1. Ursprünge.

Mit Friedrich Wilhelm II. setzt unter neuen Einflüssen eine völlig andere Epoche für Potsdam ein. Die Herrschaft eines geläuterten Klassizismus beginnt, um etwa ein Jahrhundert zu dauern. Die beherrschende Strömung, mit einer stark romantischen von Anfang an verbunden, ist eine europäische. Die neue Entwickelung seit 1750 muss als eine Einheit gefaßt und dem vorhergehenden Barockzeitalter entgegengestellt werden. In Nord-Europa, das mehr und mehr die Bühne beherrscht, waren ja während der ganzen Barockepoche klassizistische Einflüsse wirksam gewesen. Der neue Klassizismus erschien somit wie eine Offenbarung, wie eine endliche Erfüllung nach unvollkommenen Ansätzen. England, Frankreich, Deutschland erleben ihre eigene Renaissance. Es handelt sich, wie Dvorak gelegentlich sehr richtig gesagt hat, beim Klassizismus wie bei der Renaissance um ein aktives künstlerisches Verhältnis der Antike gegenüber, dem die neue barocke Auffassung der architektonischen Probleme zugrunde lag. Nicht das zufällige Auffinden antiker Überreste hat den neuen Stil erzeugt. Im Gegenteil, ein neues Stilempfinden gelangte zu einer anderen Auffassung der Antike. Man sah sie anders als früher, man wandte sich auch von der französischen Hochrenaissance eines Perrault ab, weil sie unantik war. Nicht Palladio, nicht einmal Vitruvius verbürgten mehr das Heil. Theoretisch war die neue Richtung wohl vorbereitet. Schon 1676 — 1678 hatte Jacques Spon eine Beschreibung seiner Reise durch Griechenland herausgegeben. Jonathan Richardson wies 1722 auf die griechischen Originale hin. Graf Caylus, wohl der erfolgreichste Verfechter der neuen Anschauungen, veröffentlichte 1752 seinen ,,Recueil d’antiquités. 1755 traten Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke“ ans Licht. 1769 schlossen sich Woods „Essays über das Originalgenie Homers“ an. Überwältigend wirkten in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Beschäftigung mit den antiken Bauten selbst. Seit 1756 veröffentlichte Giovanni Battista Piranesi seine Antichità Romana: Antike Architektur und Ornamentik vornehmlich nach römischen Überresten des Altertums. Die Marquise von Pompadour entsandte 1748 unter der Führung ihres Bruders, des Marquis de Marigny, eine Expedition nach Pompeji und Herculanum, der sich Charles Nicolas Cochin und kein geringerer als Jacques Germain Soufflot anschlossen. Herculanum war bereits 1737 aufgedeckt worden, aber erst die Ausgrabung Pompejis (1748) hatte die Blicke aller Künstler nach Italien gelenkt. Darthenay berichtete 1753 über die Ergebnisse. Die Sonnenstadt Palmyra wird durch eine Veröffentlichung von Wood über die Ruinen von Baibeck (1753 bis 1755) bekannt. Etwa zur gleichen Zeit erforschen Stuart und Revett die Tempelbauten von Athen. Leroy gab noch vor ihrer Publikation bereits im Jahre 1758 seine ,,Ruines des plus beaux monuments de Grèce“ heraus. 1762 folgten die ,,Antiquities of Athens“ von Stuart und Revett nach. Soufflot studierte 1764 die Bauten von Paestum und schließlich ließ die ,,Society of Dilettanti“ in London Chandlers ,,Travels in Greece and Asia Minor“ 1766 erscheinen. Alle die neuen Quellen fand man, weil man sie finden wollte, weil die Zeit reif geworden war und danach verlangte.

Das Verlangen nach einem neuen harmonischen Stil von schlichter Größe öffnete jetzt die Augen für die Dinge, an denen man früher blind vorübergegangen war. Praktisch zog für den Monumentalbau zum erstenmal Soufflot die Folgerungen in seiner gewaltigen Genevievekirche (Pantheon) zu Paris (1765). Sie bedeutet geradezu ,,eine Revolution der künstlerischen Anschauungen“ (Dohme).


Diese ,,antiquarische“ Renaissance kam nun auch nach Deutschland. Die Kunstform des Louis XVI. besaß noch manches, was dem Raffinement der Gebildeten, die des Rokoko müde waren, angemessen erschien. Diesseits des Rheines suchte man nach ernsten, strengen Wirkungen, man ging hier noch mehr als in Frankreich auf ältere griechische Formen zurück. Das zeigt sich äußerlich in dem Schwinden der korinthischen und vornehmlich der Kompositenordnung, das Altionische, das Altdorische, ja, manchmal sogar das Ägyptische, scheint dem Zeitgeschmack am entsprechendsten. Der Kreis, das Quadrat, das Rechteck werden für Grundrisse verwertet, die raumöffnende Nische zeigt den Halbkreis als Entlastungsform. Diese Vorliebe für die ältesten, einfachsten Raumund Schmuckformen ist romantisch. Die ,,romantisch geschaute Antike“ in ihrer Anwendung auf die Bauten der Neuzeit ist der Zopfstil. Er heißt so, obwohl die eigentliche Zopfzeit vorüber ist. Es ist die Epoche, in der man trotz anderer Grundstimmung noch den Zopf trägt. Man kann diese ganze Richtung aber vielleicht noch besser als Vor- oder Frühklassizismus bezeichnen. Dem Wesen nach gehört sie nämlich mit den folgenden Epochen viel enger zusammen als mit den vorher gehenden, zu denen sie ihrem inneren Gehalt nach in scharfen Gegensatz tritt.

Die neue Mode von Frankreich her ist in Potsdam von Männern wie Krüger, Langhans und Boumann d. Jüngeren angewandt worden. Sie bilden den Übergang vom klassizistisch gewordenen Barock aus. Das ist die eine Linie der Entwickelung. Sie bricht zu Beginn des Jahrhunderts jäh ab. Es gibt aber noch eine zweite Linie, die weit ins 19. Jahrhundert hineinführt. Wenige Monate nach dem Tode des Großen Königs traf am 2. Februar 1787 Friedrich Wilhelm Freiherr von Erdmannsdorff ein, um Entwürfe in Berlin und Potsdam auszuführen. Dieser bedeutende Mann war durch seine vielfachen italienischen Reisen mit der antiken Kunst aufs innigste vertraut, er war hochberühmt durch die Bauten in Woerlitz für den Herzog Franz. Mit Winckelmann stand er trotz früherer Verstimmungen in naher Beziehung. Er stellt also mit dem großen Kunstgelehrten zusammen den selbständigen Anschluss Deutschlands an die Antike dar. So wird er uns Deutschen das, was Soufflot für die Franzosen gewesen war. In Berlin wurde Friedrich Gilly sein begeisterter Schüler. Von Gilly kommt Schinkel her. Dessen Kunst aber hat ihre Wirkungen bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts geübt.

Das Ursprungsland für die romantische Strömung in der Architektur ist Groß-Britannien. Hier ist zuerst die empfindsame Erfassung der Natur durch die Dichtung erweckt worden. Thompsons ,,Seasons“ verkünden den Anschluss an die wahre, unverkünstelte Natur. Die Vorliebe für die Heimat erwächst in Schottland. Allan Ramsay (1724) und William Robertson sammeln schottische Volkslieder. Macpherson hat in den Gesängen „Ossians“ der Naturbegeisterung als eines Besitzes ursprünglicher Menschheit die Wege bereitet und auf ganz Europa gewirkt. Ans Herz der Heimat, der eigenen Vergangenheit will man zurückkehren, das Ursprüngliche, Naive, Natürliche soll das Heilmittel für kulturelle Schäden sein.

Es ist ein Streben vorhanden, aus der Überreife der Kultur herauszukommen, sich in etwas ganz anderes hineinzuversetzen. Dies andere findet man in der Natur, in fernen Zeiten, bei fernen Völkern: die englische Gartenkunst verwirklicht das erste, die Gotik das zweite, die Chinoiserien das dritte Moment. Die letzten Stufen des ausgehenden Rokokozeitalters werden begleitet von einer aufsteigenden neuen Richtung, die erst im 19. Jahrhundert zu voller Entfaltung kommt. Auch in Frankreich finden wir Ähnliches wie in England, nur daß hier die Dinge als Spielereien mehr an der Oberfläche liegen. Die Singeries und Chinoiserien waren schon gegen Ende der Regierung Ludwigs XIV. Mode. Im Journal oeconomique vom März 1752 spricht zum erstenmal ein Architekt für die Gotik. In England brauchte man nur in die Vergangenheit des eigenen Volkes zurückzugreifen. Dieses Verlangen findet sich schon 1742 in einem Buche von Batty und Thomas Langley ausgesprochen: Ancient architecture restored and improved by a great variety of grand and usefull designs entirely new in the gothic mode. Hier werden uns nach dem Schema Palladios sogar fünf neue gotische Säulenordnungen geboten. W. u. J. Halfpenny veröffentlichten (1752) 29 Entwürfe ,,chinese and gothic architecture“.

Das Gotische vertrat das Heimatliche, in dem Chinesischen erblickte man das Natürliche. Man glaubte, daß dies Volk mit der Natur am nächsten im Bunde geblieben sei, eine Täuschung, die aber die bedeutendsten Folgen gehabt hat. Die Gartenkunst brach mit dem Kunstpark Le N1otres, der bis dahin in England geherrscht hatte. Kent und Chambers gaben die Grundlagen für den neuen englischen Park, wobei der letztere zunächst den größten Einfluss ausübte. Er war selbst in China gewesen und das sentimental-spielerische der chinesischen Anlagen mit ihren Tempeln, Pagoden, Wasserfällen, Erinnerungsstätten erschien ihm als Natur. In seinem berühmten Garten zu Kew wurde neben den Tempeln des Äolus, der Bellona, der Alhambra und der chinesischen Pagode auch eine gotische Kathedrale errichtet. Die chinesische Mode ist als allzu willkürlich bald verschwunden, auch setzte bei genauerer Kenntnis Chinas bald eine andere Stimmung ein, aber die Gotik wie der englische Gartenstil haben im 19. Jahrhundert noch eine gewaltige Entwickelung gehabt. Ja, die Stimmung, die von allem Fremdartigen ausgeht, hat noch bei dem Bau von allerlei maurischen Hallen auf 100 Jahre nachgewirkt.

Die romantische Richtung gewann am spätesten in Frankreich Boden. Zwar bestand für die Chinoiserien schon eine Überlieferung und diese wurde fortgesetzt, die Gotik aber wurde zunächst zurückgestellt. Englischer Gartenstil mit sentimentalen Bauten wurde erst unter Marie Antoinette eingeführt, als diese das Trianon bezog und ihr ,,Hameau“, das Schweizerdorf mit Meierei und Mühle einrichten ließ. Viel früher wirkte bei der Stammverwandtschaft von Engländern und Deutschen englische Romantik in Deutschland. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch vor Chambers entstanden die ersten Landschaftsgärten; schon Friedrich II. ließ zwischen 1745 — 1750 den Rehgarten im englischen Stile anlegen. Auch gotische Motive übernahm er bereits 1755. Die erste große folgerichtige Gartenschöpfung im sentimentalen Sinne mit bedeutungsvollen Gebäuden verdanken wir dem Herzog Franz von Dessau: Woerlitz. Er war auf seinen Reisen begeisterter Anhänger dieser neuen Kunst geworden und vertrat im scharfen Gegensatz zu seinem Freunde Erdmannsdorff , dem Klassiker, und auch zu Goethe, die gotische Richtung. Sein gotisches Haus im Woerlitzer Park zeugt davon. Goethe hatte ja früher dem Andenken Erwins v. Steinbach gehuldigt und das Straßburger Münster als deutsche Kunst gepriesen. Später war ihm diese Begeisterung historisch geworden, immerhin hat er auch der gotischen Mode im Weimarer Park durch das Tempelherrenhaus seinen Tribut gezahlt. In Potsdam hat Chambers’ Einfluss in den 70er Jahren noch auf den Großen König gewirkt, unter seinem Nachfolger hat man sich an das Woerlitzer Vorbild unmittelbar angeschlossen. Die Meierei, das gotische Haus, der maurische Tempel, die Einsiedelei, das sind die Widerspiele der Anregungen von Chambers’ Kew-Garten und dem Woerlitzer Park.

Die Gotik regte den romantischen Sinn an, schien an das Mittelalter, an die heimische germanische Kunst zu erinnern. Das Chinesische wurde nicht nur als fremdartig, sondern auch als natürlich geworden empfunden, weil es von der gewohnten Regelrichtigkeit völlig abwich. In solcher merkwürdigen Weise verirrte sich der Geist der Zeit in seinem Suchen nach erhabener, rührender, edler Natur. Die gotische Baukunst wird in Potsdam von den gleichen Männern vertreten, die auch klassizistisch bauten: Langhans und Boumann dem Jüngeren. Für sie schlossen sich die Gegensätze nicht aus. Ja, selbst für Männer von kunsttheoretischer Bildung taten sie das nicht. Die Architektur lässt eine unmittelbare Nachahmung der Natur wie Malerei und Plastik nicht zu. Daher erklärte man, die Nachahmung der Natur auf dem Gebiete der Baukunst sei nichts anderes als die Nachahmung der Antike. Durch die griechischen Künstler sei eben auf diesem Gebiete etwas schlechthin Endgültiges, Einziges, dem Wesen nach Natürliches erzeugt worden, so daß sie nachahmen, die Natur nachahmen bedeute. Das entsprach ganz auch den Ansichten Winckelmanns und Goethes. Somit wurden theoretisch klassische und romantische Strömungen miteinander in Verbindung gesetzt. Verbunden treten sie daher überall auf: Römisches Haus und Tempelherrnhaus in Weimar, Venustempel, Pantheon und Gotisches Haus in Woerlitz, Orangerie, Tempelruine und Bibliothek im Neuen Garten zu Potsdam. — Auch aus der Zeit Friedrich Wilhelms III. finden sich die Spuren dieser Richtung. Für Herrn von Oesfeldt wurde am Abhange des Pfingstberges der kleine Tempel der Pomona (1800 Schinkel), auf dem des Brauhausberges die gothische Wilhelmswarte für den König errichtet. In Paretz haben wir die gotische Kirche, die gotische Dorfschmiede, das klassizistische Schlösschen und die Tempelruine im Park.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Potsdamer Baukunst