1. Kapitel Bei Mutter Thick -12-



„Die Euch zugänglich war – – das ist die Sache! Er wird sich hüten, Euch seine Geheimnisse zugänglich zu machen. Bei diesem Halunken kommt Ihr mit aller Eurer List nicht weiter als bisher; bei ihm kann man den gordischen Knoten nicht aufknüpfen, sondern man muß ihn zerhauen, und das werden wir heute thun. Hoffentlich kann ich dabei auf Eure Hilfe rechnen?“


„Oh, wenn Old Shatterhand was in die Hand nimmt, dann braucht er so eine geringe Hilfe, wie die meinige ist, nicht dabei!“

„Hat er Schränke, Kästen, in die Ihr noch nicht gekommen seid?“

„Ja.“

„Wo?“

„In seiner Privatwohnung unten.“

„Die wird er uns einmal öffnen müssen!“

„Das thut er nicht!“

„Wenn er’s nicht thut, thue ich’s!“

„Das würde gesetzwidrig und also strafbar sein. Verzeiht, Sir, daß ich Euch darauf aufmerksam mache!“

„Pshaw! Was frage ich nach Euern Paragraphen, mit denen es Euch doch nicht gelungen ist, ihn zu fangen und zu überführen! Er ist der Kanada-Bill, der noch niemals nach einem Gesetze gefragt hat; also fällt es mir auch nicht ein, das Gesetz um die freundliche Erlaubnis zu bitten, wenn ich ihm das Handwerk legen will. Könnt Ihr jetzt vielleicht hier abkommen?“

„Ja. Wir haben augenblicklich keinen schweren Patienten.“

„So kommt mit mir herunter!“

Sie stiegen miteinander die Treppen hinab und gingen zu der Stelle, wo Eduard wartete. Dieser bekam von Old Shatterhand die Anweisung, wie er sich zu verhalten hatte, und dann begaben sie sich nach dem Erdgeschosse, wo Werner wohnte. Es war grad so um Mitternacht.

Sie gingen über den Hof und von dem Flur aus in die Küche, wo Eduard damals mit Anitta gelauscht hatte. Auch heut war diese leer. Werner saß mit Frau, Tochter und White in der Stube. Eben sagte der letztere:

„Jetzt, Sennor Carlos, ist es grad zwölf; die sechs Monate sind vorüber, und Eduard ist noch nicht da. Ich erinnere Euch an Euer Wort und hoffe, daß Ihr es halten werdet.“

„Ich halte es,“ antwortete Werner, „und gebe Euch meine Einwilligung, wenn Ihr mir beweist, daß Ihr wirklich so wohlhabend seid, wie Ihr gesagt habt.“

„Ich habe mich natürlich vorbereitet, diesen Beweis anzutreten. Hier seht Euch diese Papiere an! Die Summen, welche da verzeichnet stehen, habe ich auf der Bank deponiert. Genügen sie Euch?“

Man hörte Papiere rascheln, und dann rief Werner aus:

„Sennor Doktor, das ist ja viel, viel mehr, als ich erwarten konnte! Ihr seid ein reicher Mann!“

„Oh, ich könnte Euch beweisen, daß ich noch mehr habe; dies mag aber genügen. Und damit Ihr seht, was für einen aufmerksamen Gatten Eure Anitta an mir haben wird, will ich Euch diesen Schmuck zeigen, den ich ihr schon bei der Verlobung schenken werde. Es sind lauter Edelsteine.“

Man hörte Etuis öffnen, und dann erklangen Wer ners Ausrufe des Erstaunens und der Bewunderung. Da trat Gromann an die Küchenthür, welche ein wenig aufstand, und sah in das Zimmer. Kaum hatte er einen Blick hineingeworfen, so fuhr er zurück und flüsterte Old Shatterhand zu:

„Hört, Sir, ich habe jetzt, was ich brauche. Dieser Schmuck ist Mr. Cleveland gestohlen worden. Er gehörte seiner verstorbenen Frau und wurde nach ihrem Tode im Geldschrank aufbewahrt. Dann verschwand er mit Walker und mit dem Gelde.“

Jetzt fragte White drin:

„Nun, Sennor Carlos, habe ich Euch überzeugt?“

„Ja, Sennor. Komm her, Anitta, und gieb dem Doktor deine Hand!“

Jetzt horchten die Lauscher gespannt, was Anitta sagen würde.

„Ich gebe sie ihm nicht!“ sagte sie in sehr entschlossenem Tone.

„Du weißt, daß er mein Versprechen hat!“

„Das deinige, ja; aber von mir hat er kein Versprechen erhalten.“

„Versprechen ist Versprechen!“ rief White. „Ich denke doch, daß jede Tochter ihrem Vater Gehorsam schuldet! Eduard ist nicht gekommen; wahrscheinlich ist er in den Minen verdorben und gestorben, und – – –“

Er kam nicht weiter in seiner Rede, denn Old Shat terhand schob jetzt Eduard durch die Thür in das Zimmer, und dieser sagte:

„Ich bin gekommen, wie Ihr seht. An Euch, Sennor White, liegt es freilich nicht, daß ich noch lebe und nicht gestorben bin!“

Anitta flog mit einem Freudenrufe auf ihn zu. White aber starrte ihn erschrocken wie einen Toten an, der plötzlich aus dem Grabe steigt. Da öffnete sich die Küchenthür wieder, und Gromann kam herein. Er trat an den Tisch, griff nach den Etuis und sagte:

„Dieser Schmuck ist Mr. Cleveland gestohlen worden; ich konfisziere ihn.“

„Konfiszieren?“ fuhr White auf. „Ich möchte den sehen, der den Mut hat, sich an meinem wohlerworbenen Eigentume zu vergreifen!“

„Das thue ich, weil es nicht wohlerworben ist. Ich bin Detektive und erkläre Euch, daß Ihr mein Gefangener seid, Mr. Walker, der sich hier White nennt!“

Und abermals wurde die Thür geöffnet. Old Shatterhand kam herein und sagte:

„Auch Walker ist sein richtiger Name nicht. Er hat schon hundert Namen getragen und seinen ursprünglichen wohl darüber vergessen; sein berühmtester oder berüchtigtster aber ist Kanada-Bill.“

Jetzt wurde der Schreck des angeblichen Doktors gradezu zum Entsetzen; sein Gesicht erbleichte bis zur Farbe des Papieres, und seine Gestalt wankte, so daß er sich mit den Händen auf den Tisch stützen mußte.

„Old – – Shat – – ter – – hand!“ kam es dabei bebend über seine blutleeren Lippen.

„Ja, Old Shatterhand! Jetzt weißt du wohl, daß fürder kein Entrinnen ist! Deine Thaten schreien zum Himmel auf, und es wäre besser, du hättest die Kugel, welche diesen jungen Mann hier töten sollte, dir ins eigene Herz gejagt; da wärest du dem Strange entgange, dem ich dich ausliefern werde. Deine Laufbahn ist zu Ende!“

Die Wirkung dieser Worte riß die Gestalt des Kanada-Bill aus ihrer zusammengesunkenen Haltung empor. Seine Wangen färbten sich wieder, und seine Augen blitzten. Er griff mit der Hand in die Tasche und schrie Old Shatterhand an:

„Meinst du wirklich, daß ich so nahe am Strange stehe? Noch ist es nicht so weit!“

„Es ist so weit, und selbst dein Revolver kann dich nicht retten. Heraus mit der Hand aus der Tasche!“

„Ja, heraus! Aber nicht bloß mit der Hand. Ehe ich den Strang erhalte, bekommst du dieses Blei!“

Er hob die Hand, in welcher der Revolver blitzte, und richtete ihn auf Old Shatterhand. Der Schuß krachte; Old Shatterhand machte eine blitzschnelle Bewegung zur Seite; die Kugel ging vorüber, und fast in demselben Augenblicke traf seine Faust den Kanada-Bill mit solcher Wucht auf den Kopf, daß er förmlich zu Boden krachte und mehrere Stühle mit sich niederriß.

Werner saß vor Schreck lautlos; seine Frau aber schrie laut auf.

„Still!“ gebot Old Shatterhand. „Er ist gefällt und wird keinem Menschen mehr schaden. Gebt einige Schnüre her, um ihn zu binden, und schickt dann nach der Polizei! Die wird sich freuen, einen solchen Fang ausgeliefert zu bekommen.

Er hob den Revolver auf, der dem Kanada-Bill entfallen war, und dann wurde der Bewußtlose gefesselt. Nun ging es ans Fragen, Antworten und Erklären, und als sich die Polizei einstellte, wurde die Wohnung des Verbrechers untersucht. Mit Hilfe der Schlüssel, welche er einstecken hatte, konnte man alles öffnen, und da fanden sich denn so viel Zeugen seiner Thaten, daß er der Todesstrafe nicht entgehen konnte. Vor allen Dingen gab es viel Goldstaub und Nuggets, die er seinen kranken Diggers im ‚Hospitale‘ abgenommen hatte, bevor sie von ihm aus dem Leben ‚gedoktort‘ worden waren. Auch die ganze Summe, welche er Mr. Cleveland abgenommen hatte, war vorhanden und durch seine Notizen legitimiert. Gromann freute sich königlich darüber, seinem armen, einstigen Prinzipale dieses Geld wiederbringen zu können.

Der Arrestant kam während der ganzen Durchsuchung seiner Wohnung nicht wieder zu sich und wurde in diesem bewußtlosen Zustande fortgeschafft. Als er dann später in der Haft erwachte, begann er zu schreien und zu wüten. Der Fausthieb Old Shatterhands hatte sein Gehirn in der Weise erschüttert, daß er nicht wieder richtig zur Besinnung, zum Bewußtsein kam. Er kämpfte Tag und Nacht mit den Gestalten derer, an denen er sich vergangen hatte, und wurde dabei so gefährlich, daß ihn nur die Zwangsjacke bändigen konnte. Die Tobsucht ließ nicht von ihm, bis sie ihn mit schäumendem Ringen tot niederwarf. Ein Ende durch den Strang wäre weniger schrecklich gewesen; aber er hatte diesen Tod verdient und war selber an ihm schuld, denn hätte er nicht auf Old Shatterhand geschossen, so wäre er nicht von diesem zu Boden geschlagen worden. So, ich bin mit meiner Geschichte fertig, und nun wißt ihr, Mesch’schurs, wo und wie der Kanada-Bill geendet hat.“ –

Die letzte Hälfte der Erzählung hatte aller Augen an seine Lippen gefesselt, und auch ich selbst war ihr mit Spannung gefolgt. Er hatte sie zwar in seiner Weise ausgeschmückt, aber dennoch mit ihr die Wahrheit berichtet.

Nun saßen die Zuhörer unter ihrem Eindrucke längere Zeit still da, bis einer sagte:

„Es ist eigentlich kaum glaublich, daß ein Mensch einen andern durch einen einfachen Fausthieb in dieser Weise niederschlagen kann!“

„Und dennoch ist es so,“ behauptete der Erzähler.

„Aber diesem Menschen muß die Hand doch wochenlang dann schmerzen!“

„Ich habe gehört, daß ein Vorteil dabei sei, den nur Old Shatterhand kennt und keinem Menschen sagt. Es soll dabei sehr auf die Lage der Finger, welche die Faust bilden, und auch auf die Stelle des Kopfes ankommen, auf welche der Hieb zu richten ist!“

„Ob Winnetou, sein Freund, das auch so fertig bringt?“

„Das weiß ich nicht.“

„Aber ich weiß es,“ ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

„Ihr? Kennt Ihr Winnetou persönlich?“

„Habe ihn gesehen.“

„Wo?“

„Drüben am Arkansas, in der Nähe von Fort Gibson, wo ich, wenn er auch nicht grad jemand mit der Faust niederschlug, doch Gelegenheit hatte, seine Gewandtheit und Körperkraft zu bewundern.“

„Ist es interessant?“

„Sehr!“

„So erzählt, Sir! Nicht wahr, Mesch’schurs, er soll es erzählen?“

„Ja, ja, erzählen, erzählen!“ rief’s im Kreise.

Ich war nun neugierig, was nun kommen würde, und ob es mir eine bekannte oder unbekannte Episode aus dem Leben Winnetous sei. Der Mann, welcher aufgefordert wurde, seine Geschichte vorzutragen, hatte lebhafte, scharfblickende Augen, ein intelligentes Gesicht und war wohl gewöhnt, über Dinge nachzudenken, welche andre Leute gleichgültig lassen. Schon die Einleitung, welche er vorausschickte, nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

„Ihr müßt wissen, Gent’s,“ begann er, „daß ich über den wilden Westen und die Indianer meine eigenen Ansichten habe, ganz andere, als sie hier landläufig sind. Ich bin, als ich noch mit der sogenannten ‚Existenz‘ zu kämpfen hatte, als Pedlar 7) sehr viel unter den Roten gewesen und habe mich stets wohl bei ihnen befunden. Dann wurde ich dies und das; es ging mir von Jahr zu Jahr besser, und wenn ich jetzt als ein gemachter Mann hier bei euch sitze, so haben sich zwar meine Verhältnisse geändert, nicht aber meine Ansichten über die Indsmen, die weit, weit besser sind als ihr Ruf, und Winnetou ist der beste und herrlichste von ihnen. Ich möchte manchem Weißen wünschen, so zu sein wie er!

Die meisten von euch werden wissen, daß ich eine Reihe von Jahren Indianeragent gewesen bin, aber nicht einer von der Sorte, welche, um sich selbst zu bereichern, die Roten um ihr Recht prellen und um ihr Hab und Gut betrügen. Diese Art von Agenten trägt die meiste Schuld daran, daß die Indianer nie aus dem Zorne gegen die Weißen herauskommen. Diese Leute bereichern sich gewissenlos an der Armut und Nacktheit des bedauernswerten Angehörigen der roten Nation und schreien Ach und Wehe über sie, wenn sie dann endlich einmal die Geduld verlieren und mit den Waffen in der Hand Gerechtigkeit verlangen.“

„Das ist ja eine wirkliche Predigt, die Ihr uns da haltet, Sir!“ lächelte ein Nachbar von ihm.

„Wollte gerne, es wäre eine und es standen alle Weißen der Vereinigten Staaten hier, um sie sich zu Herzen zu nehmen. Was ich euch erzählen will, habe ich selbst teilweise miterlebt; ich war dabei. Ihr werdet daraus erstens ersehen, was Winnetou für ein Mann ist, und zweitens, daß es weiße Schurken giebt, an deren Schlechtigkeit kein Roter kommt. Die Feindschaft der Indianer gegen uns ist wohl begründet; wenn aber Weiße sich an Weißen vergreifen, um sie zu verderben, so ist das eine Halunkenhaftigkeit, für welche man keine Worte findet und die den Indsmen einen Begriff von uns beibringt, der tief und schwer zu beklagen ist. Man darf sich dann nicht wundern, wenn sie uns verachten und sich für besser als die Bleichgesichter halten. Meine Geschichte wird von solchen Weißen handeln, und wenn Ihr dann noch stolz darauf seid, Weiße zu sein und die Roten für schlechter als die Bleichgesichter haltet, so ist das nicht meine Sache, sondern die eurige, Mesch’schurs. Also, ich will beginnen:

Jene weiten Prairien Nordamerikas, welche sich westlich vom ‚Vater der Ströme‘, dem Missisippi, bis an den Fuß des Felsengebirges und von dem jenseitigen Abhange derselben wieder an die Küste des stillen Weltmeeres erstrecken, haben nicht nur in physikalischer Beziehung mancherlei Aehnlichkeiten mit den unendlichen Fernen, welche die Wogen des Oceanes erfüllen. Es bieten sich zu einem Vergleiche zwischen den Weiten der Savanne und den oceanischen Strecken Punkte dar, welche nicht in äußeren Verhältnissen liegen und von denen einer der bedeutendsten in dem Eindrucke zu suchen ist, welchen die See sowohl als auch die Prairie auf denjenigen macht, der sich einmal von der heimischen Scholle losgerissen hat, um entweder auf längere Zeit die Fluten des Meeres zu pflügen oder auf dem Rücken eines guten Pferdes die abenteuervollen Hinterländer der Vereinigten Staaten zu durchstreifen.“

Ein alter „Swalker“, welchem Zeit seines Lebens die Segel eines stattlichen Dreimasters um den Südwester schlugen, mag von dem Binnenlande nichts mehr wissen, und wird er seeuntüchtig, so baut er sich eine enge, kleine Kabine so nahe wie möglich an das Wasser und blickt mit liebevollem, sehnsüchtigem Auge hinaus auf die ewig wechselnden und nimmer ruhenden Wellen, bis die Hand des Todes ihm die müden Lider schließt.

So ist es auch mit dem, der es wagte, den Gefahren des „wilden Westens“ kühn die Stirne zu bieten. Ist er auch einmal zurückgekehrt in Gegenden, über welche die Civilisation ihren Segen und – ihren Fluch ausgeschüttet hat, so zieht es ihn doch immer wieder zwischen die gefährlichen Post-oak-flats hinein und in die unbegrenzte Wildnis hinaus, wo es der Anstrengung aller körperlichen und geistigen Kräfte bedarf, um im Kampfe mit den tausenderlei und stets neuen Gefahren der Savanne nicht zu unterliegen. Für ihn giebt es nur selten im Alter ein Ruheplätzchen, wie es der „abgetakelte“ Seemann doch an der sichern Küste findet; ihm läßt es weder Ruhe noch Rast, er muß sich auf den Rücken seines Mustangs hängen und immer wieder in die Ferne ziehen, in welcher er einst spurlos verschwinden wird. Vielleicht findet ein Jäger nach Jahren seine gebleichten Gebeine auf ausgedorrter Ebene oder zwischen den himmelanstrebenden Felsen des Gebirges liegen; aber er reitet vorüber ohne ein Kreuz oder Ave und fragt nicht nach dem Namen dessen, der hier vielleicht ein grauenvolles Ende nahm. Der Westen hat einen rauhen Sinn und duldet weder Zartgefühl noch Schonung; er ist den physikalischen Stürmen widerstandslos preisgegeben, kennt keine andre Herrschaft als diejenige des unerbittlichen Naturgesetzes und bietet darum auch nur Männern Raum, die ihren einzigen Halt in der eigenen knorrigen Naturwüchsigkeit suchen.




7) Händler.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand II