Stettin. Am Markgrafenplatz.

Die Post fliegt am Markgrafenplatze von Schwedt vorüber und durch eine breite Lindenallee dahin. Das könnte hier recht hübsch sein, wenn nett gekleidete Menschen darunter spazierengingen. Neben einem verlassenen Fürstenschlosse aber hat das Ganze ein ödhistorisches Ansehen. Als die vielen hundert kleinen Souveränitäten noch bestanden, da müssen diese Ländchen allerdings viel interessanter gewesen sein. Wo man jetzt auf solche Nester stößt, haben sie etwas von alten Bibliotheken, in denen Chronisten stehen.

Ewig jung und blühend ist nur der Tabak. Dieses moderne Gewächs gedeiht hier bei Schwedt in fetter grüner Üppigkeit, durch eine stolze Allee führt der Weg nach dem klassischen Orte des Tabaks Vierraden, berühmt durch seine Blätter wie Arabien durch seinen Weihrauch; nur riechen die Vierradener Erzeugnisse nicht ganz so lieblich. Aus allen Bodenluken heraus trocknen die langen Blätter dem Genossenwerden entgegen. Vierraden, das duftende, soll früher kriegerisch gewesen sein. Ein zerfallenes Gemäuer um einen kleinen brutalen Turm am Ende des Örtchens ist Sitz der Kampfeslustigen von Vierraden gewesen, die mit denen von Schwedt in vielen Fehden lagen. Von allem alten Ruhm ist jetzt nichts übrig als der Tabak. Aber in unserer Zeit der gleichen Pflichten ist die Erinnerung an die Selbständigkeit der vielen einzelnen von soundso nicht ohne Reiz. Wenn man ein Edelmann ist, so mag es von ganz angenehmem Reiz sein, just einen Namen zu haben, der in Chroniken und Sagen selbständig genannt wird. Es wäre zum Beispiel schade, wenn der Schriftsteller Maltitz keine Nachkommen hätte, da sonst die Erinnerung an jene römische Antwort verlorenginge, die er einst gab, als er sich mit dem Berliner Hofe wegen eines Schauspiels entzweite: „Wenn die von Maltitz“, hat er gesprochen, „dreimal- hunderttausend Mann kommandierten, so würden sie den von Zollern eine andere Antwort geben.“ Dieses phantasiestarke Ignorieren einiger Jahrhunderte, diese unabhängige Kombination ist mir stets sympathischer gewesen als alle Schriftstellerei des Herrn von Maltitz.


Hinter Vierraden ging die Sonne auf. Das Land dampfte, aus der Tiefe neben einem erhöhten Städtchen blinkte hie und da silbern die Oder auf. Wir waren an der Grenze von Pommern, das erste Städtchen war Garz. Ich hatte mir Pommern anders erwartet. Die Hügelzüge, die sich nach mehreren Seiten hinzogen, gaben der Aussicht viel Abwechslung. Man muß überhaupt dreierlei Pommern unterscheiden: das, in das wir soeben hineinfuhren, ist Vorpommern, ein fruchtbares, wohlhabendes Land mit der lebhaften Handelsstadt Stettin. Nordwestlich davon das sogenannte schwedische Pommern, jetzt Neuvorpommern, mit der stipendienreichen, studentenarmen Universitätsstadt Greifswald und dem durch Wallensteins Renommage berühmten Stralsund. Dieser Strich Landes hat noch heute eine fremdartige Färbung. Nordöstlich endlich Hinterpommern, ein armes, trauriges Land. Es beginnt hinter Stargard, einer artigen, rührigen Stadt. Die Stargarder wollen durchaus nicht zu Hinterpommern gerechnet werden.

Wenn man von Garz aus noch einige Male hügelauf und hügelab fährt, so naht man auf einmal Stettin, das mit seinem breiten Turme von einem der Hügel grüßt. Da die Stadt sich mehr nach der Ostseite zur Oder hinabzieht, so zeigt sie, wenn man von Berlin kommt, das Ansehen einer festen Burg. Wie bei allen Festungen und bei spröden Jungfrauen muß man sich lange und durch mancherlei Biegungen wenden, ehe man ihr ganz nahen darf.

Stettin hat als Hauptort des Aus- und Einganges für die preußische Schiffahrt eine große Bedeutung gewonnen. Stettin ist der Seeort Preußens, obwohl es gar nicht am Meer liegt. Bald hinter der Stadt breitet sich die Oder in das Haff aus und mündet im Hauptarm Swine ins Meer. Die Oder ist glücklicherweise bis Stettin so tief, daß sie große Schiffe trägt. Am Bollwerke Stettins sieht man Fahrzeuge aller Kaliber. Freilich müssen die schweren einen Teil ihrer Ladung vorher auf die sogenannten Leichter schaffen. Doch arbeiten die Bagger Tag um Tag, um allmählich ein so tiefes Fahrwasser zu gewinnen, daß das Lichten erspart werden kann. – Stettin hat einen sehr respektablen Wasserverkehr. Teer und Masten, Tabak und Warentonnen, Matrosenlärm und kräftige Gerüche sind in Genüge zu finden, wenn man von der Oberstadt nach dem Wasser hinabsteigt.

Die Pommern sind sehr stolz auf Stettin. Sie finden es schön gelegen. Das hügelige Terrain am Wasser ist auch wirklich recht artig. Objektiv betrachtet ist freilich nicht viel los. Frauendorf, ein am Bergeshange seitwärts des linken Oderufers gelegenes Örtchen, ist der besondere Stolz Stettins. Die Verleumdung sagt, es lauere immer ein fanatischer Stettiner an der Luisenecke, dicht bei der Post, allen Reisenden auf und falle sie meuchlings mit dem Vorschlage an, Frauendorf zu sehen, auf jeden Fall Frauendorf zu sehen.

Stettin ist bis jetzt die einzige Stadt in Preußen, die eine Statue Friedrichs des Großen besitzt. Auf einem hübschen Paradeplatze ist sie aus weißem Marmorsteine aufgestellt. Überhaupt lehrt hier jeder Schritt, daß Preußen seinen markigsten Kern in diesem Pommernlande besitzt. Ein einfaches, treues Volk, fähig zu jeder Aufopferung. Die Gesinnung dieses Volksstammes hat mir einen überaus wohltätigen Eindruck gemacht. Er wurde unterstrichen durch die kräftigen, tüchtigen Leiber, die wohlgebildeten Gesichtszüge, durch den allgemeinen gesunden Anstrich der Generation.

Mit dem Dampfboote fuhr ich die Oder hinab, vorüber an den unzähligen Schiffen und Kähnen, Holzplätzen, kleinen Fabriken, nach dem Haff hinaus. Hier hat man zur linken Seite ein stattliches italienisches Haus, reich und viel und schön gestaltet. Es gehört einer reichen Witwe, bei der die angenehmste, bedeutendste Gesellschaft zu finden sein soll. Loewe soll öfters in der Woche hier anzutreffen sein. Er bekleidet in Stettin die Stelle eines Organisten an der Jakobikirche. Im persönlichen Umgang soll Loewe einfach, aber bedeutend wirken. Er zieht sich wie die meisten derartigen Menschen mehr in kleine Kreise und zu wenig Menschen zurück.

Wo der schmale Oderfluß aufhört, diesen Namen zu tragen, wo sich die Wasserfläche zuerst weiter ausbreitet, beginnt das sogenannte Papenwasser. Ist es aber zum weiten, kaum übersehbaren See ausgedehnt, dann heißt es Haff.

Hier beginnen schon meerartige Erscheinungen. Kartoffelfeste Landbewohner werden hier mitunter seekrank, und man sieht schon die ersten Möwen. Um mir den ersten Anblick des Meeres nicht durch den Anblick der Haffanfänge verkümmern zu lassen, zog ich mich in die Kajüte zurück.

Dort saß im Winkel, abgewendet von aller Welt, ein Bekannter aus Berlin, ein Musterhypochonder, der sich darin von den gewöhnlichen unterscheidet, daß er sich seit mehreren Jahren für hergestellt ansieht und ausgibt. „Ich befinde mich außerordentlich wohl“, pflegt er zu sagen, wenn er etwas sagt, „seit ich die nux vomica gebrauche, außerordentlich wohl!“

Die erste Pflicht, die man jedem Hypochonder zu erweisen hat, besteht darin, ihn nicht eher wirklich zu kennen und anzureden, als bis man deutliche Anzeichen hat, er wolle es selber. Daß er antworten, auf etwas eingehen, sich betrachtet sehen muß, ist für ihn bereits eine gewaltige Anstrengung, für die er Kräfte und Nerven nicht immer fähig fühlt. Stumm neben jemand sitzen, der ihm nicht stockfremd ist, macht ihm schon Arbeit und Mühe. Denn der neben ihm Sitzende ist ja doch der stumme Gläubiger eines Gesprächs. Jede Nähe nimmt in Beschlag, das fühlt der Hypochonder bis in die feinsten Nuancen. Wer nie Hypochonder war, kennt das feinste Gewebe von Kombinationen gar nicht, deren der Mensch fähig ist.

Mein Schöneberger – in Schöneberg hatte ich mit ihm Kegel geschoben, als er bei uns für die nux vomica Propaganda machte – schien keinen ganz schlechten Tag zu haben, obwohl er im Winkel saß. Es war zwar nicht der kleinste Buchstabe in seinem Gesichte, als ob er mich jemals gesehen. Aber ich beobachtete schärfer: seine Augenlider verrieten mir, daß es heute seine Hypochondrie erregen würde, wenn ich ihn ignorierte. Diese Gegensätze liegen nun einmal in diesem Zustande. Jetzt um keinen Preis gekannt sein, im nächsten um jeden Preis, weil man sonst Verachtung, Feindschaft, im stillen schleichende Intrige und alles Schlimme dahinter tragen kann. Kurz, sein linkes Augenlid sagte mir: „Heute will ich gegrüßt sein. Dann werde ich mich besinnen, wo wir uns gesehen haben. Dann werde ich nach einiger Zeit Schöneberg erraten mit dem Kegelschieben. Dann werde ich sehr lächeln.“

So geschah es. Er wollte nach Kopenhagen reisen. „Brechmittel haben etwas Vehementes“, sagte er, „obwohl sie eine treffliche Erschütterung des Organismus erzeugen. Eine gelinde Seekrankheit muß ausgezeichnet wirken, ich hoffe darauf. Den Ozean habe ich erschöpft, die langen, ungeschickten Wellen vermögen nichts mehr über meinen Magen. Aber ich hoffe noch alles von den kurzen, unregelmäßigen Stoßwellen in der Ostsee.“

„Sie fahren also bloß nach Kopenhagen, um –“ „Bitte ergebenst, der Herr hinter Ihnen wünscht Sie zu sprechen –!“ Ein richtiger Hypochonder läßt große Zwecke niemals bei ihrem blanken Namen nennen.

Der Herr hinter mir wollte l’hombre spielen. Da es auf dem Verdeck etwas Regen warf, so ließ sich nichts dagegen sagen, der Herr schlug aber dermaßen hohe Sätze der Points vor, daß ich so lange äußerst erstaunte, bis ich mit einigen Details dieses Herrn bekannt wurde. Er war nämlich bei der Post angestellt und hatte nur drei Tage Urlaub. Drei Tage Urlaub sind aber in einem Postoffiziantenleben schon eine so außerordentliche Seltenheit, daß während ihnen alles mögliche Außerordentliche versucht werden muß. Ist es schon gefährlich, mit einem Kommis zusammenzutreffen, der nach vierzehn Tagen oder gar drei Wochen seinen Sonntagnachmittag hat, so kann die ganze Existenz aufs Spiel kommen bei einem Postoffizianten, der nach soundsoviel Monaten einige Stunden Urlaub hat. Alles an Genuß und Wagnis soll da zusammengedrängt werden, was sich sonst klein und einzeln in unserem Leben verliert.

Der Hypochonder lächelte zum l’hombre: Kartenspiel kümmert sich um Nachbarn und Zuschauer nicht. Der Nebensitzende ist leicht beschäftigt und doch nicht in Anspruch genommen, er bleibt stets ein Freiwilliger. Dieser Zustand ist das Ideal eines Hypochonders.

Er flüsterte zuweilen seinen Lieblingsspruch: „Was hat man schon von seinem Leben. Blutwenig!“ Daran war zu erkennen, wie vortrefflich er sich befand.

Wir waren mitten im riskantesten l’hombre, als der Postoffiziant erfuhr, das Dampfschiff gehe am andern Morgen schon wieder von Swinemünde ab, dann pausiere es zwei Tage, ehe es wieder ankomme und abfahre. Das war gegen den Plan seiner dreitägigen Ferienzeit. Er war nun genötigt, am andern Morgen wieder zurückzureisen, wenn er zur rechten Zeit hinter dem Brieffenster sitzen wollte. Dies machte ihn noch verwegener. Er paßte gar nicht mehr, sondern entrierte jedes Spiel, um die Zeit auszubeuten. Die Situation mochte den Hypochonder amüsieren, er flüsterte immer lebhafter seinen melancholischen Spruch.

Da wechselte die Szene. Der Postbeflissene vollendete die stehende Formel: „Ich entriere“ nicht mehr, die Karten entsanken seiner Hand, und er neigte sein Haupt. Das Haff war unruhig geworden und stieß unser Schiff heftig in die Rippen. Ringsum begann man Neptun zu opfern. Nur der Hypochonder blieb mit drohender Miene aufrecht sitzen: „Jeder Lump wird seekrank“, sprach er vor sich hin.

Man erzählt, daß alte, ausgepichte Matrosen, lebenslange Indienfahrer, denen der Ozean die Heiterkeit ihres Magens keinen Augenblick drückte, auf dem Haff und der Ostsee wie Landratten seekrank wurden. Ich nahm eine Kajütenbank in Beschlag. Das stille Schaukeln und gleichmäßige Ächzen und Stöhnen meiner Reisegenossen, der unverrückbar in der Mitte des Zimmers sitzende, vergebens den Meereszorn herausfordernde Schöneberger wirkten so einförmig und einschläfernd auf mich, daß ich bald schlafend von den Wogen geschaukelt wurde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier