Ludwig Bechstein - Stavorens Untergang.

Die Einwohner der groß und reich gewordenen Stadt Stavoren führten ein üppiges Leben und kannten ihres Übermutes nicht Maß noch Ziel. Da war eine reiche und übermütige Jungfrau, die hatte viele Schiffe in See, und des Gutes so viel, daß sie nicht wußte, wie viel. Die beauftragte einen Schiffer zur Zeit, wo große Hungersnot im Lande war, ihr das Kostbarste und Wertvollste, was er in fremden Landen nur immer zu finden vermöge, mitzubringen. Und der Schiffer fuhr hinweg und kam bald wieder, und als die Jungfrau fragte, was er Köstliches für sie mitbringe, da er so bald zurück sei, sie habe ihn noch nicht erwartet – da sprach der Schiffer: »Meine Jungfrau, das Köstlichste ist jetzt, was der Mensch zum Leben braucht, ich bringe den schönsten Weizen.« – Die Jungfrau aber hatte reichen Schmuck, Gold, Perlen und, Diamanten erwartet und zürnte: »Weizen! Was soll mir dieses elende Zeug? Gleich über Bord damit!« – Das hörte eine Schar hungernder Armen, die flehten die Jungfrau kniefällig an, doch ihnen das Getreide zu geben, es nicht verderben zu lassen! – Aber die stolze Jungfrau blieb bei ihrem harten Sinn. Der Schifführer sprach: »Meine Jungfrau, bedenket Euch Wohl, es könnte Euch reuen! Gott hört und sieht Gutes und Schlimmes, er lohnt und rächt. Ein Tag könnte kommen, wo Ihr, hungrig und arm gleich diesen Elenden, gern die Körnlein einzeln aufläset, die Ihr jetzt in das Meer wollt schütten lassen!« – »Frecher Knecht!« zürnte da die Jungfrau und schlug ein satanisches Gelächter auf. »Gleich wirf den Weizen ins Meer, und diesen goldenen Ring werfe ich hinterdrein. So wenig werde ich verarmen, so wenig ich diesen Ring jemals wiedersehe!« Und so geschah die gottlose Tat. Die ganze Ladung des Schiffes und aller Weizen, der darauf war, wurde in die See ausgeschüttet.

Was geschieht? Einige Tage darauf ging der Koch dieser Frau zu Markt, kaufte einen großen Fisch und übergab ihn dem Diener zum Heimtragen. Im Maule des Fisches fand der Koch einen kostbaren Ring, den er sogleich der Frau zeigte. Wie ihn diese sah, erkannte sie ihn für ihren Ring, den sie ins Meer geworfen hatte; sie erschrak und dachte an ihren Frevel. Und siehe, am andern Tage traf die Jungfrau die Nachricht, daß viele ihrer Schiffe auf der Heimfahrt aus dem Morgenland gescheitert seien; am zweiten Tage kam die weitere Botschaft, daß ihre übrigen Schiffe von den Seeräubern genommen feien; am dritten Tage verbreitete sich die Kunde, daß ihr sonstiges Vermögen, das sie einem reichen Handelshause anvertraut hatte, durch den Fall dieses Hauses verloren sei.


Noch ein Jahr verging, da sah man das vordem so stolze Weib betteln gehen von Haus zu Haus, und auf dem Felde Ähren lesen, um sein elendes Leben zu fristen.

Auch dieses Zeichen der Warnung, das der Herr tat, hinderte die Einwohner von Stavoren nicht, ihr üppiges Leben fortzusetzen. Da geschah es mit einem Male, daß man in allen Ziehbrunnen Butten und Schellfische und Heringe fand, daß das Wasser stieg und das Land sank. Mehr als drei Vierteile der reichen Stadt verschlang die Flut, die fort und fort am Lande nagt, und aller Segen war hinweg, und der Rest der Stadt verarmte mehr und mehr.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen