Stettin. Der Kondukteur.

Der Kondukteur war ein dicker, leidenschaftsloser Mann, der ein wenig schwer hörte. Ich saß dicht neben ihm, und die vorfallenden Rippenstöße wurden keines Wortes gewürdigt. Solch eine abgehärtete Reisegleichgültigkeit, ich möchte sagen, diese Objektivität der Post, ist Leuten sogar sehr angenehm, die viel gereist sind. Jedenfalls angenehmer als die Süßlichkeit einer sorglichen Teilnahme, deren Ursprung selten anderswo als in ausgewaschener Manier oder in der Hoffnung auf ein Trinkgeld zu suchen ist. Die meisten Damen denken darüber anders. Sie wünschen Sympathie quand même, um jeden Preis. Es war Abend und dunkelte schon, als wir aus Berlin herauskamen. Ein witzloser Spaßvogel, der mit uns im Kabriolett saß, fragte den Kondukteur, ob wir auch in Pommern sicher wären. Da er den schlechten Spaß wegen der Harthörigkeit des Empfängers wiederholen mußte, so wurde er noch schlechter. Denn Scherz und Witz sind wie weiße Wäsche, sie können nur einmal auftreten. Der Kondukteur hob bloß die Hand und sagte: „Oh, man kann den Pommern eher alles andere zutrauen als Spitzbüberei, dafür sind sie zu einfach.“

Wir waren auch noch lange nicht in Pommern und hatten gar keine Aussicht, noch in der Nacht hinzukommen. Der Kondukteur nahm aber hiervon Gelegenheit, das Wort zu ergreifen und ein für allemal zu sprechen. Früher nämlich habe er den Kurs von Koblenz nach Gießen gemacht, und da habe wohl so etwas passieren können, da sei der Kondukteur seines Lebens nicht sicher gewesen. Es muß vorausgeschickt werden, daß er „Kondukteur“, „man“ und „ich“ für Synonyme hielt. Er hatte sich streng in den absoluten Begriff eines Kondukteurs hineingereist. Was also irgendeinem Kondukteur in der Welt begegnet war, erzählte er in der ersten Person. Also: „Ich hatte viel Geld auf der Post und fuhr wie heute in die Nacht hinein. Meine guten Talglichter brannten in der Laterne, als wir an einem Waldrande hinfuhren. Ich dämmerte so, wie man zu sagen pflegt, mit halb geschlossenen Augen. Da ging es ›Rack-Rack-Rack‹, die Lampe klirrte und war aus, ich bekam einen Schlag in die Schulter, der Wagen stand still und der Postillon war vom Pferde. Einer der drei Schüsse hatte das linke Vorderpferd niedergeworfen, der zweite war in die Laterne gefahren, der dritte hier in das Polster neben mir, aber das Polster hatte seine Schuldigkeit getan und den Schuß vortrefflich gedämpft. Der Schuft von Postillon war gleich ausgerissen, und die Herren Passagiere waren ihm nachgefolgt. Sonst muß man zehn Tritte und Türen aufmachen, ehe sie herauskriechen, diesmal waren sie wie ein Donnerwetter alle zum Teufel. Die Kanaillen von Spitzbuben fielen gleich über mich her. Laut Instruktion wehrte ich mich bis zum letzten Atemzuge. Als sie mich halbtot geschlagen, krumm gebunden und geknebelt hatten, steckten mir meine dreiunddreißig Poststücke noch in der Kehle. Sterben ist eine Kleinigkeit, aber sein Eigentum ausräumen zu hören, eins, zwei bis dreiunddreißig, das ist für einen rechtschaffenen Kondukteur – nun, die Kanaillen räumten alles fort, ich blieb wie ein zusammengeschnürtes Felleisen am Wege liegen, und die bitterlich kalte Nacht zerfror mir das bißchen Besinnung.


Ich habe den Morgen nicht mehr erlebt, als meine Passagiere mit Gendarmen kamen und die Bescherung fanden.“

„Was“, rief mein Nachbar, „Sie sind schon einmal tot gewesen?“ „Wie?“ sagte der harthörige Erzähler, der sich ungern gestört sah. „Sie sind gestorben?“

„Ja, maustot war der Kondukteur. Aber nun sehen Sie diese rechtschaffene Watte an, die hat die Spitzbuben verraten. Hier war der Pfropfen von dem niederträchtigen Schusse steckengeblieben, der dem Kondukteur gegolten hatte. Den wickelte ein Gerichtsschreiber heraus, und es fand sich, daß es ein Schreibblatt aus einer Kinderschule war, das der Schulmeister mit roter Tinte korrigiert hatte. Man untersuchte im ganzen Kreise die Handschriften, und der Schuft von Schulmeister wurde in der Nacht aus dem Bette geholt. Er gestand seine fünf Helfershelfer ein, baumstarke Bauern, die gute Kugelflinten hatten. Sie hatten die dreiunddreißig Poststücke vergraben, und das Postamt hat alle dreiunddreißig wiedergekriegt. Die Kanaillen hängen im Nassauischen. Da sieht man, daß kein Schurke die königliche Post unrespektabel traktieren darf. Ich aber hatte freilich das Meinige weg, aber ich war auf dem Schlachtfelde geblieben, und meine Familie bezieht eine Pension.“

Hiermit war seine Pfeife aus, er rückte in seine Ecke, zog den Mantel über das Kinn und sprach nicht wieder.
Zu meinem Erstaunen fuhren wir einen tiefen Berg hinunter – sind wir irr gefahren? Wie kommt ein Berg in die Mark Brandenburg? Wir kamen nach Eberswalde, das da grenzt an die Märkische Schweiz, deren Berner Oberland Freienwalde samt Umgebung ist. Die Schweiz ist in neuerer Zeit ein Luxusartikel geworden, der wie Brüsseler Spitzen und eau de Cologne nachgemacht wird. Merkwürdigerweise ziehen sich wirklich bis an die pommersche Küste Hügel und Höhen in Mengen hinab, die freilich etwas dürftig und armselig wie unnütze Grillen der letzten Erdüberschwemmung aussehen, aber doch Hügel sind. Man kommt gegen Mitternacht auf fünf Minuten in Neustadt an, also im ersten träumerischen Postwagenschlafe. In der Passagierstube wird einem Kaffee, sage Kaffee, präsentiert. Verschiedene Generationen von Postreisenden wundern sich seit Jahren über das ungewöhnliche Phänomen und stellen Forschungen darüber an. Jeder nach Pommern Reisende hat eine eigene Hypothese darüber, so wie sonst jeder, der nach Afrika kommt, eine Vermutung über den Ausfluß des Nigers seiner Mitwelt zur Verfügung stellt. Für auswärtig Beflissene diene noch die Notiz, daß dieser Kaffee einen ungewöhnlich fremdartigen Geschmack hat. Das will sagen, er kann sehr gut schmecken. Nur ganz anders als guter Kaffee. Eine heiratsfähige Dame – mit Respekt zu sagen, aus Hinterpommern –, die in ihre Heimat reiste, tat einen lauten Schrei, als sie den ersten Schluck dieses Kaffees genommen. Und man ist doch in Hinterpommern sonst nicht verwöhnt.

Kaffee macht munter, und von diesem Axiom ausgehend, kam unsere Gesellschaft zur Ansicht, man werde in Neustadt um Mitternacht damit bewirtet, damit man nicht die Nähe der Märkischen Schweiz verschlafe.

Mondschein, Erlengebüsch, hügelauf, hügelab, frische Luft – so weit gehen meine Erinnerungen an diese Landschaft. Trotz des Neustädter Kaffees schlief ich ein und erwachte erst wieder auf der nächsten Station. Es hat einen eigentümlichen Reiz, nachts beim Mondschein in einer schlafenden schwarzen Stadt aufzuwachen, deren Existenz und Namen uns unbekannt sind. Die Welt bedünkt einen so reich, so unauslernbar an stillen Plätzen, wo Menschen nebeneinander sich freuen, intrigieren, leiden und lieben. Ich fragte den ausspannenden Leinwandkittel: „Angermünde“, beschied er mich.

Es kann in Angermünde außerordentlich schön sein. Das schönste Mädchen der Welt kann dort leben und schlafen. Der polternde Postwagen stört ihren süßen Traum, in dem sie dem Sultan – er ist untertags Registrator oder Kanzlist am Stadtgerichte und hat sein Auskommen –, also in dem sie dem Sultan mit dem Pfauenwedel sanft über das Gesicht streicht. Sie lächelt Glück und Liebe und fährt eben mit dem weißen Arme nach dem Schlafhäubchen, erschreckt von unserem Gerassel. Dämmern, einschlafen, träumen, halb Poesie, halb Wirklichkeit, halb Glück, halb Nichts ...

„Fünfzehn Minuten, meine Herren!“ – Ich hatte wieder geschlafen, der Wagen hielt bei grauer Morgendämmerung in Schwedt. Ich setzte mich neben die Dame aus Hinterpommern, die laut zugeflüsterter Nachrichten hartnäckig geschwiegen hatte, seit die Äußerung gefallen war, „mit Respekt zu sagen, aus Hinterpommern“. Ich präsentierte ohne Unterlaß Zwieback. „Gnädiges Fräulein, Sie befehlen?“ Sprach von gemischter Gesellschaft und löste ihren Zorn so weit, daß sie etwas von Vorurteilen fallen ließ.

Bei Schwedt erreicht man die Oder, läßt sie aber auf dem ganzen Wege nach Stettin rechts liegen. Der Charakter ihrer Ufer ist gegen Schlesien wenig gesteigert, nur ein wenig verändert. Es bleibt ein armer Taglöhnerfluß, der es nie zu einer glänzenden Umgebung bringt. Statt des Weiden- und Waldufers, das er in seinem Oberlauf sieht, hat er hier in der nördlichen Mark und in Pommern einen mit Schilfgras bewachsenen Strand, der eigentlich gar kein Ufer, sondern nur eine Begrenzung ist. Er gleicht in diesem Mangel an scharfgeschnittener Abgrenzung den traurigen Binnenseen der Mark.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier