Die Reifezeit

Mit dem Jahre 1840, der Vereinigung mit Clara, schließt das Kapitel „Sturm und Drang“ in Schumanns Leben. Die wechselvollen äußeren und inneren Kämpfe sind zu Ende; unter der treuen Obhut seiner Gattin, die fortan alle Widerwärtigkeiten des Alltagslebens mit ängstlicher Fürsorge von ihm fernhält, verläuft sein Leben von jetzt an in behaglicher Ruhe und ohne bemerkenswerte äußere Einschnitte. Mit der Abkehr von der Außenwelt spinnt sich sein Geist mehr und mehr in das innerliche Traumleben ein und aus den Tiefen seiner unerschöpflichen Phantasie steigen neue Gebilde empor, an Empfindungsgehalt ihren Vorgängern ebenbürtig, an formeller Gestaltung ihnen überlegen — seine Lieder, die kostbare Morgengabe, die er seiner Gattin mit in die Ehe brachte. Hatte Clara Wieck die bedeutendsten Klavierkompositionen veranlasst, so war es die junge Clara Schumann, der wir den reichen Liederschatz des Jahres 1840 verdanken. Nicht weniger als 138 Gesangskompositionen weist dieses Jahr auf, darunter gerade die berühmtesten, wie den „Liederkreis von H. Heine“ (op. 24), die „Myrthen“ (op. 25), „Frauenliebe und Leben“ (op. 42), die „Dichterliebe“ (op. 48) und Andere mehr. Wieder eine neue Entwicklungsphase zeigt das nächste Jahr 1841, wo Schumann plötzlich mit drei großen symphonischen Schöpfungen hervortritt. Es sind die jugendfrische B dur-Symphonie (op. 35, die „Frühlingssymphonie“), ferner die (später umgearbeitete) Symphonie in D-moU (op. 120) und die ursprünglich „Sinfonietta“ genannte Suite: „Ouvertüre, Scherzo und Finale“ op. 52 37). Im Jahre 1842 treffen wir Schumann auf dem Gebiete der Kammermusik. Er schuf in der kurzen Zeit von 8 Wochen die drei Streichquartette op. 41, darnach das berühmte Klavierquintett (op. 44) und dessen ebenbürtiges Schwesterwerk, das Klavierquartett in Es dur (op. 47), endlich die Phantasiestücke für Pianoforte, Violine und Violoncell (op. 88).

Das folgende Jahr brachte Schumann, der bis dahin nur seinem kompositorischen und schriftstellerischen Schaffen gelebt hatte, ein neues Arbeitsfeld, nämlich seine Berufung an die am 2. April unter Mendelssohns Leitung eröffnete Leipziger Musikschule, als Lehrer für Pianofortespiel, Kompositionsübungen und Partiturspiel. Es ist sehr bezeichnend, dass dieser neuen Tätigkeit in den Briefen nur sehr flüchtig Erwähnung geschieht. Schumanns in sich gekehrtes Wesen machte ihn von vornherein zum Lehrer untauglich, und seine Schüler taten gut daran, sich an sein künstlerisches Vorbild zu halten, statt an das, was er ihnen während des Unterrichts mitteilte — bzw. nicht mitteilte. Zudem nahmen ihn gerade zu jener Zeit seine Kompositionen vollständig in Anspruch, dergestalt, dass sogar der Gedanke an den Rücktritt von der Zeitschrift allmählich immer festere Gestalt gewann. Der äußere Erfolg, mit dem er in früheren Jahren so hart zu kämpfen gehabt, begann sich ebenfalls einzustellen; ein gesundes Selbstbewusstsein erfüllte ihn und beflügelte stetig seine Phantasie. Zum ersten Male trat er mit einem Werke großen Stils an die Öffentlichkeit; am 4. Dezember 1843 erlebte „Das Paradies und die Peri“ (als op. 50 veröffentlicht) unter seiner persönlichen Leitung die erste Aufführung. „Ein Oratorium, aber nicht für den Betsaal, sondern für heitere Menschen — und eine Stimme flüsterte mir manchmal zu, als ich schrieb: dies ist nicht ganz umsonst, was Du tust,“ so lautet sein eigenes Zeugnis über das Werk 38), Den Text dazu hatte er schon zwei Jahre vorher, als Übersetzung von Thomas Moores „Lalla Rookh“, von seinem alten Freund Flechsig zugesandt bekommen und sich schon damals warm dafür begeistert. Der Erfolg war zündend; das Werk fand überallhin, selbst über den Ozean, die rascheste Verbreitung.


Trotzdem Schumanns Stärke und persönliche Neigung nicht auf dem pädagogischen Gebiete lag, zeitigte seine Tätigkeit an der Musikschule dennoch Ideen, die von einem tiefen Einblick in die musikalischen Bedürfnisse der Zeit zeugen. Vor allem ist es der Gedanke an eine Herausgabe der gesammelten Werke J. S. Bachs, der damals zuerst bei Schumann auftauchte und der seine Verdienste um die Wiederbelebung Bachs nicht minder groß erscheinen lässt als die Mendelssohns.

Mit Letzterem trat Schumann seit Begründung der Musikschule naturgemäss in noch engeren Verkehr als vorher und es ist angezeigt, hier auf das äußere Verhältnis Beider zu einander einen flüchtigen Blick zu werfen. Was Schumann betrifft, so weht uns aus all seinen Briefen ein Hauch echter und warmer Begeisterung für Mendelssohn entgegen. Unter allen lebenden Komponisten stellt er ihn am höchsten. Er blickt zu ihm empor „wie zu einem Gebirge“ 39). Und Mendelssohn? Thatsache ist, dass er Schumann jederzeit in echt kollegialer Weise unterstützte, seine Kompositionen ohne Weiteres zur Aufführung brachte und auf seine Intentionen nach jeder Richtung hin einging. Tatsache ist aber auch, dass in Mendelssohns Briefen der Name Schumann nur flüchtig gestreift wird. Der Mann, der sonst mit seinen persönlichen Empfindungen, auch weit kleineren Geistern gegenüber, nicht hinter dem Berge hielt, findet kein herzliches Wort, das auch nur als ein schwacher Widerhall von Schumanns Begeisterung gelten könnte. Zwischenträgereien aller Art fehlten begreiflicherweise ebenfalls nicht, und Schumann klagt einmal darüber, es sei ihm hinterbracht worden, dass Mendelssohn es nicht aufrichtig mit ihm meine 40). Allein man wird auch hier gut daran thun, auf die Unbefangenheit der beiderseitigen Anhänger nicht allzugroßes Gewicht zu legen. Wenn etwas die beiden Meister trennte, so war dies ihr verschiedenes Naturell und ihr verschiedener Bildungsgang. Mendelssohn, mit C. M. V. Weber der erste vollendete Typus des modernen Musikers, ein Künstler von außerordentlicher gesellschaftlicher Gewandtheit und in steter Fühlung mit der Außenwelt, der verhätschelte Liebling Aller, war das entschiedenste Widerspiel einer Natur wie Schumann, deren Reich nicht von dieser Welt war, die sich mehr und mehr von der Außenwelt zurückzog, um ganz dem innerlichen Schauen und Schaffen zu leben. Die Initiative im Verkehr Beider fiel somit Mendelssohn zu. Er tat, wie er unter solchen Umständen tun musste. Der Person Schumanns begegnete er mit Zurückhaltung, dem Künstler gegenüber, dessen Größe er wohl zu würdigen verstand, wahrte er den korrekten Standpunkt der Kollegialität.

Die Gleichmäßigkeit in Schumanns Leben wurde 1844 durch eine größere Kunstreise unterbrochen, welche das Ehepaar über Mitau und Riga nach Petersburg führte. Für Clara war die Reise ein Triumphzug; sie spielte sogar in den Salons der russischen Kaiserin. Auch in Moskau gab sie drei Konzerte und. Beide trafen dann Anfangs Juni wieder in Leipzig ein.

Während der russischen Reise hatten sich so manche Veränderungen in Schumanns persönlichen Beziehungen vorbereitet. In erster Linie war es die Aussöhnung mit seinem Schwiegervater Fr. Wieck, die einen wunden Punkt seines Familienlebens beseitigte. Dass diese Aussöhnung eine vollständige gewesen, wird man bei dem Charakter beider „Hartköpfe“ kaum annehmen dürfen. Indessen wurde doch immerhin der namentlich für Clara überaus peinliche Zwiespalt so viel als möglich gemildert.

Ferner aber führte Schumann seinen schon länger gehegten Plan, die Redaktion der Zeilschrift andern Händen zu übergeben, nunmehr endgültig aus. Schon 1838 hatte er bekannt, dass er „nur gezwungen Buchstaben, und am liebsten gleich Sonaten und Symphonien“ schreibe41). Nunmehr trug der Komponist über den Redakteur den Sieg davon. Ende 1844 ging die Redaktion an Oswald Lorenz, Anfang 1845 an Franz Brendel über.

Aber noch ein Umstand beschleunigte diese Entwicklung der Dinge, nämlich der Anfall einer schweren Nerven- und Gemütskrankheit, deren Folgen Schumann lange nicht zu überwinden vermochte. Das tragische Schicksal seines organischen Leidens klopfte nunmehr vernehmlich an seine Türe. „Finstere Dämonen“ beherrschten ihn 42); Schlaflosigkeit, qualvolle Todesfurcht stellten sich ein, als er sich eben in die Komposition von Goethes Faust zu versenken begonnen. Auch ein quälendes Gehörsleiden gesellte sich dazu; Schumann hörte zuerst beständig einen Ton, später ganze Motive, deren unstätes Umherflattern vor seinem Geiste ihn unaufhörlich beunruhigte 43).

Der Arzt riet zur Übersiedelung nach dem gesünderen Dresden. Da auch Clara von diesem Wechsel eine Erweiterung ihrer Tätigkeit erhoffte, so wurde diesem Rate im Herbst Folge geleistet. Allein hier gelangte die Krankheit zu ihrem vollen Ausbruch. Monatelang, bis ins Frühjahr hinein, war an keine Arbeit zu denken und erst allmählich stellte sich unter liebevollster Pflege die alte Schaffensfreude wieder ein, leider von nun an nie mehr ganz ungetrübt. Denn die „melancholischen Fledermäuse“, wie er sie selbst scherzhaft nennt 44), haben von jener Zeit das Heim des unglücklichen Künstlers nicht mehr verlassen. Vorerst drängten jedoch Energie und Schöpfungskraft die trüben Gedanken noch in den Hintergrund. Auch der Verkehr mit Freunden, wie Ferd. Hiller, Rob. Reinick, Berth. Auerbach und Andern wurde wieder aufgenommen; in Dresden selbst begann sich Schumann heimisch zu fühlen und bewies reges Interesse an dem öffentlichen Musikleben. Er selbst vertiefte sich in diesem Jahre besonders in kontrapunktische Studien, als deren Früchte vor Allem die sechs Orgel-Fugen über den Namen Bach (op. 60), ferner die 4 Klavierfugen (op. 72) anzusehen sind. Aber auch die Stücke für den Pedalflügel (op. 56 und 58) weisen auf das Bachsche Vorbild hin. Daneben entstanden noch das Klavierkonzert in A-moU (als op. 54 veröffentlicht), und endlich die Skizze zu der grandiosen C dur-Symphonie (op. 61, vollendet 1846). Im Gegensatz zu der Fruchtbarkeit dieses Jahres erwies sich das nächste, 1846, als sehr wenig ergiebig. Außer der Vollendung der Symphonie kamen nur noch die Chorlieder (op.55 und 59) zustande. Die Ursache davon waren neben seinem körperlichen Befinden verschiedene Kunstreisen. In Wien und in Prag wurde das Schumann’sche Ehepaar der Gegenstand begeisterter Ovationen, dagegen brachte ihm in Berlin eine an der Singakademie persönlich dirigierte Aufführung infolge verschiedener misslicher Nebenumstände nur mäßigen Erfolg; es dauerte daraufhin längere Zeit, bis Schumanns Kunst im Norden Eingang fand. Der dritte Ausflug, im Juli 1847, galt seiner Vaterstadt Zwickau, die ihren berühmten Sohn durch ein kleines Musikfest ehrte. Schumann dirigierte seine C dur-Symphonie, das Klavierkonzert (von Clara gespielt) und das Chorlied op. 84. Der Jubel seiner Mitbürger wollte kein Ende nehmen, sie brachten ihm und seiner Gattin sogar einen solennen Fackelzug dar.

Durch diese mannigfachen Zerstreuungen und Beweise der Anerkennung von allen Seiten wurde Schumann zu neuer Tätigkeit ermutigt. Auch einen äußeren praktischen Wirkungskreis hatte er sich geschaffen. Nachdem er schon 1846 die Direktion der Männer-Liedertafel an Stelle des nach Düsseldorf berufenen Ferd. Hiller übernommen hatte, begründete er im Januar 1848 einen eigenen Verein für gemischten Chor. Diese zweifache Tätigkeit verhinderte den zu befürchtenden vollständigen Abschluss von der Außenwelt und wirkte dadurch auch segensreich auf seinen inneren Zustand zurück.

Die Jahre 1847—50 bezeichnen eine ungemeine Steigerung in Schumanns Produktion. Es ist, als ob sein Geist, das traurige Los der Zukunft instinktiv vorausahnend, sich bestrebte, die reiche Ernte des Tages noch vor Einbruch des Dunkels unter Dach zu bringen. Es entstanden in der Dresdener Zeit in jenen Jahren an größeren Werken die Oper „Genoveva“ (op. 81), die Musik zu Byrons „Manfred“ (op. 115), der größte Teil der „Faustszenen“, die beiden Pianoforte-Trios in D moll (op. 63) und F dur (op. 80), das „Requiem für Mignon“ (op. 98 b), die „Romanzen und Balladen für gemischten Chor“ (op. 67 und 75), die Romanzen für Frauenstimmen (op. 69 und 91), das „Adventlied“ und das „Neujahrslied“ (op. 71 und 114) von Rückert, daneben eine Menge Lieder, Klaviersachen und einige andere Instrumentalwerke, die „Bilder aus Osten“ (op. 66), das „Album für die Jugend“ (op. 68), das „Spanische Liederspiel“ (op. 74), das „Deutsche Minnespiel“ (op. 101) und als Kuriosität das Konzert für vier Hörner mit Orchester (op. 86).

Von allem diesem erweckt die Oper Genoveva das größte Interesse. Schon im Jahre 1830 hatte der Jüngling an eine Oper „Hamlet“ gedacht, voll von Träumen von Ruhm und Unsterblichkeit 45). Der Gedanke blieb unausgeführt, aber Anfangs 1840 stellten sich die Opernpläne wieder ein. Und zwei Jahre darauf schrieb er bereits an C. Kossmaly: „Wissen Sie mein morgen- und abendliches Künstlergebet? Deutsche Oper heißt es. Da ist zu wirken.“ 46)

Die Wahl des Stoffes bereitete Schumann schwere Stunden. Sein Projektierbuch weist eine Unmenge von Sujets auf, von denen hier nur die interessantesten angeführt seien. Wir treffen da: Faust, Till Eulenspiegel, Nibelungen, Wartburgkrieg (auch an einen Lohengrin-ähnlichen Stoff dachte Schumann), Sakuntala, Maria Stuart u. A. Wir sehen, dass diese Stoffe gleichsam in der Luft lagen — hatte sich doch auch Weber eine Zeitlang mit der Idee eines „Tannhäuser“ getragen.

Die Entscheidung erfolgte 1847, als Schumann Hebbels Drama „Genoveva“ kennen lernte. Der Eindruck auf ihn war so gewaltig, dass er den Stoff unter gleichzeitiger Heranziehung der „Genoveva“ Tiecks zu einer Oper zu verarbeiten beschloss. Mit der Abfassung des Textes wurde Robert Reinick betraut, der sich jedoch vergeblich abmühte, Schumanns Intentionen gerecht zu werden. (Fr. Hebbel, an den sich Letzterer gelegentlich einer persönlichen Zusammenkunft in Dresden um Rat und Hilfe wandte, lehnte jede Mitwirkung ab, und so machte sich schließlich Schumann selbst an eine durchgreifende Umarbeitung des Reinick'schen Textes, dessen sentimentaler Anstrich ihm hauptsächlich missfallen hatte. Nun glaubte er „ein Stück Lebensgeschichte“ gegeben zu haben, „wie es jede dramatische Dichtung sein soll“. Es war die erste große Täuschung seines Lebens 47). „Genoveva“ ging am 25. Juni 1850 in Leipzig unter Schumanns persönlicher Leitung zum ersten Male in Szene, um nach zwei weiteren Aufführungen gänzlich vom Spielplan zu verschwinden. Dasselbe Schicksal hatte die Oper an den übrigen Bühnen, die sie zur Aufführung brachten. Die Kritik lehnte sie zumeist ab; es kam zu einem unerquicklichen Zeitungsstreit zwischen ihr und Schumanns Anhang, dem der Meister selbst durch baldigste Veröffentlichung der Oper ein Ende zu bereiten strebte, damit nunmehr „ein jeder urteilen könne.“ 48)

Der Genoveva folgten späterhin noch mancherlei Opernprojekte, so Schillers „Braut von Messina“, bearbeitet von Richard Pohl, Goethes „Hermann und Dorothea“, die aber beide nicht bis über die Ouvertüre hinaus gediehen sind.

Dagegen brachte dasselbe Jahr 1848 im Oktober und November ein zweites Werk, das die Genoveva an Lebensdauer bei weitem übertreffen sollte, nämlich die Musik zu Byrons „Manfred“. Schumanns Vorliebe für Byron mag schon in frühester Jugend durch die schwärmerische Verehrung angeregt worden sein, die sein Vater dem Briten entgegenbrachte; sie zeigt sich später auch in verschiedenen Liedern. Den Komponisten, der Jahre lang an der Komposition von Goethes Faust arbeitete, musste gerade „Manfred“ mächtig anziehen. Das rastlose Streben nach der Erkenntnis des Höchsten in fortwährend gesteigertem tragischen Konflikt mit dem Bewusstsein schwerer irdischer Schuld endlich die Erlösung durch die verzeihende Liebe Astartes — all dieses musste Schumanns Natur aufs tiefste berühren, nicht weniger als der geheimnisvolle Boden gespenstischer Symbolik, auf dem sich das Ganze abspielt. Nicht selten trifft man die Behauptung, Schumanns Manfred hänge mit seiner Krankheit zusammen und sei eine „Vorahnung“ der Katastrophe. Dagegen spricht einmal die längst gehegte Vorliebe des Meisters für Byron, endlich aber der durch und durch gesunde Charakter der Musik. Die Manfrednatur steckte Schumann schon von Jugend auf im Blute, Leidenschaftlichkeit und Empfindsamkeit, Florestan und Eusebius, sind nicht erst mit der Komposition des Manfred zu Tage getreten.

Schumanns Wunsch, seinen Manfred einmal auf der Bühne dargestellt zu sehen, ging nicht in Erfüllung. Erst Franz Liszt, der geniale Vorkämpfer aller jung aufstrebenden Talente, brachte das Werk im Jahre 1852 auf der Weimarer Hofbühne zur Aufführung, und seither sind verschiedene deutsche Bühnen seinem Beispiel gefolgt.

Wir stehen am Schlusse des Jahres 1848. Unwillkürlich drängt sich die Frage auf: wie stellte sich Schumann zu den weltbewegenden politischen Ereignissen dieses Jahres, zumal in Dresden, der Stadt, die das Jahr darauf einen Richard Wagner ins langjährige Exil trieb? Bis jetzt glaubte man allgemein, die „Vier Märsche“ (op. 76) für Klavier seien der einzige Tribut gewesen, den Schumann der Revolution gezollt. Nun aber befinden sich unter der Opuszahl 65 in der Sammlung von Ch. Malherbe in Paris folgende drei Stücke: „Zu den Waffen“ von Titus Ulrich, „Schwarz-Roth-Gold“ von K. Freiligrath und „Freiheitssang“ von J. Fürst, für Männerchor mit Begleitung von Harmonie-Musik (ad libitum), „componiert von R. Seh.“ Der erste Gesang ist datiert vom 19. April, der zweite vom 4., der dritte vom 3. April. Wasielewski erwähnt diese Kompositionen zwar ebenfalls *“), allein ohne die Titel der Gedichte und ohne Beschreibung der Musik; er scheint Sie also nicht selbst zu Gesicht bekommen zu haben. Überhaupt sind sie anscheinend niemals zur Aufführung gelangt, da in keiner Zeitung Notiz davon genommen wird. Veröffentlicht wurden sie ebenfalls nie; an ihre Stelle traten in der Reihe der Opuszahlen die „Ritornelle in canonischen Weisen“. Am bedeutendsten ist nach einem Pariser Bericht50) die Komposition des Freiligrat):i8chen Gedichts. Der Fürst'sche Chor trägt die Aufschrift: „Feurig“, während der Ulrich’sche, dessen Dichtung die Enttäuschung des deutschen Volkes wiederspiegelt, mit einem rhythmisch scharf präzisierten Appell an die Waffen abschließt. Bestimmt waren die 3 Chöre augenscheinlich für Schumanns Liedertafel.

Fortan verhielt sich Schumann der hereinbrechenden Revolution gegenüber durchaus passiv. Der Maiaufstand des Jahres 1849 vertrieb ihn aus der Stadt. Nicht den Politiker in ihm, der sicher innerlich der ganzen Bewegung sympathisch gegenüberstand, aber den Künstler drängte es, die Stätte des Lärmens und Tobens zu verlassen und an stillem Orte die Ruhe und Sammlung zu weiteren Arbeiten wiederzuerlangen. Er schlug seinen Wohnsitz für ein paar Wochen in Kreischa auf, einem Dorfe in der Umgebung von Dresden.

Hier setzte er die schon zu Anfang des Jahres begonnene erstaunlich reiche kompositorische Tätigkeit fort. Es war das fruchtbarste Jahr seines gesammten Schaffens, „als ob die Stürme den Menschen mehr in sein Inneres trieben, so fand ich nur darin ein Gegengewicht gegen das von außen so furchtbar Hereinbrechende.“51) Weitaus die meisten der oben angeführten Werke sind in diesem Jahre entstanden, inmitten der Stürme der Revolution, der Sorgen um die Aufführung der Genoveva und des Bangens um die eigene Zukunft. Denn der Aufenthalt in Dresden, so wohl er sich dort auch fühlen mochte, schaffte dem rastlos vorwärts drängenden Künstler doch nicht die rechte innere Befriedigung. Leipzig, die alte vertraute Heimath, tauchte wieder vor ihm auf, und deutlich sprach er die Absicht aus, sich um die Stelle des Dirigenten der Gewandhaus-Konzerte zu bewerben, da verlautete, Julius Rietz würde als Nachfolger Nicolais nach Berlin gehen. 52) Es drängte ihn nach einer „geregelten Tätigkeit“53) die ihm in Dresden trotz Chorverein und Liedertafel — von letzterer war er nach zweijähriger Tätigkeit „der ewigen Quartsextakkorde müde“ 54) zurückgetreten — versagt blieb. Allein Rietz blieb in Leipzig, und damit wurden Schumanns Pläne nach dieser Richtung hin zunichte. Dagegen tauchte Ende 1849 ein anderer Plan auf, der schließlich nach mancherlei Überlegung zur Verwirklichung gelangen sollte. Ferd. Hiller, Schumanns Vorgänger in der Direktion der Dresdener Liedertafel, war von Düsseldorf, wo er seit 1847 städtischer Kapellmeister gewesen, in gleicher Eigenschaft nach Köln berufen worden und hatte Schumann zu seinem Nachfolger vorgeschlagen.

Dieser zögerte anfangs lange, denn noch winkte ihm eine Zeitlang eine Kapellmeisterstelle am Dresdener Hoftheater. Erst als alle Hoffnung nach dieser Seite hin geschwunden war, ging er auf Hillers Vorschlag ein und so erfolgte denn die Übersiedelung nach „Düsseldorf am 2. September 1850. Vorher machte das Ehepaar noch eine glänzende Konzerttour nach Hamburg, wo sie die Bekanntschaft Jenny Linds machten. Zum Dank für ihre Mitwirkung widmete ihr Schumann sein op. 89 (Sechs Gesänge von Wilfried v. d. Neun).

Die Fahrt an den Rhein sollte die letzte des unglücklichen Künstlers sein. Er hatte infolge der geistigen Anstrengung und der mannigfachen Aufregungen schon Ende 1849 wieder stark unter Kopfschmerz zu leiden gehabt; Unruhe und Bangen ergriffen ihn, als er in einem Buche von der Existenz einer Irrenanstalt in Düsseldorf las. „Ich muss mich sehr vor allen melancholischen Eindrücken in Acht nehmen. Und leben wir Musiker, Du weissest es ja, so oft auf sonnigen Höhen, so schneidet das Unglück der Wirklichkeit um so tiefer ein, wenn es sich so nackt vor die Augen stellt. Mir wenigstens geht es so mit meiner lebhaften Phantasie.“ 55)

Mit solchen Gedanken im Herzen zog Schumann seinem neuen Bestimmungsorte entgegen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert Schumann