Düsseldorf. Das Ende

Der Empfang Schumanns in der rheinischen Stadt war glänzend. Die Einwohnerschaft tat Alles, um dem gefeierten Meister und seiner Gattin ihre Verehrung zu bezeugen. Am 24. Oktober trat er mit seinem ersten Abonnementskonzert sein Amt an; auf dem Programm stand sein Adventlied, während Clara Mendelssohns G moll-Konzert spielte.

Seine Düsseldorfer Tätigkeit sagte ihm während der ersten zwei Jahre sehr zu; sie bestand außer der Direktion der genannten Konzerte in der Leitung der wöchentlichen Übungen des Gesangvereins und einiger in Verbindung mit dem katholischen Gottesdienst regelmäßig wiederkehrender Aufführungen. Dies sollte insofern von Bedeutung werden, als Schumann hier Gelegenheit fand, in das vordem von ihm unangebaut gelassene Gebiet des geistlichen Vokalstils einzudringen. Die Messe (op. 147) und das Requiem (op. 148) waren die Früchte jener Anregungen. Auch sonst wissen die Kompositionen des Jahres so manches von dem rheinischen Leben und Treiben zu erzählen, so namentlich seine 4. Symphonie (Esdur), die „rheinische“, ein schönes Geschenk an die sagenumsponnenen Rheinlande, in die neben der Erinnerung an die Cardinals-Erhebung des Kölner Erzbischofs noch so manche rheinische Reminiscenz hereinspielen mochte. Aber auch sonst erwies sich dieses Jahr als überaus fruchtbar. Waren noch in Dresden die Lieder op. 77, 83 und 89 zum größten Teil, sowie zwei Faustszenen „die grauen Weiber“ und „Fausts Tod“ entstanden, so folgten nunmehr in Düsseldorf außer der genannten Symphonie vor Allem das Konzertstück für Violoncell mit Orchester (op. 129), sowie die Ouvertüre zur „Braut von Messina“, ein Werk, das im Jahre darauf im Gewandhaus zu Schumanns großem Erstaunen nur sehr wenig Verständnis fand. Auch das Jahr 1853 lieferte noch einen reichen Ertrag von Kompositionen, darunter Werke wie „Der Rose Pilgerfahrt“ (Text von M. Hörn), die Uhlandsche Ballade „Der Königssohn“, das Trio in G moll (op. 110), die „Märchenbilder“ für Bratsche und Klavier (op. 113), endlich die Ouvertüre zu „Hermann und Dorothea“ (op. 136, das Werk weniger Stunden) und die Umarbeitung der D moll-Symphonie.


Daneben aber drängte es Schumann beständig nach einem Werk in größerem Stil, und hierfür wurde zunächst der Plan eines großen Oratoriums „Luther“ ins Auge gefasst, mit dessen Textdichtung Rieh. Pohl betraut ward. Allein der Plan scheiterte einmal an Schumanns Gesundheitszustand, ferner aber deshalb, weil er sich mit dem Dichter nicht über die Form einigen konnte. Dieser hatte die Dichtung in Form einer Trilogie angelegt und der Einwirkung übersinnlicher Wesen eine große Rolle zugeteilt; er hatte dabei offenbar eine Erweiterung der Oratorienform im Auge. Schumann dagegen, dessen Ideal Händels „Israel“ bildete, wollte das Ganze auf 2 ½ Stunden Dauer beschränken, überhaupt die Musik so einfach und volkstümlich als möglich Clara Schumann. gestalten, so dass es „Bauer und Bürgerverarbeitung der Uhlandschen Ballade „Des Sängers Fluch“, ebenfalls nach Schumanns Intentionen, deren Komposition er noch im Januar vollendete. Eine Aufführung war jedoch unmöglich, da die Partie der Harfe im Düsseldorfer Orchester keinen genügenden Vertreter fand.

Im März zog es Schumann wieder auf einige Wochen nach seinem geliebten Leipzig. Er hatte die Freude, zu sehen, wie seine treue Anhänglichkeit an diese Stadt von der dortigen Musikwelt im reichsten Maße erwidert wurde. In privaten Matineen, in Konzerten des Konservatoriums und des Gewandhauses wetteiferte man in Huldigungen für seine Muse; im Gewandhause dirigierte er sogar persönlich seine Es dur-Symphonie. Es war das letzte Mal, dass er in der Stadt weilte, die von Anfang an der Hauptschauplatz seiner entscheidenden Lebensschicksale, seiner harten Kämpfe und seines endlichen Sieges gewesen.

Im Sommer stellten sich bereits wieder Krankheits-Erscheinungen ein, die eine Kur in Scheveningen notwendig machten. Es waren die unmittelbaren Vorboten der Katastrophe von 1854. Die Wirkungen der Krankheit zeigten sich zunächst in einem auffallenden Nachlassen der schöpferischen Produktion. Während in der ersten Hälfte dieses Jahres noch Werke wie die Messe, das Requiem, die Ballade „Vom Pagen und der Königstochter“ entstanden, brachte die zweite Hälfte außer einigen Klavierauszügen nur die 5 „Lieder der Königin Maria Stuart“ (op. 135). Das Schlimmste für den Meister waren die nunmehr mit erschreckender Häufigkeit auftretenden Gehörstäuschungen. Dazu kamen Täuschungen rhythmischer Art — es erschienen ihm beim Hören alle Zeitmaße zu schnell — ; endlich steigerte sich die Schwerfälligkeit seiner Sprache und die Apathie gegenüber der Außenwelt in hohem Grade. Unter diesen Umständen musste er seine Theilnahme an dem Düsseldorfer Männergesangfest auf das Allernötigste beschränken, und auch bei dem 31. niederrheinischen Musikfest im folgenden Jahre, für das er sich auf das Lebhafteste interessierte und zu dem er seine Freunde aus Nah und Fern einlud, vermochte er nur Händels Messias und seine neu instrumentierte D moll-Symphonie zu dirigieren; die Leitung einer eigens zu diesem Feste komponierten „Festouverture über das Rheinweinlied“ (op. 123) musste er anderen Händen überlassen. Noch einmal trat eine Besserung seines Zustandes ein, so dass er im Jahre 1853 noch die Ouvertüre zu „Faust“, die Ballade „Das Glück von Edenhall“ (wozu ihm sein Arzt Dr. Hasenclever den Text bearbeitet hatte), das Konzert-Allegro für Pianoforte und Orchester (op. 134), die Phantasie für Violine und Orchesterbegleitung (op. 131), bei der ihm das Bild des jungen Joachim vorschwebte, die Ballade vom Haideknaben (op. 122), sowie mehrere Klaviersachen (op. 1 18, 126 und 130) vollenden konnte. Aber die Wahnvorstellungen Hessen ihn nicht mehr los. Das Schlimmste war, dass sie nunmehr auch seine Dirigententätigkeit in einer Weise zu beeinträchtigen begannen, die ihm selbst den Gedanken an den Rücktritt von seinem Posten nahelegte.57) Dazu gesellten sich allerhand Intriguen, denen sich sein müder Geist nicht mehr gewachsen fühlte. Längere Zeit suchte man ihn noch zu halten, und Julius Tausch übernahm, anfangs provisorisch, Schumanns Stellvertretung; allein bald gab dieser sein Amt endgültig auf. Des „pöbelhaften Treibens“ müde, erwog er mancherlei Pläne, um von Düsseldorf loszukommen. Eine Zeit lang tauchte die alte Kaiserstadt Wien wieder vor seinem unruhigen Geiste auf; es zog ihn dahin, „als ob die Geister der geschiedenen Meister noch sichtbar wären, als ob es die eigentliche musikalische Heimath Deutschlands wäre.“58)

Noch zwei freudige Ereignisse waren ihm zu erleben beschieden. Das eine war eine Tour nach Holland, wo ungeahnte Triumphe seiner warteten. Das andere war seine Bekanntschaft mit Johannes Brahms, der ihm von Joachim empfohlen war und seine ersten Kompositionen vorspielte. 22 Jahre waren vergangen, seitdem der junge Schumann in einem begeisterten Aufsatz der Welt das Auftreten des jungen Chopin verkündet hatte. Nunmehr, am Ende seiner Künstlerlaufbahn, griff er noch einmal zur Feder, um getreu seinen Grundsatz, das Streben junger Talente zu fördern, einen jungen Künstler in die Welt einzuführen. Wie seine damaligen Worte, so waren auch die über den „jungen Adler“59) die eines Propheten. Trotz aller Abspannung vermochte sein Geist die Bedeutung des jungen Genius noch voll zu erkennen. Was allein auffällt, ist die merkwürdig überschwängliche Form, in die er seine Gedanken darüber kleidet; sie gemahnt stark an die jeanpaulisierende Manier der Jugendbriefe. So z. B. wenn er Brahms den „aus den Alpen zugeflogenen Adler“ nennt oder ihn mit einem prächtigen Strome vergleicht, der „wie der Niagara am schönsten sich zeigt, wenn er als Wasserfall brausend aus der Höhe herabstürzt, auf seinen Wellen den Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet.“ 60)

Die Freude an; dem neu aufsteigenden Genie Brahms' war seine letzte. Von seiner holländischen Reise am 22. Dezember zurückgekehrt, lebte er in den , ersten Monaten des Jahres 1854, eine kleine Reise nach Hannover abgerechnet, sehr zurückgezogen. Er kehrte wieder zurück zu den schriftstellerischen Neigungen seiner jungen Tage. Ein größeres Werk, „Dichtergarten“ benannt, sollte alle Dichterworte über die Musik in einem Blütenstrauß zusammenfassen, und schon war er bei den Alten, Homer und Plato, angelangt. Daneben beschäftigte ihn eifrig die Redaktion seiner „Gesammelten Schriften“. Da traf ihn der gewaltsame Ausbruch seiner Krankheit.

Das erste bedenkliche Symptom war, dass er Anfang Februar plötzlich des Nachts aufstand und Licht verlangte, da er von Franz Schubert ein Thema erhalten habe, das er sofort aufschreiben müsse. Am 27. Februar war er bei der fünften Variation darüber angelangt, als ihn ein dermaßen intensives Angst- und Beklemmungsgefühl überkam, dass er sich aus dem Kreise der anwesenden Bekannten wegstahl und von der Rheinbrücke in den Strom stürzte. Von Rheinschiffern gerettet und nach Hause zurückgebracht, machte er sich alsbald schweigend an die Fortsetzung jener Variation. Die nach der Katastrophe sich einstellende Erholung war nicht von Dauer; ihn selbst verlangte nach der Unterbringung in einer Heilanstalt. So erfolgte denn am 4. März die Überführung des unglücklichen Meisters in die Privat-Irrenanstalt des Dr. Richarz in Enden ich bei Bonn, die er bis zu seinem Tode nicht mehr verlassen sollte.

Hier in Endenich verlor sein Zustand unter sachkundiger Pflege und sicherer Obhut viel von seinem akuten, erschreckenden Charakter. Sein Denken war keineswegs zerrüttet und der Verkehr mit ihm durchaus nicht quälend oder beängstigend. Nur todesmüde war sein Geist, abgespannt bis zum Äußersten und darum häufig in stiller Melancholie in sich selbst versunken. Seine Beschäftigung bestand in Musizieren, Lesen und Schreiben von Briefen; vor Allem aber hing er auch jetzt noch an seinen beiden jugendlichen Lieblingen Joachim und Brahms. Letzterer hatte die ihm erwiesene Liebe als echter Freund vergolten und war alsbald auf die Schreckensnachricht hin nach Düsseldorf übergesiedelt, um Frau Schumann in dieser schweren Zeit beizustehen. Er war der häufigste Gast im Krankenhause und der willkommenste; sein Kommen schaffte dem Kranken Freude und Beruhigung zugleich. Clara selbst hat ihren Gatten erst kurz vor seinem Tode wiedergesehen. Aber die Briefe, die Schumann aus der Anstalt an sie richtete beweisen, dass der Herzensbund Beider auch diesem härtesten Schicksalsschlag zu trotzen vermochte. Diese Briefe werfen einen verklärenden Schimmer auf das tragische Ende des Meisters. Selten hat er in glücklicheren Tagen sein edles, gemütvolles Innere so naiv klargelegt, selten seiner Liebe zu seiner Gattin, seinen Freunden und seiner Kunst einen schöneren und rührenderen Ausdruck verliehen, als in diesen letzten Briefen von seiner Hand. Noch einmal steigt die Gestalt Felix Mendelssohns, des „Unvergesslichen“, vor ihm auf und er gibt seinem am 10. Juni geborenen jüngsten Knaben dessen Namen. Noch einmal lässt er alle vertrauten Gestalten und Erinnerungen seines wechselreichen Künstlerlebens vor seinem matten Geiste vorüberziehen, alles in Gedanken mit der geliebten Clara aufs Neue durchlebend. Und auch in die Zukunft blickt er froh hinaus; er ahnt, dass der „Junge Adler“ seinen Flug zur Sonne nehmen und sein glücklicherer Erbe sein wird. 61)

So können wir von dem großen Künstler ohne trübe oder gar erschreckende Erinnerung Abschied nehmen. Noch am Rande des Grabes steht seine Gestalt in lichtem Glänze da; hatte sein Geist auch seine zündende Kraft verloren, sein edler Sinn und sein überreiches Herz sind ihm bis ans Ende treu geblieben.

Am 29. Juli 1856, Nachmittags 4 Uhr, wurde Robert Schumann von seinen Leiden erlöst.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert Schumann