13. Der wilde Jäger auf Rügen.

Vor langen, langen Zeiten war ein großer Fürst im Sachsenlande, der viele Burgen und Schlösser und Dörfer und Forsten hatte. Er liebte von allen Dingen in der Welt am meisten die Jagd und lebte mehr in den wilden Wäldern, als auf seinen Schlössern und war überhaupt eines jähen und wütigen Gemütes und ein rechter Zwingherr. Dieser Fürst hat, als er noch lebte, das begangen, was einem keiner glauben will und was jeder für eine Fabel erklärt aus der allerältesten und allergrausendsten Heidenzeit.

Ein Hirtenknabe hatte in seinem Walde einen jungen Baum abgeschält und sich aus der abgeschälten Rinde eine Schalmei gemacht. Diesem armen unschuldigen Knaben hat der Unhold den Leib aufgeschnitten und das Ende des Gedärms um einen Baum gebunden, und nun hat er den Knaben solange um den Baum treiben lassen, bis das Gedärm aus dem Leibe gewunden und der Knabe tot hingefallen war, und dazu hat er gerufen: „Das ist die Schalmei, worauf du blasen sollst; das hast du für dein Pfeifen.“ Einen Bauern, welcher auf einen Hirsch schoss, der ihm sein Korn abweidete, hat er ohne alle Barmherzigkeit lebendig auf den Hirsch festschmieden und das wilde Tier so mit ihm in den Wald laufen lassen. Da ist das geängstigte Tier mit dem armen Mann solange gelaufen und hat ihm Leib und Haupt und Schenkel an den Bäumen und Sträuchern solange jämmerlich zerquetscht und zerrissen, bis zuerst der Bauer tot war, dann auch der Hirsch hinstürzte.


Für solche gräulichen Taten hat der ungeheure Mann endlich auch seinen verdienten Lohn bekommen. Er hat sich auf der Jagd mit seinem Pferd den Hals gebrochen, welches durchgegangen und so gewaltig gegen eine Buche gerannt ist, dass es den Augenblick tot hinfiel, dem Reiter aber an dem Baum das Gehirn in tausend Stücke zerstob. Und das ist nun seine Strafe nach dem Tode, dass er auch noch im Grabe keine Ruhe hat, sondern die ganze Nacht umherschweifen und wie ein wildes Ungeheuer jagen muss. Dies geschieht jede Nacht Winter und Sommer von Mitternacht bis eine Stunde vor Sonnenaufgang, und dann hören die Leute ihn oft Wod! Wod! Hoho! Hallo! Hallo! schreien; sein gewöhnlicher Ruf ist aber Wod! Wod! und davon wird er selbst an manchen Orten der Wode genannt.

Der Wode sieht fürchterlich aus, und fürchterlich ist auch sein Aufzug und sein Gefolge. Sein Pferd ist ein schneeweißer Schimmel oder ein feuerflammiges Ross, aus dessen brausenden Nüstern Funken sprühen. Darauf sitzt er, ein langer hagerer Mann in eiserner Rüstung, Zorn und Grimm funkeln seine Augen, und Feuer fliegt aus seinem Angesicht; sein Leib ist vornübergebeugt, weil es immer im hallenden sausenden Galopp geht; seine Rechte schwingt eine lange Peitsche, mit welcher er knallt und sein Wild aufjagt oder auch auf das verfolgte haut. Wütende Hunde ohne Zahl umschwärmen ihn und machen ein fürchterliches Getose und Geheul: er aber ruft von Zeit zu Zeit drein: Wod! Wod! Hallo! Hallo! Halt den Mittelweg! Halt den Mittelweg!

Seine Fahrt geht meistens durch wilde Wälder und öde Heiden, denn in der Mitte der ordentlichen Straßen und Wege darf er nicht reiten. Trifft er zufällig auf einen Kreuzweg, so stürzt er mit Pferd und Mann und Maus fürchterlich über Kopf und rafft sich weit jenseits erst wieder auf; doch auch die, welche er jagt, dürfen diesem Kreuzwege nicht zu nahekommen.

Und was für Wildbret jagt er? Unter den Tieren alles diebische und räuberische Gesindel, welches zur Nachtzeit auf Mord und Beute schleicht, Wölfe, Füchse, Luchse, Katzen, Marder, Iltisse, Ratten, Mäuse und von Menschen Mörder, Diebe, Räuber, Hexen und Hexenmeister und alles, was von dunklen und nächtlichen Künsten lebt. So muss dieser Bösewicht, der im Leben so viel Unglück anrichtete, es gewissermaßen im Tode wieder gut machen. Er hält, wie die Leute sagen, die Straßen rein; denn wehe dem, welchen er bei nächtlicher Weile auf verbotenen Schleichwegen oder im Felde und Walde antrifft und der nicht ein gutes Gewissen hat! Wie mancher muss wohl zittern, wenn er sein Hoho! Hallo! Halt den Mittelweg! Halt den Mittelweg! hört. Denn gewöhnlich jagt er, was er vor seine Peitsche kriegt, solange, bis es die Zunge aus dem Halse steckt und tot hinfällt.

Am strengsten ist der wilde Jäger gegen die Hexen und Hexenmeister; diesen ist, wenn er sie einmal in seiner Jagd hat, der Tod das gewisseste, falls sie nicht etwa eine Alfranke oder eine Hexenschlinge finden, wo sie durchschlüpfen mögen, denn dann sind sie für das Mal frei. Alfranke ist ein kleiner Strauch, der im Walde steht und im ersten Frühlinge grünt und sich gern um andere Bäume schlingt und rankt und dabei oft eine Schlinge mit einer Öffnung macht, wodurch etwas schlüpfen kann. Ebenso wachsen einzelne Zweige von Bäumen oft so wundersam zusammen, dass sie ein rundes Loch, einer Schlinge gleich, bilden, oft weit genug, dass ein Ochs durchschlüpfen könnte; wieviel leichter ein Mensch! Das nennt man eine Hexenschlinge oder einen Hexenschlupf; denn wann sie in der Not ein solches treffen und dort hindurchschlüpfen, darf niemand sie anrühren.

Arndt: Märchen und Jugenderinnerungen I S. 401 ff. — Der Name Wode für den wilden Jäger oder Nachtjäger ist früher auf Rügen offenbar weit verbreitet gewesen, jetzt ist er jedoch sehr selten geworden. Wenn ich in der ersten Auflage bekennen musste, dass ich den Namen Wode auf Rügen überhaupt nicht mehr habe entdecken können, so ist dies jetzt dahin zu berichtigen, dass er doch noch auf Mönchgut und in der Bullerhürn auf Wittow lokalisiert ist. Damit ist dasjenige hinfällig, was W. Schwartz in den Verh. der Berl. Ges. f. Anthr. 1891 S. 450 über die Verpflanzung des Woden von Vorpommern nach Rügen ver. mutet hat. Über die Beziehung des Woden zum altgermanischen Gotte Wodan hat neuerdings Zehme in Lyons Zeitschrift für den dt. Unterr. XI S. 203 gehandelt.