Viertes Capitel. - Das Gastmahl der Spieler. - Deutsche Handels- und sonstige Geschäftsleute, die sich weniger aus Büchern als aus Manuskripten machen, glauben gewöhnlich, wir Stubengelehrten wären dumm in allen weltlichen ungedruckten Dingen;...

IV. Das Gastmahl der Spieler

Deutsche Handels- und sonstige Geschäftsleute, die sich weniger aus Büchern als aus Manuskripten machen, glauben gewöhnlich, wir Stubengelehrten wären dumm in allen weltlichen ungedruckten Dingen; sie halten uns für eine Art Nachtigallen, die nur im stillen und dunkeln munter sind. Ich selbst war lange dieser Meinung, und es war mir ein rechter Trost, zu wissen, daß meine Gelehrsamkeit nicht übermäßig groß sei. Ich bin aber von dieser Ansicht zurückgekommen, besonders seitdem ich in Paris lebe. Ich habe gefunden, daß wir Generalgeographen mit Kompaß und Sternkunde leichter selbst die Feldwege der großen Welt als die Geschäftsleute mit ihrer Spezialkarte die Landstraßen darin finden. Ausgerüstet mit Hofbauers empirischer Psychologie und andern schönen philosophischen Kenntnissen, wußte ich trotz meiner Jugend mich in Paris vor jeder Prellerei zu schützen und verirrte mich nie auf den mäandrischen Wegen der List und Lust. Mehrere deutsche Geschäftsleute aber, die ich dort kennen gelernt, kamen schlimm weg und wurden in allen Artikeln, die sie zu Hause nicht in ihrem Warenladen führten, heillos betrogen. Ein Bremer Spediteur lobte mir seinen Lohnbedienten als die ehrlichste Haut von der Welt. Ich kam, hörte, kannte ihn und schloß aus transcendentalen Gründen, daß der Kerl ein Spitzbube sei. Er hatte als rüstiger junger Mann der Bestürmung der Bastille beigewohnt, war während der Revolution, die Kaiserzeit eingerechnet, nacheinander Kutscher, Friseur, Wasserträger, Portier und Kommissionär gewesen, nach der Restauration aber, wie viele andere, Lohnbedienter geworden. Sechsundfünfzig Jahre alt, war er noch voller Sentimentalität. Er sagte, all sein Streben sei, so viel Geld zusammen zu sparen, in sein friedliches Geburtsdörfchen, an den lieblichen Ufern der Loire, zurückkehren zu können, um dort, fern von dem verdorbenen Paris, seine Tage zu beschließen. Er unterrichtete den Bremer von allen ihm noch unbekannten Wegen der Liederlichkeit, um ihn davor zu warnen. Er konnte ihm besonders die Spieler und Spielhäuser nicht schwarz genug schildern und sprach mit Wehmut von den lasterhaften Mitteln, die angewendet würden, Fremde ins Verderben zu führen. Da wäre unter andern ein großes Spielhaus, wo jede Woche zweimal offene Tafel für Fremde gehalten würde, an der man königlich speise. Der Bremer, der als reicher Mann wohl schon fürstlich gegessen haben mochte, aber königlich noch nie, bezeigte große Lust, einmal in dem Lockspeisehause zu essen. Der ehrliche Lohnbediente zuckte warnend die Achseln, aber den folgenden Tag erhielt mein Freund eine höfliche Einladung von der Spieldirektion, für sich und noch zwei andere Personen gültig. Er forderte mich auf, ihn zu begleiten. Um fünf Uhr nachmittags gingen wir in das bezeichnete Hotel. Mit der Zuversicht, die sich ein tugendhafter Mann Spitzbuben gegenüber fühlt, trat ich in das palastähnliche Haus. Aber mein Gott, was ist der Mensch für ein Narr, und wie schwach sind seine Augen, daß er sich von jeder erlogenen Majestät, selbst der des schlechtesten Tombaks, blenden läßt! Es war im Spieltempel alles so feierlich, so ernst, abgemessen und anständig, daß das humoristische Behagen, mit dem ich gekommen war, schnell verschwand, und ich einige Stunden lang in der größten Verlegenheit war. Ich glaubte am Hofe Philipps II. zu sein, und es bedurfte des Champagners und anderer edeln Weine, mein schwaches Herz wieder zu stärken.


Schon auf der Straße vor dem Hotel ward uns schlimm zumute. Die glänzendesten Equipagen, Jäger hintenauf, kamen angefahren, und heraus stiegen nur Leute mit Ordensternen und Bändern. Wir waren die einzigen Fußgänger, die sich zeigten. Der Portier, als wir seine Loge vorbeikamen, rief uns zu, wohin wir wollten? Wir antworteten, wir kämen, mit den Spielern zu essen! Der Portier lachte und sagte, hier äße man nicht. Der Bremer zeigte seine Einladungskarte als Paß vor und wir durften weiter gehen. Wir traten in ein ebener Erde gelegenes Zimmer, wo ein Dutzend übermütiger Lakaien ihr Wesen trieb. Der Bremer fragte: wo man äße? Erhielt zur Antwort: Hier nicht! – Wir gingen wieder hinaus, eine Treppe hinauf, wo wir den Speisesaal entdeckten. Der Bremer fragte die Bedienten, die noch mit Zubereitungen beschäftigt waren: wann man äße. Die Schlingels gaben ihm keine Antwort. Wir stiegen wieder hinab und gingen abermals in das Bedientenzimmer. Auf die Frage: was wir suchten? zeigte der Bremer zum zweiten Male seine Einladungskarte vor, worauf man uns die Hüte abnahm und uns in die Gesellschaftszimmer wies. Beim Eintreten bemerkte ich, daß mir mehrere Herren ernsthaft auf die Füße sahen, und ich gewahrte mit Schrecken, daß ich der einzige war, der in Stiefeln erschien. Ich setzte mich an einen Lesetisch, um meine Füße zu verbergen und nur Kopf und Herz zu zeigen, und las einige Ultrablätter. Als ich wieder aufgestanden, kam ein großer, stattlicher Mann, majestätischer Haltung, gleich Ludwigs XIV. seine, zu mir und fragte, wer ich wäre und was ich wollte? Der Herr hatte das Kinn im Halstuche, was ein schlimmes Zeichen war; den Studiosen der Menschenkenntnis muß ich die Lehre geben, daß man Leuten, die ihr Kinn im Halstuch tragen, zwar trauen soll, aber nicht viel. Ich übersah sogleich das Mißliche meiner Lage, und hatte die Geistesgegenwart, mich anzustellen, als verstünd ich ihn nicht. Da ich ihm aber antworten mußte, beschloß ich, eine Sprache mit ihm zu sprechen, die er auch nicht verstand. Aber welche? Das war die Frage. Zwar kennt in der Regel ein Franzose nur seine Muttersprache; aber Spieler sind Kosmopoliten und Polyglotten. Ich bereitete also in der Schnelle ein Zungenragout vom deutschen Herr, dem italienischen Signore und dem englischen Sir. Die Olla Potrida tat ihre Wirkung. Es kam nämlich alles darauf an, Zeit zu gewinnen, bis mein Bremer Freund, der sich entfernt hatte, wieder herbeikäme. Endlich erschien dieser, und ich gab pantomimisch zu verstehen, das sei der Mann, der über mich die beste Auskunft geben könnte. Der stattliche Herr (wie ich später erfuhr, ein Marquis, von der Spielgesellschaft angestellt, in diesem Hause die Honneurs zu machen) fragte den Bremer, als ihm dieser unter mehreren Kratzfüßen bemerkt, er habe mich mitgebracht, wer er sei? Der Bremer nannte sich. Der Marquis erwiderte, er habe nicht die Ehre, ihn zu kennen; da zeigte der Bremer zum dritten Male seine Einladungskarte vor. Jetzt hieß uns der Marquis willkommen, und als er vernahm, wir wären Deutsche, bemerkte er, er sei auch in Wien gewesen: die Franzosen nämlich halten Wien für die Hauptstadt Deutschlands und wissen nichts von unseren glücklichen kleinen Föderativstaaten.

Man ging zu Tische. Ich habe zwar schon mehrere deutsche Höfe speisen sehen, aber nur aus der Vogelperspektive, von der Galerie herab. Es war das erste Mal, daß ich an einer fürstlichen Tafel tätigen Anteil genommen, als wirkliches Mitglied. Welche Pracht und Herrlichkeit! Zum Glück war ich an jenem Tage nicht sentimental gestimmt, sonst hätte ich keinen Bissen essen können. Ich hätte mir vorgestellt, daß alle diese Speisen in Blut und Tränen gekocht sind, von den Selbstmördern und Verzweiflungsvollen vergossen, welche täglich in den Pariser Spielhäusern ausgeplündert werden. Doch muß ich bemerken, daß es sich sämtliche Gäste sehr schmecken ließen, welches ein erfreuliches Zeichen von noch übrig gebliebener Tugend war; denn vollendete Spieler und Gauner leben bekanntlich wie die Anachoreten und essen und trinken wenig. In der Mitte der eirunden Tafel saß der Marquis und Zeremonienmeister, über alle hervorragend an Gestalt und würdigem Betragen. Unaufhörlich, während der ganzen Mahlzeit, brachten ihm Adjutanten versiegelte Depeschen, in Duodez, Kleinquart und Großfolio, deren Siegel von bedeutendem Umfange waren. Der Marquis erbrach sie, las sie, ohne eine Miene zu verziehen, und reichte sie dann einem hinter ihm stehenden Lakaien. Es ging in seiner Nähe her wie in einem Hauptquartier. Ich fragte meine empirische Psychologie, was diese häufige Korrespondenz zu bedeuten habe? Sie antwortete mir: es wären unschuldige Liebesbriefe, welche die Polizei mit dem Marquis wechsele. Jene stünde nämlich mit der Spieldirektion in den freundschaftlichsten Verhältnissen, und beide teilten sich wechselseitig ihre anthropologischen Erfahrungen mit. Übrigens ging es bei Tische langweilig genug her, und ich vermochte mir die Zeit nur dadurch zu verkürzen, daß ich in meinem Sinne scherzhafte und zeitgemäße Gespräche mit der Gesellschaft pflog. So dachte ich, wie artig es wäre, wenn ich beim Dessert mich vom Stuhle erhübe und riefe: Meine Herren, wir sind unter uns, lassen Sie uns dieses Glas auf das Wohl Napoleons II. leeren! – Oder wenn ich dem Marquis über die ganze Breite des Tisches die Frage zuschickte: ob er Schleiermachers Übersetzung des Plato kenne? – Oder wenn ich mit meinem Nachbar links über die Verderblichkeit der Hazardspiele laut spräche und meinen Nachbar rechts fragte: Franchement, Monsieur, que pensez-vouz des fausses années de voyage de Guillaume Meister, par Monsieur Pustkuchen?

Nach dem Essen und eingenommenen Kaffee begann das Spiel. Mein Bremer Freund bemerkte mir, wir beide zusammen hätten wohl fünfzig Franken, im Wirtshauspreise berechnet, bei Tische verzehrt, und es wäre doch sehr undelikat, wenn nicht einer von uns spielen wollte. Ich erwiderte ihm, wenn er zart sein wolle, hätte ich nichts dagegen; ich selbst aber würde nicht spielen. Der Bremer spielte und trieb die Delikatesse so weit, daß er zwölfhundert Franken verlor. Ich wiederholte unterdessen einige Betrachtungen, die ich an Hazardspieltischen schon oft angestellt. Erstens die: daß die Ernsthaftigkeit, mit welcher die Bankhalter ihr nichtswürdiges Geschäft treiben, ganz unerträglich sei. Sie könnten immer etwas dabei scherzen; die giftigsten Schlangen hätten wenigstens eine schöne Haut. Aber freilich ist diese Ernsthaftigkeit eine der Todsünden der Menschen; der ihnen eingeborne Hochmutsteufel spricht sich darin am deutlichsten aus. Friedrich Schlegel mag tun und sagen was er will, er wird nie das herrliche Wort vergessen machen, das er einst ausgesprochen: „Der Mensch ist eine ernsthafte Bestie.“ Ganz gewiß haben die alten römischen Senatoren, da die Gallier vor ihrer Stadt waren, kein wichtigeres Gesicht gemacht, als jeder Paßbureauist annimmt, wenn er uns signalisiert. Am ärgerlichsten war mir diese Ernsthaftigkeit immer an Bankiers und andern Handelsleuten gewesen. Geld zählen und verdienen und den Gewinn berechnen ist zwar ein sehr heiteres Geschäft, aber durchaus kein erhabenes, und es ist gar nicht zu begreifen, warum jene Herren, wenn man auf ihr Comptoir kommt, eine so ehrfurchtgebietende Miene annehmen! – Die zweite Betrachtung, die ich an Hazardspieltischen anzustellen pflege, ist folgende: Wenn man alle die Kraft und Leidenschaft, die Seelenbewegungen und Anstrengungen, die Ängsten und Hoffnungen, die Nachtwachen, Freuden und Schmerzen, die jährlich in Europa an Spieltischen vergeudet werden, wenn man dieses alles zusammensparte – würde es ausreichen, ein römisches Volk und eine römische Geschichte daraus zu bilden? Aber das ist es eben! Weil jeder Mensch als Römer geboren wird, sucht ihn die bürgerliche Gesellschaft zu entrömern, und darum sind Hazard-und Gesellschaftsspiele, Romane, italienische Opern und elegante Zeitungen, Casinos, Teegesellschaften und Lotterien, Lehr- und Wanderjahre, Garnisons-und Wachparadendienste, Zeremonien und Aufwartungen und die fünfzehn bis zwanzig anliegende Kleidungsstücke, die man täglich mit heilsamem Zeitverlust an- und auszuziehen hat – darum ist dieses alles eingeführt, daß die überflüssige Kraft unmerklich verdünste! Noch glücklich, daß es dem Menschen nicht mit der Natur gelingt, was sie mit der Menschheit zustande gebracht; sie hätten das Weltmeer schon längst in Springbrünnchen zertröpfelt und Vulkane in chinesische Feuerwerke verpufft, daß Sturm und Lava ja kein Verderben drohe!

Wir gingen nach Hause; ich an Leib und Seele gestärkt, der Bremer aber sehr verstimmt. Er erzählte seinem ehrlichen Lohnbedienten, wie schlimm es ihm ergangen. Bei dieser Gelegenheit sah ich abermals, was die Franzosen für liebenswürdige Menschen sind. Ein pedantischer deutscher Sittenprediger, der, wie der Lohnbediente es getan, den Bremer vor Spielern gewarnt, hätte diesen, nachdem er seine Warnung nicht geachtet und dadurch in Schaden gekommen, mit Vorwürfen überhäuft und gesagt: es geschieht Ihnen recht, warum haben Sie mir nicht gefolgt! Unser edler Lohnbediente aber betrug sich ganz anders. Anfänglich, als der Bremer sein Mißgeschick erzählte, lächelte er und schwieg und dividierte wahrscheinlich im stillen, wieviel er von der Spielergesellschaft an Courtage zu fordern habe. Dann aber sagte er bloß: Beruhigen Sie sich, mein Herr, Sie werden ein anders Mal glücklicher sein! Um ihn völlig aufzuheitern, erzählte er ihm mehrere Spieleranekdoten. Unter andern: Oben erwähnter Marquis, ehemaliger Emigrant und restaurierter Lump, habe das Glück gehabt, eine reiche Heirat zu schließen. In einer Nacht, da er sein ganzes Vermögen verspielt, habe er zuletzt das Landgut seiner Gemahlin gegen einen Engländer gesetzt und es verloren. Der Engländer sei gleich vom Spieltische weg nach Mitternacht auf das vier Stunden von Paris entfernte Gut gefahren und habe früh morgens als Hausherr heftig an der Türschelle gezogen. Die Hofhunde hätten gebellt, der Gärtner gefragt, was er so früh befehle. Der phlegmatische Engländer aber habe sich um Bellen und Fragen nicht bekümmert, sondern habe alles mit Muße und Bequemlichkeit in Augenschein genommen. Endlich sei der Gärtner grob geworden, der Engländer habe ihn darauf bei der Brust gepackt und ihn mit den Worten: „Scher' er sich zum Teufel, ich brauche seine Dienste nicht mehr!“ zum Tore hinausgeworfen. Darüber sei die Marquisin aufgewacht, wäre im Nachtkleide ganz erschrocken herabgekommen und habe den Engländer gefragt: was ihm gefällig wäre? Dieser habe geantwortet: Nichts, er wolle in seinem Park ein wenig spazieren gehen und habe der Marquisin den Abtretungsschein des Landgutes vorgezeigt. Die arme Frau wäre bald darauf vor Gram gestorben. Die Pariser Spielgesellschaft aber habe sich gegen den Marquis, wie sie es gegen ihre Schlachtopfer zuweilen zu tun pflege, sehr großmütig benommen und ihn zum Honneurmachen in genanntem Hause angestellt, wofür er täglich hundert Franken Gehalt bekomme.

Diese artige Anekdote vermochte aber den verdrießlichen Bremer nicht aufzumuntern. Ich sagte ihm: „Wären Sie ein gewöhnlicher Süddeutscher, wie ich, hätten Sie freilich Ihr Geld nicht verloren; weil Sie aber als Norddeutscher zartfühlend sind, haben Sie gespielt und sind in Schaden gekommen. Ihr Verlust entspringt also aus einer edlen Quelle, und Sie sollten sich darum trösten. Was liegt auch daran? Sie brauchen ja nur eine Kleinigkeit auf jedes Stück Kaliko zu schlagen, um sich reichlich zu entschädigen. Weil wir gerade von Kalikos sprechen, lieber Freund, folgen Sie meinem Rate, Sie werden mir es einst danken. Kaufen Sie so viele Kalikos zusammen, als in Manchester aufzutreiben sind, und zahlen Sie, was man fordert. Ich sage Ihnen, die Welt ist rund; heute rot, morgen tot. Wir legen uns gut englisch zu Bette und stehen kontinentalsystematisch auf. Es ist heute Johannistag; denken Sie an mich!“ ... Das wirkte; der Bremer drückte mir freundschaftlich die Hand, und wir wünschten uns gute Nacht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schilderungen aus Paris.