Breslau. Ein schöner Sommertag.

Es war ein schöner Sommertag, ich saß am Weiher unter dem Schatten eines Birnbaumes und sah den Schwänen zu, die weit genug vor mir unter einer kleinen, gewölbten Brücke umeinander herumspielten und mit den Schnäbeln klapperten. Ihr südliches Spiel verlockte zu angenehmen Gedanken an ein großes Glück, das irgendwo in der Welt auf mich warten müßte. Irgendwo in wärmeren und freieren Zonen, dort, wo die Natur fortwährend empfängt und gebiert. Von Jugend an sehnte ich mich – oft mit großen Schmerzen – nach dem Süden. Es hat Zeiten gegeben, da mich keine blauen oder schwarzen Augen ausschließlich beschäftigten, da es mich schmerzte, die Namen Italien, Libanon, Fez, Marokko und Biledulgerid, zu deutsch: Dattelland, zu hören. Dattelland! Wo diese köstliche Frucht wächst wie bei uns die ordinäre Kartoffel! Und in Fez, da soll der ganze Livius zu finden sein, weil sich dorthin ein Bischof oder Kardinal aus Byzanz in Begleitung des Livius begeben habe; Es gibt zwar für mich schwache Stunden, da ich mich nicht so leidenschaftlich nach dem totalen Livius sehne, aber die geheimnisvollen berberischen Mädchen und die edlen arabischen Pferde, wie locken sie einen armen Deutschen, der Schöpsenfleisch und weiße Rüben gegessen hat und am Weiher dem verführerischen Spiel der Schwäne zusieht.

Ach, und das Hauptwort verschweige ich noch immer. Denn dann muß ich gleich mit dem Schreiben aufhören, und es erfaßt mich eine krampfhafte Sehnsucht. Warst du, jugendlicher Leser, niemals im Theater, wenn Mozarts „Don Juan“ gespielt wurde? Hast du nie den Cid gelesen? Sind dir nie die Namen Donna Anna, Guadiana und Cordova geheimnisvoll in die Ohren geklungen? Empfandest du nie den mächtigen Zauber, wenn ein Mädchen mit weichen Lippen vom Schatten am Guadalquivir sprach?


„Aber in Spanien!“ Ja, Spanien, das ist das Zauberwort des Südens! Wer doch einmal im alten Maurenreiche Granada unter dunkelgrünen Olivenbäumen liegen könnte und die Zegris und Abencerragen vorüberreiten hörte oder am Tore der Alhambra stünde, wenn der König der Mauren auf seinem rassigen Pferde herausreitet. Der König sieht ernsthaft und weise aus wie der Koran, und neben ihm reitet seine goldene Tochter in überirdischer Schönheit. Sie läßt leise eine Rose fallen, und in der weichen südlichen Nacht, wenn alle Sterne in heißer Liebe strahlen und in tausend Springbrunnen schwellende Küsse zittern, in dieser Romanzennacht, gibst du der schimmernden Prinzessin in den verzauberten Gärten der Alhambra die Rose wieder, die Rose von Damaskus.

Da kam schweißtriefend der Breslauer Briefträger über die Brücke, gab mir einen Brief, verscheuchte die Schwäne, verlangte zweieinhalb Silbergroschen und sagte, der Sommer sei doch eine schlechte Jahreszeit wegen der Hitze.

Das Postzeichen war nicht spanisch, sondern von Leipzig.

Ein Freund schrieb mir, ob ich denn nicht bald käme. Die Weltgeschichte laufe jetzt in einem erschreckenden Tempo ab, und wir würden am Ende gar nichts mehr erleben. Vor einigen Tagen sei erst wieder in Paris eine erkleckliche Revolution vor sich gegangen, und wir säßen ruhig in Deutschland, statt bei solchen Dingen anwesend zu sein. Ob ich mich denn nicht schämte?
Ich lief hastig auf mein Zimmer und schrieb dem Alfons, ich schämte mich. Dann packte ich meine Koffer und war nur unschlüssig, ob ich meine unsterblichen Manuskripte mit all ihren Weltverbesserungsgedanken auch einpacken sollte. Denn die Welt ging also im Galopp, daß ich mich nur wunderte, wie man noch Bücher schreiben könne. Während ich mich selbst damit beschäftigte, dachte ich immer: „Das kommt ja doch alles zu spät. Es wird moutarde après diner sein. Deine umwälzenden Gedanken werden nicht so schnell gedruckt werden können, wie die Reformen eintreten werden.“ Aber der kleine Paul, mein neunjähriger, leider auch schon revolutionärer Stubenbursche, gab den Ausschlag und sagte, es sei schade um so viele vergeudete Stunden, ich sollte die Hefte ruhig mitnehmen.

Ich schied, versprach Paul, ihm Wasser aus dem Euphrat gegen die Sommersprossen seiner Schwester mitzubringen, und fuhr neben der Oder hin die kurze Strecke gegen Breslau.

Der Süden, Livius in Fez, Spanien, die Revolution in Paris, mein Freund in Leipzig, all das trieb sich bunt in meinem Gehirn herum und durcheinander. Nur eines wußte ich, das Glück wollte ich suchen, und dazu mußte ich mir einen Platz auf der Schnellpost bestellen.

In Breslau rollte der Wagen am Dome vorüber. Hier steht immer eine große Kirche nur fünfzig Schritte von der anderen entfernt, Bilder des Gekreuzigten verkümmern den Sonnenschein, purpurrote Mesner kriechen wie gekochte Krebse an den Mauern entlang, kleine blauschwarze Kirchenfenster blinzeln wie falsche, tückische Augen, und christliche Verzweiflung ist rings verbreitet. Wenn ich nicht sehr guter Laune war, so wagte ich mich in Breslau niemals in die Nähe des Domes. Es fiel mir immer ein Verbrechergefühl auf die Brust, wenn ich diese steinerne Betrübnis und Zerknirschung sah. Ein eintöniger Nachmittag auf dem Domplatz kann einen verstockten Sünder mürbe machen. Ein konsequentes Christentum ist von jeher wie ein mit künstlichen Blumen aufgeputzter Friedhof. Ich kam von Gottes gesundem Lande, und mich kränkelte diese Atmosphäre an.

Geht man aber hundert Schritte weiter, so empfängt einen das rauschende Breslauer Straßenleben, und der Alp fällt von der Brust. Da ich alles noch einmal sehen wollte, um Abschied zu nehmen auf lange Zeit von den Winkeln dieser vertrauten Stadt, sprang ich vom Wagen und lief auf die Promenade. Alles, was man verlieren soll, erscheint doppelt schön. Die Breslauer Promenaden wirken recht poetisch. In ganz Deutschland sind vielleicht nur die von Frankfurt schöner, und der Hamburger Stieg und die Wiener Basteien wecken vielleicht im gleichen Maße Gedanken und Gefühle.

Auf der einen Seite sieht man den Dom in der breit hinschwellenden Oder schwimmen, mit seinen Kreuzen, seinen platten viereckigen Türmen und seinem ganzen festen Katholizismus. Die gebrechliche Brücke verbindet ihn noch mit der Welt, sonst ist er vollständig von der gemeinen Menschheit abgesondert. Diesseits der Brücke ist ja auch der Breslauer Katholizismus ein munterer Weltgeistlicher mit nachgiebigen, vernünftigen Ansichten, der gerne beide Augen zudrückt. Man lebt munter in Breslau. Die Kopfhängerei hat trotz Steffens und Scheibel nie gedeihen wollen, und die fleischlichen Vergehen sind ein gesuchter Artikel. Wendet man sich auf der Promenade zur anderen Seite, so sieht man, wie sich von der Taschenbastion aus das bergblaue Schlesien, meine ganze schöne Heimat, von Morgen nach Abend hinbreitet und liebeslustig das Haupt an den geharnischten Sudetenritter lehnt.

Ich habe mich nie der trüben historischen Ahnungen entschlagen können, wenn ich auf leichtem Wagen mit rastlos eilenden sarmatischen Pferden ostwärts über diese Fläche hinfuhr. Da herüber kamen aus dem tiefen Osten die Hunnen, die Tartaren und die Kosaken. Flüsse sind keine Grenzen. Der preußische Staat schläft bei offenen Türen, erst das übrige Deutschland ist durch Berge verschlossen.

Auf den Ebenen zwischen Stettin, Königsberg und Breslau wird über kurz oder lang der vorletzte große Krieg geschlagen, hier werden Ost und West zusammentreffen. Ebenen sind ein Übelstand, Flächen ein Unglück, der Krieg hat hier die gefährlichsten Instinkte.

Ach, und auch die Kriege werden prosaisch. Alles Heldentum hört auf, und ein wenig realistische Wissenschaft und Geld werden alles entscheiden. In einigen Jahren gewinnt der Teil den Krieg, der die meisten Eisenbahnen und Maschinen besitzt. Dann wird der letzte Tropfen Blut der Welt ausgepreßt werden. Es ist Zeit, daß ich auf Reisen gehe, die weiten, unbekannten Länder sind der letzte Zufluchtsort der Poesie, bald wird es keine Poeten mehr geben.

Das neue Lebenselement heißt Geld. Wem es gelingt, sich von ihm zu poetischen Gedanken anregen zu lassen, der wird voraussichtlich unser modernster Dichter. Ehre, Ruhm, Liebe, alle Romantik, die sonst die Menschen und Staaten begeisterten und bewegten, sind verbraucht.

Diese Gedanken peinigten mich, als ich von der Taschenbastion herabsah auf den Besitz eines schlesischen Grafen, einen im Abendrot glitzernden Palast, der dicht an der Bastion liegt und glatt und stolz in das gesegnete grüne Land hinausblickt. Auf dem Balkon stand eine stolze, adelige Frau. Ich kannte sie wohl und wußte, daß sie von alter Herrlichkeit und von edlen Geschlechtern träumte.

Von der Promenade aber kam ein schwerer Mann in einem schwarzen Frack. Aus seiner Weste quollen dicke goldene Uhrketten, die bis zu mir herauf blitzten. Er blieb vor dem Palaste stehen, zählte an den Fingern und nickte mit dem Kopfe. Ich kannte ihn. Es war ein sehr bürgerlicher Bankier, von dem es hieß, er wolle gelegentlich den Palast kaufen. Als ihn die Gräfin erblickte, griff sie hastig nach ihrem Taschentuche und zog sich zurück. Die Sonne ging eben unter, der alte Zobten dampfte dunkelblau, das ferne Riesengebirge lächelte unverständliche Worte.
Die Berge sind klug. Sonst erklangen nur Trompetenschall und Jagdgelärm auf ihnen, jetzt verkauft man hier Kaffee und Weißbier. Früher waren sie unzugänglich, jetzt kann jeder Tertianer ihre keuschesten Stellen betasten.

Die Aristokratie ist tot, der Verstand und das Geld, zwei platte Gesellen, ziehen in die Schlösser und regieren die Welt. Die Berge wissen es und schweigen. Die Adeligen wollen es nicht wissen und gehen zugrunde. Die adeligen Frauen weinen und werden interessant. Wenn sie aufgeht und wenn sie sinkt, ist die Sonne am schönsten. Heutzutage muß ein romantischer Dichter adelige Frauen lieben. In solcher Liebe allein wohnen noch Romanzen und Balladen.

Und es ward dunkel auf der Bastion. Die ausländischen Bäume auf der Promenade sprachen mit Blüten und Düften herauf zu mir wie mit Liedern in fremden Sprachen. Eine Nachtigall fing langsam an, in den nahe liegenden Gebüschen zu singen. Liebespaare gingen küssend an mir vorüber, drüben im Palaste erklang eine schöne Stimme zum Klavier. Ich glaube, es war Rektors Abschied. Der dicke Bankier mit den strotzenden Uhrgehängen erschien mir wie Achill mit den unnahbaren Händen. Mir ward fremd-heimatlich zumute. Der Mond ging auf über der Sündenstadt und dem weichen, fruchtbaren Schlesien. Ich hätte weinen mögen, daß ich Abschied nehmen sollte von dem lustigen deutschen Winkel. Von dem Lande, wo ich zuerst geatmet, zuerst geliebt, zuerst gedichtet hatte.

Ich stieg in die Gasse hinab, wo es wimmelt und flutet von weißen Schürzen, fragenden Augen und trotzigen Waden, an denen die Jünglingsblüte Breslaus prüfend mit halbgeschlossenem Augenlide vorüberzieht. Ernst wandelt der Nobile, den Hut tief im Gesicht der hoffende Referendarius, dreist Bruder Studio, schüchtern der Theologe durch die Ohlauerstraße, hält nächtliche Heerschau und erspäht Raum und Gelegenheit, durch den Wink der Parole einen Deserteur zu gewinnen.

Da kam auch Julia mit den schwarzen Capulettiaugen, ein elegisches Mädchen mit christlichen, sanften Gefühlen allgemeiner Menschenliebe. Sie lispelte: „Romeo?“ „Schweig, Julia“, sagte ich; „Romeo ist tot. Er ist in Spanien, ich kaufe dir heute die letzten Bonbons.“ Sie sah mich fragend an und wollte wissen, wie weit es bis Spanien sei und ob sie mitreisen könne. „Nein, mein Kind“, sagte ich ihr. „Es ist sehr weit –“ „Weiter als Mezibor?“ – „Weiter als Mezibor und auf einer ganz anderen Seite. Und es ist auch sehr lange her, daß ich für dich schwärmte. Die Zeit ist lang und der Weg ist weit, Gott schütze dir Haupt und Schoß, schwarzäugige Julia, hier sind die letzten Bonbons. Und wenn sich wieder einer so töricht in dich verliebt, wie ich es tat wegen der Madonnenhaftigkeit deiner Züge, und dir auch Bonbons schenkt, so denke mein. Ich küsse dann andalusische Mädchen. Sollte es dir aber schlecht gehen, so vergiß mein, denn ich habe dir's prophezeit. Zerre nicht so an meinem Rock und weine nicht italienische Tränen. Mein Herz ist längst tot und liegt mit meinem Glauben im Sarge.“

Ich bog in die Bischofstraße hinein. Julia stand an der Ecke des roten Hirschen und streckte bittend die Hände aus. Ich sah beim Mondschein, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie trug das historische schwarzseidene Kleid, von dem so viel gesprochen worden war. Nach dem dunklen Tuch, das ihre blendende Schulter bedeckte, schmachtete mancher Jüngling Breslaus. Ich hörte, wie die letzten Bonbons auf die Steine fielen, als sie die Arme ausstreckte. Aber ich hüllte mich in meine unwandelbare Tugend und schritt weiter.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier