Schiller und Goethe

Einleitung zu literarischen Unterhaltungen
Autor: Gutzkow, Karl (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist, Erscheinungsjahr: 1853
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Goethe, Schiller, Volksdichter
Aus: Unterhaltung am häuslichen Herd von Karl Gutzkow. 1. Band 1853.
Schiller und Goethe — sind gewesen.

Die Möglichkeit, dass noch einmal wieder Dichter auftauchen, die wenn auch nur auf einige Zeit Deutschland so ergreifen und beschäftigen wie Schiller und Goethe oder wie noch jetzt etwa Humboldt die Naturwissenschaften, Liebig die Unterscheidung der Stoffe, Jakob Grimm die Sprachforschung beherrscht, eine solche Möglichkeit kann kein Deutscher, der die großen Entwickelungen seines Volkes und die Kraft der Schultern kennt, mit denen Einzelne unsers Stammes oft ganze Epochen trugen, in Abrede stellen wollen. Für den Augenblick aber stehen die goldenen großen olympischen Stühle leer.

Einige ältere Dichter leben noch. Immergrüne Kränze schmücken ihre greisen Schläfe. Arndt wirft noch manches kräftige, oft gereimte Wort in die Zeit; aber ein großer Ausdruck derselben ist sein sonst frischer und männlicher Genius nie gewesen. Tieck ist dem werdenden Geschlecht völlig abgewandt, sammelt nur und legt sich mit Behagen die schöne Vergangenheit zurecht. Uhland, der Dichter der Natur im Sonnenschein, reist wohl noch durch deutsche Lande, aber mit dem beflissensten Inkognito. Er forscht nach alten Volksliedern. Seine Bescheidenheit oder sein altschwäbisches Sichnichtgernbeengtfühlen entflieht, wo er nur kann, den nächtlichen Ständchen, die ihm wenigstens die Liederkränze noch bringen wollen. Diese Geister, die wir Älteren jung verehrten, wie einsam stehen sie schon, wenn ein Berliner Kritiker in der Voß'schen Zeitung bei Gelegenheit einer Besprechung eines auf der dortigen Kunstausstellung befindlichen Gemäldes über Uhlands Eberhard der Rauschebart vor der „Hauptstadt der deutschen Intelligenz“ neulich drucken lassen konnte: „Wir haben diese Ballade, leider nicht sogleich zur Hand.“ (Siehe Voß'sche Zeltung, Nr. 222.) Rückert endlich, der Kunstvollste der Poeten und auch zuweilen nur der goldenen Reimschmiede Einer, Rückert arbeitet gewiss, und wird uns wieder vom Parnaß die jetzt modegewordene sogenannte Hasifische Leierei durch gestähltere Damascenerpoesie, als solche, in der nichts wiederholt wird, als: Pereant die Bonzen! Vivat die Schenke! mit kräftiger Hand verjagen. Aber kein Einziger dieser Geister, selbst wenn sie in den Vordergrund träten, schwänge Szepter wie Schiller einst und Goethe.

Zum Trost für die Kleinen, die gern die Erbschaft von Weimar und Jena angetreten hätten, lässt sich zweierlei sagen.

Goethe und Schiller waren zu ihren Lebzeiten entweder nie oder nur kurze Zeit so bewundert, wie sie es jetzt sind. Geduldet euch also! Goethe und Schiller hatten Feinde und Rivalen wie ihr! Es gab Zeitschriften und Musenalmanache, wo ihre Namen so klein neben denen von hundert Dilettanten standen, wie ihr jetzt, ertragen müsst, dass man euch wie im Messkatalog alphabetisch aneinander reiht! Haltet nur aus, ihr Wackern! Wodurch ist Goethe so emporgestiegen? Man könnte vielleicht sagen: weil er trotz aller Kritik die volle Neugier, das Interesse, die Spannung (selbst der Feindschaft) für sich hatte; aber es gefällt euch gewiss besser, wenn wir hinzufügen: Es bildete sich eine Clique für ihn. Ja in der Tat, zwei, drei Namen allein hielten ihn auf ihrem Schilde empor. Zuletzt gab es endlich eine neue Richtung, die romantische Schule, die nirgends Anklang fand, die überall verspottet, überall zurückgewiesen, nicht gelesen wurde; diese konnte sich, um zu Anerkennung zu kommen, nicht anders helfen, als dass sie den seit dem anfangs wenig gewürdigten „Tasso“, seit der an Einfachheit oft überreichen „Iphigenie“ und Versen wie:

Seid überzeugt, der Wunsch, euch zu gefallen,
Belebt die Brust von Jedem, der vor euch
Auf diese Bühne tritt. Und sollt' es uns
Nicht stets gelingen, so bedenkt doch ja,
Dass uns're Kunst mit großen Schwierigkeiten
Zu kämpfen hat; u. s. w.

Oder:

Alles geht natürlich.
Als hätt' es keine Mühe, keinen Fleiß
Gekostet. Aber dann, wann eben das,
Gelingt; wenn Alles geht, als müsst' es nur
So geh'n: dann hatte Mancher sich vorher
Den Kopf zerbrochen; u. s. w. *)

*) Goethes Werke, Bd. 6

ich sage, eine Schule, die den damals etwas abwärtsgehenden großen Dichter des „Faust“ zu ihrem König und Herrn, sich zu Schülern und Parteigängern machte und ihn mit einem Nachdruck pries, der von einer Minorität ausgehend endlich größere Kreise zog und zuletzt sich in die unbestrittene Tatsache der nationalen Bewunderung verlor. Ja, man darf euch verraten, dass selbst Schiller, als er in Jena zu philosophieren anfing, in seiner schwebenden Grübel- und Selbstbelehrungskammer zwar nicht so verspottet wurde wie in seinem öffentlich zur Schau gestellten Phrontisterion Sokrates einst von Aristophanes, aber ungern und murrend sah man allgemein die Gefahr, in die Schiller durch die Nähe Weimars geriet. Erst durch seine geschichtlichen Dramen wieder brach sich Schiller die Bahn zum alten Herzen des Volkes, dem er, auch vielleicht noch — ein neuer freilich bitterer Trost! — in unterstützender Folge seines frühen Todes, sein geliebtester Liebling geblieben ist. Es ist erwiesen, dass die in Literatursachen herrschende öffentliche Meinung, die Empfehlung der Literatur durch die Kritik, durch die Erziehung, durch die Geistlichkeit, die Schule, den Universitätskatheder und den sammelnden Literaturfreund um schwer und Goethe Jahre lang prüfend und scheu herumging, während man sich mit Klopstock, Lessing, Voß, Bürger, Claudius, Jean Paul und Andern sogleich auf den Fuß einer fast unbedingten Bewunderung setzte.

Dies ist der eine Trost. Und der andere liegt darin, dass auch die Zeit der Alleinherrschaft großer Geister nicht mehr günstig ist. Ihr hörtet zuweilen von den gewaltigen Felsenwanderungen der Schweiz. Eine solche Wanderung, Schicht auf Schicht, Geschiebe auf Geschiebe rückend, ist nun bereits seit fünfzig Jahren mit den Massen auch im Geschichtsleben eingetreten. Alles drängt beängstigt auf irgend einen Niedersturz und hoffend auf irgend eine Erhebung in neuer Lebensform. Was vermag in solchem Tumult die einzelne Geisteskraft, die, wenn sie wirken will, Gelegenheit finden muss, sich in der Welt ruhig auszuarbeiten und ihre eigenen Zuckungen in den Zeitgenossen zur Ruhe bringen zu können! Man kann jetzt wohl einmal etwas, wie die Schießbaumwolle, den Schwefeläther und was nicht sonst erfinden und aufbringen; man kann diese große Felsenwanderung einen Moment sprengen oder bei Seite schieben oder den Ehrgeiz der Masse betäuben; man kann irgend einmal etwas Neues oder Überraschendes auf kurze Zeit der Welt in den Weg stellen; aber ein individuelles Leben, eine Entwickelung, ein Sichselberklar- und Insichselberstreifwerden anzulegen auf die Zeit hin, dass die dabei ruhig zusähe oder sich Ummodelung durch den Genius gefallen ließe, das scheint fast unmöglich geworden. In der Dichtkunst nun vollends muss Das, was die Herzen aller Hörer zwingt, immer doch aus jenem urkräftig glücklichen Behagen kommen, das unserer Zeit nicht gegeben ist und ihr wohl noch lange versagt bleiben wird. Ein Einzelner kann nur in stiller Ruhe Welten bauen. Nicht in, sondern nach den Perserkriegen blühte die griechische Dichtkunst. Sie welkte mit dem Beginn der innern Kämpfe zwischen Sparta und Athen. In der Ruhe des Augusteischen Zeitalters, in der allgemeinen Sehnsucht nach endlicher Freiheit von der Willkür einzelner Parteiführer, sangen Virgil und Horaz. Unter Elisabeths glücklicher Szepterführung dichtete Shakespeare. Unter Ludwig XIV., dessen äußere Kriege die innere französische Welt wenig berührten, schrieben Corneille und Racine. In der träumerisch-idyllischen Zeit von 1770 — 1790, wo der Fürst im Ordenskleide den Bettler im „Leinwandkittel“ an sein nur für philanthropische Ideen schlagendes Herz drückte, legten Schiller und Goethe die festesten Grundlagen ihres ewigen Ruhmes.