Moritz Bermann - Das Lebenslicht.

Im bildlichen Ausdruck unserer Sprache wird häufig das Leben mit einem Lichte verglichen, und der Tod erscheint als derjenige, der das Lebenslicht ausbläst oder zum Verlöschen bringt. Diesem Sprachgebrauch liegt folgende Sage zugrunde:

Es lebte einst ein mächtiger Doktor, der alle seine Zeitgenossen an Berühmtheit übertraf. Er hieß Paul Urssenbeck und wurde gewöhnlich der »Totendoktor« genannt, so wie man das Haus, in dem er wohnte und das sein Eigentum war, nur das »Totendoktorhaus« hieß. Als Grund dieser Benennung diente, daß er der einzige unter allen Ärzten war, welcher stets mit Gewißheit anzugeben wußte, ob bei dem Kranken, der sich seiner Behandlung anvertraute, sein Bemühen erfolgreich sein werde oder ob der Patient sterben müsse.


Da diese Prophezeiungen nie verfehlten, einzutreffen, so war er das Orakel seiner Kollegen; denn gegen Tatsachen konnte selbst der Neid nicht aufkommen. Man munkelte freilich viel von einem Bündnisse mit geistigen Mächten, aber wußte doch nichts Gewisses. In Wahrheit hatte sich Urssenbeck durch seine hohe Kunst die Freundschaft des Todes errungen, so daß ihm dieser manchen Gefallen erwies. Der Tod hatte ihm aber strenge Redlichkeit und edle Gesinnung zur Bedingung gemacht, wenn ihre Freundschaft Bestand haben sollte. Lange Zeit ging alles ganz gut; des Doktors Ruhm stieg von Tag zu Tag, und die mächtigsten Fürsten sowie die reichsten Adligen und Bürger nahmen seine Kenntnisse in Anspruch. Daß sich Paul Urssenbeck auf seinem Golde wälzen konnte, ist nicht zu verwundern. Mit diesem Golde war aber auch die Redlichkeit des Doktors verschwunden. Stolz, Übermut, Geiz und die niedrigste Habsucht herrschten in seinem Herzen. Der Arme wurde hohnlachend von der Türe seines Hauses fortgestoßen. Mit einem Worte, er wurde ein so schlechter Mensch, als er nur immer sein konnte.

Bisher hatte er sich begnügt, seine Ansprüche zu stellen und seinem grauenhaften Beschützer nicht entgegenzuhandeln. Als er aber sah, daß er noch zehnmal mehr Schätze gewinnen würde, wenn er den zum Tode bestimmten Reichen das Leben erhalten könnte, versuchte er es bei seinem strengen Freunde, manches Leben zu retten. Sein inständiges Flehen half aber nichts, der Tod ließ sich kein Jota von seinem Rechte nehmen. Alle Bitten waren umsonst, und schließlich befahl er dem Doktor ein für allemal, über diesen Gegenstand kein Wort mehr zu verlieren, bei augenblicklichem Verluste seines Lebens, Urssenbeck getraute sich daher auch nicht mehr, diesen Wunsch zu erwähnen.

Am 21. April des Jahres 1487 geschah es, daß er zum reichen Grafen Wilhelm dem Awrsperger (Auersperg), kaiserlichem Kämmerer, gerufen wurde. Gleich beim Eintritt bemerkte er den Tod beim Haupte des Kranken und erklärte, daß der Graf unrettbar verloren sei und daß seine Kunst ihm nicht aufzuhelfen vermöge. (Siehe Sage Seite 39, Gevatter Tod.) Mit Bitten und Tränen von der Familie bestürmt, von einer fürstlichen Belohnung, die man ihm versprach, verführt, blickte er bittend auf seinen Freund, der sich aber mit furchtbar drohendem Gesicht abwandte.

Urssenbeck bestand infolgedessen auf seinem Ausspruche. Da stellte man endlich drei Säcke mit dreißigtausend ungarischen Goldgulden zu seinen Füßen und versprach ihm die als Geschenk, wenn der Graf gesund würde. Dieser Versuchung konnte sein Geiz nicht widerstehen. Er dachte nach, wie er den Tod vom Kopfe des Kranken entfernen könnte, und verfiel auf eine List. Er ging hinaus, holte vier der stärksten Männer aus der Dienerschaft des Grafen und ließ blitzschnell, bevor sich der Tod zu fassen vermochte, das Bett des Grafen umkehren, so daß Freund Hein nun zu den Füßen des Kranken saß. Der Graf war gerettet.

Mit zögernden Schritten entfernte sich der Tod. Urssenbeck sah es ihm an, daß er seine Beute ungern fahren ließ, und der fürchterliche Drohblick, den er noch nach ihm warf, machte den Doktor innerlich erbeben. Er tröstete sich jedoch damit, daß er ihn schon versöhnen wolle, packte die Goldstücke in seine Sänfte und ließ sich heimtragen.

Als er durch einen sehr schlechten Hohlweg kam, stieg er aus und ging zu Fuße. Plötzlich stand der Tod neben ihm und grüßte ihn vornehm. Urssenbecks Herz schlug gewaltig, als er sich mit dem tief Beleidigten so einsam sah. Nichtsdestoweniger bot er allen Mut auf, grüßte ihn höflich und bat demütigst um Verzeihung, daß er sich einen solchen Eingriff in seine Rechte erlaubt habe. So entrüstet der Tod anfangs sich zeigte, so wurde er doch nach und nach besänftigt und sagte bloß, ihm mit schrecklicher Miene drohend: »Ich hoffe, Doktor, daß du mir einen solchen Streich zum ersten und zum letzten Male gespielt hast.«

Urssenbeck versprach es feierlich und entschuldigte sich mit der hohen Belohnung, die man ihm angeboten habe. Sie versöhnten sich vollends und der Tod begleitete den Doktor noch ein Stück Weges. Auf diesem Wege fragte ihn Urssenbeck, wo er denn eigentlich hingehe, da er dies schon längst gern gewußt hätte. Der Tod antwortete, er wohne unweit von hier, und es würde ihm ein Vergnügen sein, wenn er ihn in seiner Behausung besuchen wollte. Sie gingen einige Schritte weiter, bis sie zu einem Hügel kamen, auf den der Tod mit den Füßen stampfte. Dieser öffnete sich sogleich, und es zeigte sich ein Tor von schwarzen Marmor. Sie traten ein und kamen durch einen dunklen Gang, der nur allmählich heller wurde. So beklommen sich auch der Doktor fühlte, folgte er doch seinem Führer und war überrascht, als sie durch mehrere Gänge kamen, die von oben bis unten mit Millionen Kerzen besetzt waren.

»Ich bin wirklich erstaunt über diese Lichter,« sagte der Doktor. »Was bedeuten sie denn? Warum sind sie so ungleich? Einige frisch angezündet, viele Stümpchen schon dem Erlöschen nahe, manche nur noch bloßer Docht, den der leiseste Luftzug verwehen könnte!«

»Die Sache ist ganz einfach. Jedes Licht, das hier brennt, ist das Leben eines Menschen. Wo noch viel Brennmaterial, noch viel Leben, wo das Stümpchen, baldiger Tod.«

»Brennt da auch meine Lebensflamme?« fragte Urssenbeck.

»Freilich. Willst du sie sehen?«

»Sei so gefällig, sie mir zu zeigen.«

Der Tod führte den Doktor in einen Gang und zeigte ihm sein Lebenslicht. Wie vom Blitze getroffen stand Urssenbeck, denn das Stümpchen flackerte matt und war dem Erlöschen nahe. Zitternd fiel er vor dem Tode nieder.

»Hab' Erbarmen mit mir! Noch so kräftig und schon sollte ich sterben? Was wird aus meinen Reichtümern werden? Gestrenger Freund, du sollst mein Flehen erhören und mir ein neues Licht aufstecken!«

»Das ist eine sonderbare Bitte, die du an mich richtest. Das habe ich noch niemand getan. Ein neues Licht aufstecken, was fällt dir ein?«

»Sei barmherzig, wie du schon einmal gegen mich warst. Gewähre meine Bitte, siehe, ich umfasse deine Knie und flehe dich bei allem, was dir heilig ist, an, mich zu schonen!«

»Wohlan, es sei!« Der Tod griff nach dem Stümpchen, um es wegzunehmen und ein längeres Licht aufzustecken. Da er aber über die Neuheit eines solchen Vorschlages lachen mußte, so glitt durch die Erschütterung das Stümpchen aus seiner Hand und fiel zu Boden. Es erlosch alsbald. Mit ihm lag auch Doktor Urssenbeck auf der Erde und war verschieden. Trauernd blickte Freund Hein auf den Toten. Er hatte ja nicht die Macht, ihn aufzuwecken. So war es Geiz und Habsucht, die dem Krösus zur Vernichtung halfen, denn es ist sehr wahrscheinlich, daß der Tod seinen Groll auf diese Weise an ihm ausgelassen hat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen