zeit unmöglich gewesen sei, auf andere Weise Erholung in der frischen Lust zu suchen.


Das hört sich ja Alles sehr plausibel an, aber leugnen läßt sich doch nicht, daß der Antrag des Reichskanzlers das Prinzip der sozialen Gleichheit verletzt und geeignet ist, mit den Dienstboten die Haussklaverei wieder einzuführen. Denn was der Reichskanzler für sich verlangt, könnten mit demselben Recht auch alle Übrigen Minister und Ministerialdirektoren, vielleicht sogar die vortragenden Räte, die Direktoren großer Staatsanstalten, Oberbürgermeister und Magistratsmitglieder für sich beanspruchen. Andererseits ist es auch misslich, wenn die ganze Staatsmaschine, auf deren akkuraten Gang bei unseren großen Organisationen so unendlich viel ankommt, ins Stocken gerät, weil der Reichskanzler sich zunächst die Knöpfe annähen oder die Stiefel putzen muß, bevor er eine Audienz erteilen kann.

Hier liegt allerdings eine Frage von größerer Tragweite vor, als es aus den ersten Blick Manchem erschienen sein mag. Daß jedoch ein so ausgezeichneter Reichskanzler und zielbewusster Sozialdemokrat auf seiner Laufbahn über diesen Stein stolpern soll, will mir noch nicht in den Sinn.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder