Abschnitt 2

Englische Fragmente


VIII Die Oppositionsparteien


In diesem Augenblick besteht die englische Opposition mehr aus eigentlichen Reformern als aus Whigs. Der Chef der Opposition im Unterhause, the leader of the opposition, gehört unstreitig zu jenen letztern. Ich spreche hier von Brougham.

Die Reden dieses mutigen Parlamentshelden lesen wir täglich in den Zeitblättern, und seine Gesinnungen dürfen wir daher als allgemein bekannt voraussetzen. Weniger bekannt sind die persönlichen Eigentümlichkeiten, die sich bei diesen Reden kundgeben, und doch muß man erstere kennen, um letztere vollgeltend zu begreifen. Das Bild, das ein geistreicher Engländer von Broughams Erscheinung im Parlamente entwirft, mag daher hier seine Stelle finden:

„Auf der ersten Bank, zur linken Seite des Sprechers, sitzt eine Gestalt, die so lange bei der Studierlampe gehockt zu haben scheint, bis nicht bloß die Blüte des Lebens, sondern die Lebenskraft selbst zu erlöschen begonnen; und doch ist es diese scheinbar hülflose Gestalt, die alle Augen des ganzen Hauses auf sich zieht und die, sowie sie sich in ihrer mechanischen, automatischen Weise zum Aufstehen bemüht, alle Schnellschreiber hinter uns in fluchende Bewegung setzt, während alle Lücken auf der Galerie, als sei sie ein massives Steingewölbe, ausgefüllt werden und durch die beiden Seitentüren noch das Gewicht der draußenstehenden Menschenmenge hereindrängt. Unten im Hause scheint sich ein gleiches Interesse kundzugeben; denn sowie jene Gestalt sich langsam in einer vertikalen Krümmung oder vielmehr in einem vertikalen Zickzack steif zusammengefügter Linien auseinanderwickelt, sind die paar sonstigen Zeloten auf beiden Seiten, die sich schreiend entgegendämmen wollten, schnell wieder auf ihre Sitze zurückgesunken, als hätten sie eine verborgene Windbüchse unter der Robe des Sprechers bemerkt.

Nach diesem vorbereitenden Geräusch und während der atemlosen Stille, die darauf folgte, hat sich Henry Brougham langsam und bedächtigen Schrittes dem Tische genähert und bleibt dort zusammengebückt stehen – die Schultern in die Höhe gezogen, der Kopf vorwärts gebeugt, seine Oberlippe und Nasenflügel in zitternder Bewegung, als fürchte er ein Wort zu sprechen. Sein Aussehen, sein Wesen gleicht fast einem jener Prediger, die auf freiem Felde predigen – nicht einem modernen Manne dieser Art, der die müßige Sonntagsmenge nach sich zieht, sondern einem solchen Prediger aus alten Zeiten, der die Reinheit des Glaubens zu erhalten und in der Wildnis zu verbreiten suchte, wenn sie aus der Stadt und selbst aus der Kirche verbannt war. Die Töne seiner Stimme sind voll und melodisch, doch sie erheben sich langsam, bedächtig und, wie man zu glauben versucht ist, auch sehr mühsam, so daß man nicht weiß, ob die geistige Macht des Mannes unfähig ist, den Gegenstand zu beherrschen, oder ob seine physische Kraft unfähig ist, ihn auszusprechen. Sein erster Satz oder vielmehr die ersten Glieder seines Satzes – denn man findet bald, daß bei ihm jeder Satz in Form und Gehalt weiter reicht als die ganze Rede mancher anderen Leute – kommen sehr kalt und unsicher hervor und überhaupt so entfernt von der eigentlichen Streitfrage, daß man nicht begreifen kann, wie er sie darauf hinbiegen wird. Jeder dieser Sätze freilich ist tief, klar, an und für sich selbst befriedigend, sichtbar mit künstlicher Wahl aus den gewähltesten Materialien deduziert, und mögen sie kommen, aus welchem Fache des Wissens es immerhin sein mag, so enthalten sie doch dessen reinste Essenz. Man fühlt, daß sie alle nach einer bestimmten Richtung hingebogen werden, und zwar hingebogen mit einer starken Kraft; aber diese Kraft ist noch immer unsichtbar wie der Wind, und wie von diesem, weiß man nicht, woher sie kommt und wohin sie geht.

Wenn aber eine hinreichende Anzahl von diesen Anfangssätzen vorausgeschickt sind, wenn jeder Hülfssatz, den menschliche Wissenschaft zur Feststellung einer Schlußfolge bieten kann, in Dienst genommen worden, wenn jeder Einspruch durch einen einzigen Stoß erfolgreich vorgeschoben ist, wenn das ganze Heer politischer und moralischer Wahrheiten in Schlachtordnung steht – dann bewegt es sich vorwärts zur Entscheidung, fest zusammengeschlossen wie eine mazedonische Phalanx und unwiderstehlich wie Hochländer, die mit gefälltem Bajonette eindringen.

Ist ein Hauptsatz gewonnen mit dieser scheinbaren Schwäche und Unsicherheit, wohinter sich aber eine wirkliche Kraft und Festigkeit verborgen hielt, dann erhebt sich der Redner, sowohl körperlich als geistig, und mit kühnerem und kürzerem Angriff erficht er einen zweiten Hauptsatz. Nach dem zweiten erkämpft er einen dritten, nach dem dritten einen vierten und so weiter, bis alle Prinzipien und die ganze Philosophie der Streitfrage gleichsam erobert sind, bis jeder im Hause, der Ohren zum Hören und ein Herz zum Fühlen hat, von den Wahrheiten, die er eben vernommen, so unwiderstehlich wie von seiner eigenen Existenz überzeugt ist, so daß Brougham, wollte er hier stehenbleiben, schon unbedingt als der größte Logiker der St.-Stephans-Kapelle gelten könnte. Die geistigen Hülfsquellen des Mannes sind wirklich bewunderungswürdig, und er erinnert fast an das altnordische Märchen, wo einer immer die ersten Meister in jedem Fache des Wissens getötet hat und dadurch der Alleinerbe ihrer sämtlichen Geistesfähigkeiten geworden ist. Der Gegenstand mag sein, wie er will, erhaben oder gemeinplätzig, abstruse oder praktisch, so kennt ihn dennoch Heinrich Brougham, und er kennt ihn ganz aus dem Grunde. Andre mögen mit ihm wetteifern, ja einer oder der andre mag ihn sogar übertreffen in der Kenntnis äußerer Schönheiten der alten Literatur, aber niemand ist tiefer als er durchdrungen von der herrlichen und glühenden Philosophie, die gewiß als ein kostbarster Edelstein hervorglänzt aus jenen Schmuckkästchen, die uns das Altertum hinterlassen hat. Brougham gebraucht nicht die klare, fehlerfreie und dabei etwas hofmäßige Sprache des Cicero; ebensowenig sind seine Reden in der Form denen des Demosthenes ähnlich, obgleich sie etwas von dessen Farbe an sich tragen; aber ihm fehlen weder die strenglogischen Schlüsse des römischen Redners noch die schrecklichen Zornworte des Griechen. Dazu kommt noch, daß keiner besser als er es versteht, das Wissen des Tages in seinen Parlamentsreden zu benutzen, so daß diese zuweilen, abgesehen von ihrer politischen Tendenz und Bedeutung, schon als bloße Vorlesungen über Philosophie, Literatur und Künste unsre Bewunderung verdienen würden.

Es ist indessen gänzlich unmöglich, den Charakter dieses Mannes zu analysieren, während man ihn sprechen hört. Wenn er, wie schon oben erwähnt worden, das Gebäude seiner Rede auf einen guten philosophischen Boden und in der Tiefe der Vernunft gegründet hat; wenn er, nochmals zu dieser Arbeit zurückgekehrt, Senkblei und Richtmaß anlegt, um zu untersuchen, ob alles in Ordnung ist, und mit einer Riesenhand zu prüfen scheint, ob alles auch sicher zusammenhält; wenn er die Gedanken aller Zuhörer mit Argumenten festgebunden, wie mit Seilen, die keiner zu zerreißen imstande ist – dann springt er gewaltig auf das Gebäude, das er sich gezimmert hat, es erhebt sich seine Gestalt und sein Ton, er beschwört die Leidenschaften aus ihren geheimsten Winkeln und überwältigt und erschüttert die maulaufsperrenden Parlamentsgenossen und das ganze, dröhnende Haus. Jene Stimme, die erst so leise und anspruchslos war, gleicht jetzt dem betäubenden Brausen und den unendlichen Wogen des Meeres; jene Gestalt, die vorher unter ihrem eigenen Gewichte zu sinken schien, sieht jetzt aus, als hätte sie Nerven von Stahl, Sehnen von Kupfer, ja als sei sie unsterblich und unveränderlich wie die Wahrheiten, die sie eben ausgesprochen; jenes Gesicht, welches vorher blaß und kalt war wie ein Stein, ist jetzt belebt und leuchtend, als wäre der innere Geist noch mächtiger als die gesprochenen Worte; und jene Augen, die uns anfänglich mit ihren blauen und stillen Kreisen so demütig ansahen, als wollten sie unsre Nachsicht und Verzeihung erbitten, aus denselben Augen schießt jetzt ein meteorisches Feuer, das alle Herzen zur Bewunderung entzündet. So schließt der zweite, der leidenschaftliche oder deklamatorische Teil der Rede.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Vierter Teil