Aloys Wilhelm Schreiber - Die Jungfrau auf dem Lurlei.

In alten Zeiten ließ sich manchmal auf dem Lurlei um die Abenddämmerung und beim Mondschein eine Jungfrau sehen, die mit so anmutiger Stimme sang, daß alle, die es hörten, davon bezaubert wurden. Viele, die vorüberschifften, gingen am Felsenriff oder im Strudel zugrunde, weil sie nicht mehr auf den Lauf des Fahrzeuges achteten, sondern zur Höhe hinaufstarrten und, sich selbst und das Schiff vergessend, den himmlischen Tönen der wunderbaren Jungfrau lauschten.

Niemand hatte die Jungfrau noch in der Nähe geschaut als einige junge Fischer. Zu diesen gesellte sie sich bisweilen im letzten Abendrot und zeigte ihnen die Stellen, wo sie ihr Netz auswerfen sollten. Jedesmal, wenn sie den Rat der Jungfrau befolgten, taten sie einen reichlichen Fang. Die Jünglinge erzählten nun, wo sie hinkamen, von der Huld und Schönheit der Unbekannten, und die Geschichte verbreitete sich im ganzen Land umher.


Ein Sohn des Pfalzgrafen, der damals in der Gegend sein Hoflager hatte, hörte die wundervolle Mär und faßte eine innige Zuneigung zu der Jungfrau. Unter dem Vorwand, auf die Jagd zu gehen, nahm er den Weg nach Wesel (Oberwesel), setzte sich dort in einen Nachen und ließ sich stromabwärts fahren. Die Sonne war eben untergegangen, und die ersten Sterne am Himmel traten hervor, als das Fahrzeug sich dem Lurlei näherte. »Seht ihr sie dort, die verwünschte Zauberin? Das ist sie gewiß!« riefen die Schiffer. Auch der Jüngling hatte sie bereits erblickt, wie sie am Abhang des Felsenberges saß und einen Kranz für ihre goldenen Locken wand. Jetzt vernahm er auch den Klang ihrer Stimme und war bald seiner Sinne nicht mehr mächtig. Er nötigte die Schiffer, am Fels anzufahren, und noch wenige Schritte davon wollte er ans Land springen und die Jungfrau festhalten. Aber er nahm den Sprung zu kurz und versank in dem Strome, dessen schäumende Wogen schauerlich über ihm zusammenschlugen.

Die Nachricht von dieser traurigen Begebenheit kam schnell zu den Ohren des Pfalzgrafen. Schmerz und Wut zerrissen die Seele des armen Vaters, der auf der Stelle den strengsten Befehl, erteilte, ihm die Unholdin tot oder lebendig einzuliefern. Einer seiner Hauptleute übernahm es, den Willen des Pfalzgrafen zu vollziehen; doch bat er sich aus, die Hexe ohne weiteres in den Rhein stürzen zu dürfen, damit sie sich nicht vielleicht durch lose Künste aus Kerker und Banden befreie. Der Pfalzgraf war dies zufrieden.

Der Hauptmann zog gegen Abend aus und umstellte mit seinen Reisigen den Berg in einem Halbkreis vom Rheine aus. Er selbst nahm drei der Beherztesten aus seiner Schar und stieg den Lurlei hinan. Die Jungfrau saß oben auf der Spitze und hielt eine Schnur von Bernstein in der Hand. Sie sah die Männer von fern kommen und rief ihnen zu, was sie hier suchten. »Du sollst einen Sprung in den Rhein hinunter machen, Zauberin,« antwortete der Hauptmann. – »Ei,« sagte die Jungfrau lachend, »der Rhein mag mich holen.« Bei diesen Worten warf sie die Bernsteinschnur in den Strom hinab und sang mit schauerlichem Ton:

»Vater, geschwind, geschwind,
Die Weißen Rosse schick' deinem Kind!
Es will reiten mit Wogen und Wind!«

Urplötzlich rauschte ein Sturm daher. Der Rhein erbrauste, daß ringsum Ufer und Höhen von weißem Gischt bedeckt wurden; zwei Wellen, welche fast die Gestalt von zwei Weißen Rossen hatten, flogen mit Blitzesschnelle aus der Tiefe auf die Kuppe des Berges und trugen die Jungfrau hinab in den Strom, wo sie verschwand.

Jetzt erst erkannten der Hauptmann und seine Knechte, daß die Jungfrau eine Undine sei und menschliche Gewalt ihr nichts anhaben könne. Sie kehrten mit der Nachricht zu dem Pfalzgrafen zurück und fanden dort mit Erstaunen den totgeglaubten Sohn, den eine Welle ans Ufer getragen hatte. Die Lurleijungfrau ließ sich von der Zeit an nicht wieder hören, obgleich sie noch ferner den Berg bewohnte und die Vorübergehenden durch das laute Nachäffen ihrer Reden neckte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen