Ludwig Bechstein - Ida von der Toggenburg.

Rheinaufwärts vom Bodensee liegt die Toggenburg, der uralte Stammsitz der nach ihr genannten Grafen. Darinnen wohnte eine fromme Gräfin, Ida geheißen, aus dem Stamme derer von Kirchberg. Da geschah es eines Tages, daß sie ihren Brautring unter das offene Fenster legte, und die Sonne schien darauf, daß er hell blitzte. Ein Rabe sah den Ring, schoß daher, erfaßte ihn mit seinem Schnabel und trug ihn fort in sein Nest. Wohl vermißte die Gräfin ihren Ring, doch fürchtete sie den Zorn ihres heftigen Gemahls, wenn sie ihm den Verlust melde, und daher schwieg sie. Nach einiger Zeit fand ein Jäger oder sonst ein Diener im Wald des Raben Nest und in dem Nest den Ring der Herrin. Ohne daß er wußte, wem der Ring gehörte, steckte er ihn an seinen Finger und trug ihn ohne Scheu. Bald sah und erkannte der Graf seiner Gemahlin Ring, den er ihr selbst gegeben, am Finger des Knechts, glaubte sie treulos, ließ alsbald den unschuldigen, jungen Gesellen am Schweif eines wilden Pferdes den felsigen Burgweg hinab zu Tode schleifen und warf die ebenso unschuldige Gemahlin vom Söller des Palastes hinab in den waldigen Felsenabgrund. Aber Engel schirmten die Unschuld; sanft sank Ida, von unsichtbaren Händen getragen, durch schützendes Gezweig auf weiches Moos. Inbrünstig dankte sie den Heiligen für ihre wunderbare Rettung und wandelte weit von der Burg hinweg in eine unwegsame Wildnis. Dort erbaute sie sich eine Hütte von Gezweig und lebte als Einsiedlerin nur dem Gebete und der Andacht. Wasser war ihr Getränk, Waldbeeren und Wurzeln waren ihre Nahrung. Bald darauf erzählte ein Diener dem Grafen, wie ein Mitgesell im Rabennest den Ring gefunden habe; und nun lastete seine Tat schwer auf des Grafen Seele.

Einstmals verirrte sich unversehens ein Jäger des Grafen in die Waldeinöde, in der die einsame Gräfin hauste. Er erkannte sie sogleich, und schnell trug er diese Kunde zu seinem Herrn, der längst jene übereilte Tat des doppelten Mordes ohne Verhör und Richterspruch bereute. Der Graf eilte zu der Einsiedlerin, wollte sie wieder hinauf in sein Schloß führen und erflehte ihre Vergebung. Aber Ida ließ sich nimmer bewegen. Der Graf von Toggenburg nahm das Kreuz, entbot seine Dienstmannen rings im Schweizerlande und zog mit ihnen zur Büßung und Entsühnung seiner Tat nach dem heiligen Lande, um dort gegen die Ungläubigen zu fechten. Dort kämpfte er in großen Schlachten mit und machte seinen Namen gefürchtet, – aber es zog ihn die mächtige Sehnsucht im Busen immer wieder nach der Heimat zurück; immer noch hoffte er, Ida werde sich wieder mit ihm vereinigen; denn nie hatte er sie so geliebt, als seit er sie wieder gefunden. Und nach einem Jahre schiffte er wieder der Heimat zu. Aber da er nach Ida fragte, ward ihm die Kunde, daß sie im Kloster Fischingen den Schleier genommen und dort lebe, still und heilig. Da tat der Graf allen ritterlichen Schmuck ab, hing Wehr und Waffen in seine Kapelle und pilgerte hinab gen Fischingen als armer Einsiedler, erkor sich einen Platz in der Nähe des Klosters und lebte, büßte und betete daselbst, bis er starb.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen