Abschnitt 1

Englische Fragmente


VII Die Schuld


Als ich noch sehr jung war, gab es drei Dinge, die mich ganz vorzüglich interessierten, wenn ich Zeitungen las. Zuvörderst, unter dem Artikel „Großbritannien“, suchte ich gleich, ob Richard Martin keine neue Bittschrift für die mildere Behandlung der armen Pferde, Hunde und Esel dem Parlamente übergeben. Dann, unter dem Artikel „Frankfurt“, suchte ich nach, ob der Herr Doktor Schreiber nicht wieder beim Bundestag für die großherzoglich hessischen Domänenkäufer eingekommen. Hierauf aber fiel ich gleich über die Türkei her und durchlas das lange Konstantinopel, um nur zu sehen, ob nicht wieder ein Großwesir mit der seidenen Schnur beehrt worden.

Dieses letztere gab mir immer den meisten Stoff zum Nachdenken. Daß ein Despot seinen Diener ohne Umstände erdrosseln läßt, fand ich ganz natürlich. Sah ich doch einst in der Menagerie, wie der König der Tiere so sehr in majestätischen Zorn geriet, daß er gewiß manchen unschuldigen Zuschauer zerrissen hätte, wäre er nicht in einer sichern Konstitution, die aus eisernen Stangen verfertigt war, eingesperrt gewesen. Aber was mich wundernahm, war immer der Umstand, daß nach der Erdrosselung des alten Herrn Großwesirs sich immer wieder jemand fand, der Lust hatte, Großwesir zu werden.

Jetzt, wo ich etwas älter geworden bin und mich mehr mit den Engländern als mit ihren Freunden, den Türken, beschäftige, ergreift mich ein analoges Erstaunen, wenn ich sehe, wie nach dem Abgang eines englischen Premierministers gleich ein anderer sich an dessen Stelle drängt und dieser andere immer ein Mann ist, der auch ohne dieses Amt zu leben hätte und auch (Wellington ausgenommen) nichts weniger als ein Dummkopf ist. Schrecklicher als durch die seidene Schnur endigen ja alle englischen Minister, die länger als ein Semester dieses schwere Amt verwaltet. Besonders ist dieses der Fall seit der französischen Revolution; Sorg’ und Not haben sich vermehrt in Downing Street, und die Last der Geschäfte ist kaum zu ertragen.

Einst waren die Verhältnisse in der Welt weit einfacher, und die sinnigen Dichter verglichen den Staat mit einem Schiffe und den Minister mit dessen Steuermann. Jetzt aber ist alles komplizierter und verwickelter, das gewöhnliche Staatsschiff ist ein Dampfboot geworden, und der Minister hat nicht mehr ein einfaches Ruder zu regieren, sondern als verantwortlicher Engineer steht er unten zwischen dem ungeheuern Maschinenwerk, untersucht ängstlich jedes Eisenstiftchen, jedes Rädchen, wodurch etwa eine Stockung entstehen könnte, schaut Tag und Nacht in die lodernde Feueresse und schwitzt vor Hitze und Sorge – sintemalen durch das geringste Versehen von seiner Seite der große Kessel zerspringen und bei dieser Gelegenheit Schiff und Mannschaft zugrunde gehen könnte. Der Kapitän und die Passagiere ergehen sich unterdessen ruhig auf dem Verdecke, ruhig flattert die Flagge auf dem Seitenmast, und wer das Boot so ruhig dahinschwimmen sieht, ahnet nicht, welche gefährliche Maschinerie und welche Sorge und Not in seinem Bauche verborgen ist.

Frühzeitigen Todes sinken sie dahin, die armen verantwortlichen Engineers des englischen Staatsschiffes. Rührend ist der frühe Tod des großen Pitt, rührender der Tod des größeren Fox. Perceval wäre an der gewöhnlichen Ministerkrankheit gestorben, wenn nicht ein Dolchstoß ihn schneller abgefertigt hätte. Diese Ministerkrankheit war es ebenfalls, was den Lord Castlereagh so zur Verzweiflung brachte, daß er sich die Kehle abschnitt zu North-Cray in der Grafschaft Kent. Lord Liverpool sank auf gleiche Weise in den Tod des Blödsinns. Canning, den göttergleichen Canning, sahen wir, vergiftet von hochtoryschen Verleumdungen, gleich einem kranken Atlas, unter seiner Weltbürde niedersinken. Einer nach dem andern werden sie eingescharrt in Westminster, die armen Minister, die für Englands Könige Tag und Nacht denken müssen, während diese, gedankenlos und wohlbeleibt, dahinleben bis ins höchste Menschenalter.

Wie heißt aber die große Sorge, die Englands Ministern Tag und Nacht im Gehirne wühlt und sie tötet? Sie heißt: the debt, die Schuld.

Schulden, ebenso wie Vaterlandsliebe, Religion, Ehre usw., gehören zwar zu den Vorzügen des Menschen – denn die Tiere haben keine Schulden –, aber sie sind auch eine ganz vorzügliche Qual der Menschheit, und wie sie den einzelnen zugrunde richten, so bringen sie auch ganze Geschlechter ins Verderben, und sie scheinen das alte Fatum zu ersetzen in den Nationaltragödien unserer Zeit. England kann diesem Fatum nicht entgehen, seine Minister sehen die Schrecknisse herannahen und sterben mit der Verzweiflung der Ohnmacht.

Wäre ich königlich preußischer Oberlandeskalkulator oder Mitglied des Geniekorps, so würde ich in gewohnter Weise die ganze Summe der englischen Schuld in Silbergroschen berechnen und genau angeben, wievielmal man damit die große Friedrichstraße oder gar den ganzen Erdball bedecken könnte. Aber das Rechnen war nie meine Force, und ich möchte lieber einem Engländer das fatale Geschäft überlassen, seine Schulden aufzuzählen und die daraus entstehende Ministernot herauszurechnen. Dazu taugt niemand besser als der alte Cobbett, und aus der letzten Num mer seines „Registers“ liefre ich folgende Erörterungen.

„Der Zustand der Dinge ist folgender:

1. Diese Regierung oder vielmehr diese Aristokratie und Kirche oder auch, wie ihr wollt, diese Regierung borgte eine große Summe Geldes, wofür sie viele Siege, sowohl Land- als Seesiege, gekauft hat – eine Menge Siege, von jeder Sorte und Größe.

2. Indessen muß ich zuvor bemerken, aus welcher Veranlassung und zu welchem Zwecke man diese Siege gekauft hat: Die Veranlassung (occasion) war die französische Revolution, die alle aristokratischen Vorrechte und geistlichen Zehnten niedergerissen hatte; und der Zweck war die Verhütung einer Parlamentsreform in England, die wahrscheinlich ein ähnliches Niederreißen aller aristokratischen Vorrechte und geistlichen Zehnten zur Folge gehabt hätte.

3. Um nun zu verhüten, daß das Beispiel der Franzosen nicht von den Engländern nachgeahmt würde, war es nötig, die Franzosen anzugreifen, sie in ihren Fortschritten zu hemmen, ihre neuerlangte Freiheit zu gefährden, sie zu verzweifelten Handlungen zu treiben und endlich die Revolution zu einem solchen Schreckbilde, zu einer solchen Völkerscheuche zu machen, daß man sich unter dem Namen der Freiheit nichts als ein Aggregat von Schlechtigkeit, Greuel und Blut vorstellen und das englische Volk, in der Begeisterung seines Schreckens, dahin gebracht würde, sich sogar ordentlich zu verlieben in jene greuelhaft-despotische Regierung, die einst in Frankreich blühte und die jeder Engländer von jeher verabscheute, seit den Tagen Alfreds des Großen bis herab auf Georg den Dritten.

4. Um jene Vorsätze auszuführen, bedurfte man der Mithülfe verschiedener fremder Nationen; diese Nationen wurden daher mit englischem Gelde unterstützt (subsidised); französische Emigranten wurden mit englischem Gelde unterhalten; kurz, man führte einen zweiundzwanzigjährigen Krieg, um jenes Volk niederzudrücken, das sich gegen aristokratische Vorrechte und geistliche Zehnten erhoben hatte.

5. Unsere Regierung also erhielt ‚unzählige Siege‘ über die Franzosen, die, wie es scheint, immer geschlagen worden; aber diese unsere unzähligen Siege waren gekauft, d.h. sie wurden erfochten von Mietlingen, die wir für Geld dazu gedungen hatten, und wir hatten in unserem Solde zu einer und derselben Zeit ganze Scharen von Franzosen, Holländern, Schweizern, Italienern, Russen, Österreichern, Bayern, Hessen, Hannoveranern, Preußen, Spaniern, Portugiesen, Neapolitanern, Maltesern, und Gott weiß, wie viele Nationen noch außerdem.

6. Durch solches Mieten fremder Dienste und durch Benutzung unserer eigenen Flotte und Landmacht kauften wir so viele Siege über die Franzosen, welche arme Teufel kein Geld hatten, um ebenfalls dergleichen einzuhandeln, so daß wir endlich ihre Revolution überwältigten, die Aristokratie bei ihnen bis zu einer gewissen Stufe wiederherstellten, jedoch um alles in der Welt willen die geistlichen Zehnten nicht ebenfalls restaurieren konnten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Vierter Teil