Russland. Die deutschen Ostseeprovinzen.

Aus: Deutsches Staats-Wörterbuch: Bd. 9 Russland-Staatsrat
Autor: Herausgegeben von Dr. Johann Caspar Bluntschli, Karl Brater, Erscheinungsjahr: 1865

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ostseeprovinzen, Livland, Estland, Kurland, Ostsee, Deutsche, Kolonien, Kolonisten, Geschichte, Auswanderer, Deutschland, Russen, Juden, Letten, Esten, Lettgallen, Littauer, Semgallen, Seken, Wenden, Kuren, Liven, Oeseler, Kuronen, Ackerbau, Vieh- und Pferdezucht, Fischfang, Dänen, Schweden, Volkslieder, Sagen, Kaufleute aus Bremen und Lübeck, Kurisches Haff, Orden der Schwertbrüder, Brüder der Ritterschaft Christi, Ritterorden, Kreuzzug, Riga, Dorpat, Buxhövden, Reichslehen, Reval, Leibeigenschaft, Naturalabgaben,
Dass die Landstriche Liv-, Est- und Kurland in einem deutschen Staats-Wörterbuch eine besondere Stelle beanspruchen, rechtfertigen Geschichte und Zustand derselben. Ihre Geschichte weist uns auf, dass Deutsche sie kolonisierten, ihr Zustand, dass sie vorherrschend deutsche blieben.

Die noch immer nicht ausreichende Quellensammlung und Quellenforschung haben es bis jetzt zu einer durchweg geschichtlich beglaubigten Darstellung dieser deutschen Kolonien nicht kommen lassen und die kaum begonnene statistische Arbeit hat es unmöglich gemacht, ihren Zustand zuverlässig zu schildern. Geschichte und Statistik dieser Provinzen zu schreiben, erscheint daher in der Gegenwart als ein gewagtes Unternehmen. War außerdem der Verfasser allein auf die Lösung der schwierigen und umfassenden Aufgabe angewiesen, so hat er in geschichtlicher Beziehung mit der Ausführung nur auf Grund der bisherigen Ergebnisse vorgehen können, indem eine versuchte Zuweisung dieses Teiles an einen Fachmann misslang. Auch für die statistische Darstellung konnte ein solcher nicht gewonnen werden. Und so musste der Verfasser, von dem Wunsche geleitet, die Provinzen in diesem deutschen Unternehmen nicht unbesprochen zu lassen, es wagen, neben der Darstellung des staatsrechtlichen Zustandes — welcher ihm als Juristen am nächsten lag — auch einen kurzen Abriss der politischen Geschichte und eine Zusammenstellung der teilweise unvollständigen, teilweise unzuverlässigen statistischen Data zu liefern. Zukünftiger und mehrseitiger Forschung und Arbeit muss es vorbehalten bleiben, das mangelhaft Durchgeführte in würdigerer Weise herzustellen.

Für Deutschland darf es nicht ohne Interesse sein, zu erfahren, wie deutsche Kultur trotz vielfältiger Fremdherrschaft sich zu erhalten und im geistigen Zusammenhange mit dem Mutterlande zu entwickeln bestrebt gewesen ist. Das Mutterland wird dadurch die Kenntnis der vor Jahrhunderten von ihm ausgegangenen und durch später wiederholten Zutritt deutscher Auswanderer erfrischten Kolonien erst erlangen, da Liv-, Est- und Kurland noch vielfach unvollständig gekannt sind. Die Kolonisten selbst aber mögen aus dem Anschauen des Gesamtbildes erkennen, was ihren Landen fehlt und Not tut, um in würdiger Weise die überkommene Aufgabe weiter auszuführen.

                  I                  I. Politische Geschichte.

Die deutschen Ostseeprovinzen Russlands haben eine ursprüngliche und eine eingewanderte Bevölkerung. Die erstere besteht wesentlich aus Esten und Letten, die letztere aus Deutschen, Russen und Juden. So wie die eisten Nachrichten über die Ostseeprovinzen überhaupt unvollständig und widersprechend sind, so auch insbesondere die über die Herkunft der sie ursprünglich bewohnenden Völkerschaften. Gewiss ist, dass die Esten finnischen Stammes sind. Die Letten sind nach den neuesten Forschungen ein eigener Volksstamm, dessen Sprache ihn dem indo-germanischen Sprachstamme, und zwar dessen litauisch-slawischer Familie und der litauischen Abteilung der letzteren zugesellt. Die litauische Abteilung zerfällt wieder in drei Unterabteilungen: 1) eigentlich litauisch, 2) altpreußisch und 3) lettisch. Von diesen Völkerschaften wohnten in den Ostseeprovinzen die Letten nebst den Lettgallen, einige Litauer, die Semgallen, die Selen und die Wenden. Zu dem finnischen Volksstamm gehören: Liven, Esten, Oeseler und möglicherweise auch die Kuren. Urkundlich ist verbürgt, dass im XII. Jahrhundert verschiedene Stämme, namentlich die Esten, Liven, Letten, Oeseler, Wenden, Kuren oder Kuronen und Semgallen das jetzige Est-, Liv- und Kurland bewohnten, denselben ihre Namen gaben und dass ihr Gesamtgebiet seit jener Zeit unter der allgemeinen Bezeichnung „Livland" zusammengefasst zu werden begann. Ihre Verbreitung war aber folgende. Die Esten bewohnten das jetzige Estland bis zur Narova hin, den nordöstlichen Teil Livlands und die Oeseler die Inseln Oesel, Dago und Moon. Die Liven und Letten saßen im ganzen jetzigen Livland mit Ausschluss des von Esten bewohnten Teiles. Die Kuren nahmen den östlichen Teil Kurlands ein, längs dem linken Ufer der Düna von Dunaburg bis Goldingen. Die Semgallen nebst den übrigen angeführten Völkerschaften wohnten nach Westen hin, von Windau bis zum südlichen Ufer des Kurischen Haffs.

Alle diese Stämme waren politisch gesondert und gegliedert in freien, unter Ältesten (seniores) stehenden Gemeinheiten, welche im Kriege anführten, im Frieden Recht sprachen. Zur Beratung über wichtige gemeinsame Angelegenheiten fanden Volksversammlungen Statt. Es gab keine Verschiedenheit nach Ständen, alle Einwohner waren persönlich frei, nur die Sklaverei der Kriegsgefangenen kommt namentlich bei den Esten, Oeselern und Kuren vor, welche bei ihren Seeräubereien auch Menschen raubten. Ackerbau, mehr aber Vieh- und Pferdezucht, ferner Jagd, Fischerei und die vorzugsweise von Liven und Letten gepflegte Bienenzucht waren die Erwerbszweige.

Ob, wie behauptet wird, seit dem neunten Jahrhundert die an der russischen Grenze wohnenden Esten, Lettgallen und Liven den Russen, die Kuren und ein Teil der Esten den Dänen und Schweden zinspflichtig gewesen, lassen wir dahin gestellt. Jedenfalls konnte aber bloße Zinspflichtigkeit kein näheres und wirksameres Verhältnis begründen und ist daher der in letzter Zeit erhobene Streit über die Priorität der Zivilisation der Ostseeprovinzen „durch die Russen oder Deutschen?" ein um so muffigerer, als selbst wenn jene Nation Zivilisationsversuche gemacht hat, jedenfalls den Deutschen als den höher zivilisierten noch Arbeit genug übrig blieb und noch übrig bleibt. So waren denn namentlich auch vor der Ankunft der deutschen Kolonisten die Landeseingeborenen fast sämtlich Heiden und von den Bekehrungsversuchen der Russen, Schweden und Dänen fast keine Spuren. Der geistige Zustand der Eingeborenen war bei Ankunft der Deutschen ein niedriger. Von Wissenschaft und Kunst zu geschweigen, indem nur lettische und estnische Volkslieder und Sagen einen geistigen Aufschwung des Volkes bezeugen, war ihnen nicht einmal die Schreibekunst eigen und von Handtierungen betrieben sie nur mittelmäßig die Schiffbaukunst.

Bei solchen Völkern langten auf der Düna Im Jahre 1159 deutsche Kaufleute aus Bremen und Lübeck an, um mit den Liven zunächst Handelsverbindungen anzuknüpfen. Ihnen folgten missionierende römische Priester, um die heidnischen Stämme zum christlichen Glauben zu belehren. Der vornehmste unter den Priestern, Meinhard, ward vom Papst Clemens III. zum Bischof erhoben und dem Erzbischof von Bremen untergeordnet. Die von ihm in Ikeskola (Uexküll) an der Düna erbaute Burg war die erste feste Ansiedlung der Deutschen in Livland. Unter Meinhards Nachfolger Berthold unternahmen deutsche Ritter und Krieger einen siegreichen Kreuzzug gegen die livländischen Heiden. Der dritte Bischof von Livland, Albert von Buxhövden oder Appeldern, gründete 1201 Riga, erhob dasselbe zu seinem Bischofssitz stiftete 1202 zur Sicherung der livländischen Eroberungen einen Ritterorden: den Orden der Schwertbrüder oder der Brüder der Ritterschaft Christi und vergab die eroberten Gebiete den deutschen Kreuzfahrern zu Lehen. Aus diesen Belehnten bildete sich der Vasallenstand. Der Bischof von Riga errichtete aber auch vermöge der ihm vom Papste verliehenen Gewalt mehrere Bistümer. Im Jahre 1211 das Bistum von Estland, dessen zweiter Bischof Hermann von Buöxvden zunächst Leal in der Wiek, sodann Vorrat zu seinem Sitze erkor. Bald nach 1224 wurde aus der Wiek und Oesel ein Bistum gebildet, das 1218 gegründete Bistum Semgallen 1246 mit dem rigischen Stifte vereinigt, 1234 aber das Bistum Kurland gestiftet. Die Häupter der Stifter wurden auch livländische Landesherren. Bischof Albert von Riga und sein Bruder, Bischof Hermann von Dorpat, wurden im Jahre 1224 vom römischen König Heinrich, dem Sohne Kaisers Friedlich II., in den Reichsfürstenstand erhoben, empfingen von ihm ihre Ländergebiete als deutsche Reichslehen und dasselbe geschah in der Folge auch mit den übrigen Bischöfen.

Hansewappen

Hansewappen

Lübeck Das Holstentor

Lübeck Das Holstentor

Bremen Marktplatz

Bremen Marktplatz

Russland. Die deutschen Ostseeprovinzen 01

Russland. Die deutschen Ostseeprovinzen 01

059 Reval, Vor der großen Strandpforte

059 Reval, Vor der großen Strandpforte

103 Reval, Das Haus der großen Gilde

103 Reval, Das Haus der großen Gilde

111 Reval, Der alte Markt seit 1905

111 Reval, Der alte Markt seit 1905

092 Reval, Die Strandpforte und die abgebrannte Olaikirche um 1830

092 Reval, Die Strandpforte und die abgebrannte Olaikirche um 1830

001 Riga um 1650

001 Riga um 1650

002 Riga um 1570

002 Riga um 1570

029 Riga, Das Schwarzhäupterhaus vor dem letzten Umbau

029 Riga, Das Schwarzhäupterhaus vor dem letzten Umbau

027 Riga, Rest eines Schnitzaltars im Saale der großen Gilde

027 Riga, Rest eines Schnitzaltars im Saale der großen Gilde

025 Riga, Der alte Gildensaal im Hause der großen Gilde

025 Riga, Der alte Gildensaal im Hause der großen Gilde

024 Riga, Die Häuser der großen und der kleinen Gilde

024 Riga, Die Häuser der großen und der kleinen Gilde