Zweites Capitel. - Lebensessenz. - Nicht einem Strome, einem Wasserfalle gleicht hier das Leben; es fließt nicht, es stürzt mit betäubendem Geräusch. ...

II. Lebensessenz

Nicht einem Strome, einem Wasserfalle gleicht hier das Leben; es fließt nicht, es stürzt mit betäubendem Geräusch. Die Zeit wird nicht mit tausend Liebkosungen abgeschmeichelt, und der Hunger ist der einzige Zeiger, welcher die Zahl der verbrauchten Stunden ehrlich angibt. Wer lange leben will, der bleibe in Deutschland, besuche im Sommer die Bäder und lese im Winter die Protokolle der Ständeversammlungen. Wer aber Herz genug hat, die Breite des Lebens seiner Länge vorzuziehen, der komme nach Paris. Jeder Gedanke blühet hier schnell zur Empfindung hinauf, jede Empfindung reift schnell zum Genusse hinan; Geist, Herz und Sinn suchen und finden sich – keine Mauer einer traurigen Psychologie hält sie getrennt. Wenn man in Deutschland das Leben destillieren muß, um zu etwas Feurigem, Erquicklichem zu kommen, muß man es hier mit Wasser verdünnen, es für den täglichen Gebrauch trinkbar zu machen. Paris ist der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft. Es ist ein Register der Weltgeschichte, und man braucht bloß die alphabetische Ordnung zu kennen, um alles aufzufinden. Es ist schwer hier, dumm zu bleiben, denn habe der Geist auch keine eigenen Flügel, er wird von andern emporgetragen. Doch verzweifle darum keiner, der Beharrlichkeit gelingt alles.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.