Nikolaus II.

Russische Kulturbilder - Erlebnisse und Erinnerungen
Autor: Zabel, Eugen (1851-1924) deutscher Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1907
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Als der Lenz vor zehn Jahren mit jenem raschen Übergang, den man beim Wechsel der Jahreszeiten nur in Russland kennt, den letzten Schnee auf den Steppen zum Schmelzen und die eisigen Winde zum Schweigen brachte, als innerhalb weniger Tage aus den Zweigen und Sträuchern frisches Grün heraussprang, und die Maisonne den Winter ohne Übergang plötzlich in warm leuchtenden Sommer verwandelte, erfolgte in der Uspenskikirche im Kreml in Moskau die feierliche Krönung des Zaren Nikolaus II. zum Selbstherrscher aller Reußen. Das uralte Gotteshaus, in dem die russischen Zaren von der Geistlichkeit gesalbt werden und sich das Symbol ihrer Macht selbst aufs Haupt setzen, schimmerte im Glanz der mit Gold und Edelsteinen geschmückten Bilderwand, die den Altar vom Allerheiligsten trennt, bei dem flackernden Licht der Wachskerzen, die an den Kronleuchtern brannten, und dem Funkeln der Uniformen und Orden in der Schar der geladenen Gäste, die aus aller Heeren Ländern zusammengeströmt waren, um dem feierlichen Akt beizuwohnen. Langsam füllte sich der Raum zur Linken mit den Damen der Aristokratie, die in ihren weißen Kleidern den altrussischen Kokoschnik als Kopfschmuck zur Schau trugen. Die Geistlichkeit verbeugte sich in ihren goldenen Gewändern unaufhörlich zum Altar und murmelte wohl fünfzigmal hintereinander das ,,Boshe pomili“, „Herr erbarme dich“, während gleich darauf die gewaltigen Bässe der Männer und die lieblichen Stimmen der Knaben ohne instrumentale Begleitung einsetzten. Von meinem Standpunkt gleich hinter den Herren des Reichsrats, den Mitgliedern des Senats und den Bürgermeistern der Städte konnte man auf goldenem Tische Krone, Szepter und Reichsapfel erblicken. Von draußen tönten die Klänge der Nationalhymne, das Geläute der Glocken und das Hurrarufen der Menge immer lauter in den Stillen Raum der Kathedrale hinein, an deren Wänden die Heiligenbilder zu erzittern schienen. Gleich darauf erschien der Kaiser in der uniform eines Obersten des Preobraschenskischen Regiments mit dem roten Band des Alexander Newski-Ordens, das sich ihm von der linken Seite über die Schulter legte, mit der Kaiserin, die das dunkler gehaltene Band des Katharinenordens über der rechten Schulter trug.

Ein seltsames Paar, dessen Anblick viel zu denken gab! Die Kaiserin, die Verkörperung echter Weiblichkeit, eine ungewöhnliche Schönheit und wahrhaft majestätische Erscheinung, ein wenig streng und kühl in ihrem Gesichtsausdruck, der an das Wesen einer englischen Lady erinnerte, aber doch sofort für sich einnahm, wenn darüber ein sanftes Lächeln aufleuchtete. Sie fürchtete sich offenbar vor den Anstrengungen, die ihr der Krönungstag zumutete. Ihr schönes blondes Haar war zum Teil zu einem griechischen Knoten zusammengebunden, zum Teil fiel es ihr in langen Strähnen über die Schultern hinweg. Sie fühlte sich noch fremd in der Umgebung, und war kaum imstande, die Sprache ihrer neuen Heimat, auch wenn es sich nur um wenige fließende Sätze handelte, frei zu üben. Aber ihr Wesen imponierte allen, und das Volk fand in der Art, wie sie sich nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Oberkörper vor ihm verneigte, einen echt russischen Bojarengruß, an dem die Menge sich erbaute. Kaiser Nikolaus II., einen halben Kopf kleiner als sie, erschien daneben mit seiner zierlichen, schmächtigen Gestalt trotz seiner achtundzwanzig Jahre immer noch wie ein Jüngling. Ein stärkerer Gegensatz zu der Riesenerscheinung seines Vaters Alexanders III., der in seiner ungebrochenen Jugend die Kraft eines Athleten belaß. konnte unmöglich gedacht werden. Dem jungen Kaiser fehlten aber auch die großen, klugen, scharf dreinblickenden Augen seiner Mutter, von der nur die feine Gestalt auf ihn übergegangen zu sein schien. Während er vor den Metropoliten von Petersburg, Moskau und Nowgorod, die sich tief vor ihm verneigten, das Glaubensbekenntnis hersagte und sich dabei vier- oder fünfmal bekreuzigte, begann seine wohllautende, aber matt klingende Stimme bei sinnschweren Worten zu stocken. Als ihm und seiner Gemahlin die mit Hermelin besetzten Krönungsgewänder angelegt wurden, war sein Onkel, der Großfürst Wladimir, ihm behilflich, die Falten des Gewandes zu ordnen. Wenn er seinem Neffen kaum merklich etwas zuflüsterte, Schien es beinahe, als ob er ihm Mut einflößen wollte, bei den unendlich ausgedehnten Zeremonien seinen Mann zu stehen. Der Kaiser nahm dem höchsten Vertreter der Geistlichkeit die Krone aus der Hand und setzte sie sich selbst aufs Haupt. Aber man konnte genau beobachten, wie sie ihn mit ihrer schweren, goldenen, mit Edelsteinen besetzten Wölbung die Stirn an einer erhöhten Stelle, die mit einer Narbe versehen war, drückte und ihn schmerzte. Einen Augenblick nahm er sie vom Haupt und berührte damit die Stirnfläche der Kaiserin, um diese dadurch zur Genossin seines Thrones zu weihen, bevor er ihr die kleinere Krone selbst aufs Haupt setzte. Die hohe Geistlichkeit näherte sich wieder dem neuen Herrscherpaar mit langen, brennenden Wachslichtern und Weihrauchfässern, um die Salbung vorzunehmen, während die gewaltige Glocke des Iwan Weliki mit mächtigem Dröhnen dazwischen tönte.

Das Jahrzehnt, das seit dem glänzenden Schauspiel dahingegangen ist, hat den Zaren vor Aufgaben gestellt, deren glückliche Lösung ihn den größten Herrschern aus dem Hause Romanow zur Seite gestellt hätte. Statt dessen hat das Rad des Schicksals sich in furchtbarem Schwunge gegen ihn und sein Haus gewendet, Gefahren heraufbeschworen, die für die Zukunft das Schlimmste befürchten lassen und Wirrnisse ohne Ende zur Folge haben. Das glückliche Familienleben, das er führt, schützte ihn nicht einmal vor schweren Sorgen im eigenen Hause. Die vier Töchter, die zu seinen Füßen spielten und heranblühten, wie die vier Bäumchen, die ihnen zu Ehren im Schlosspark von Zarskoje Sselo eingepflanzt waren, berührten in dem leicht bestimmbaren Volksbewusstsein wie eine Enttäuschung berechtigter Erwartungen. Ein Sohn und Thronfolger musste vorhanden sein, um der ausländischen Prinzessin auf dem Kaiserthron das entsprechende Ansehen zu geben. Inzwischen trieb die unüberlegte Eroberungspolitik der Militärpartei zur Einverleibung der Mandschurei und der Fortführung der sibirischen Bahn nach den eisfreien Häfen des Golfs von Petschili. Vergeblich suchte Witte vor dem gefährlichen Übermut zu warnen und darauf hinzuweisen, daß die fertiggestellte Bahn für den Weltverkehr zum Stillen Ozean treffliche Dienste leiste, seitdem es in Wladiwostok gelungen war, durch Eisbrecher auch im Winter eine Fahrrinne für Handelsschiffe zu schaffen, die Japaner, von deren entschlossener Tatkraft alle Kenner des ,,fernen Ostens“ eine hohe Meinung hatten, galten den weisen Herren in St. Petersburg für zudringliche Affen, die man mit einer tüchtigen Tracht Prügel ohne weiteres auf ihre Inseln wieder zurücktreiben würde. Das Verhängnis brach in fürchterlicher Weise über Russland herein, entzündete all die gefährlichen Kräfte, die im Innern gebrodelt hatten, und rief einen solchen Heißhunger nach Reformen, einen solchen fieberhaften Durst nach Freiheit hervor, daß die Geburt des Thronfolgers Alexei nur noch wenig von dem erwarteten Freudentaumel übrig ließ. Vater Johann von Kronstadt und all die Männer, die den Segen des Himmels herabbeschworen hatten, wären sonst als Wundertäter angestaunt worden. Jetzt dachte man aber nicht an die kommende Generation, sondern nur an die Rechte der gegenwärtigen.

In einer seiner politischen Reden hat Canning einmal das schwerwiegende Wort ausgesprochene „Unschlüssigkeit und Verzögerung sind die Eltern des Misslingens; sie bringen der Sache, bei der sie angewendet werden, jede Möglichkeit des Verderbens und bieten dem Gegner jeden Vorteil und jede Ermutigung.“ Nikolaus II. hat diesen Satz offenbar nie gelesen, jedenfalls den Sinn, der ihm zugrunde liegt, nicht verstanden. Er ist kein Herrscher, der durch seine Persönlichkeit einen Eindruck auf die Menge zu machen, sie durch die Kraft seines Willens zu beglücken oder zu erschrecken, zu belohnen oder zu bestrafen weiß. Alle Versuche, die man in früherer Zeit machte, um sein Wesen nach dieser Richtung hin zu idealisieren, sind völlig gescheitert und selbst von gefälligen Federn nicht wieder aufgenommen worden. Es wurden die verkehrtesten Mittel angewendet, um ihm den Blick für die Wirklichkeit der Dinge freizuhalten, ihm für die Beurteilung der Dinge feste Handhaben zu geben, die Geschickte seines Landes von einem erhöhten Standpunkt zu betrachten und mit einem entschiedenen ,,Ja“ oder „Nein“ Zweckmäßiges zu schaffen oder schädliche Einflüsse abzuweisen. Die Weltanschauung des unseligen Pobjedonoszew wurde ihm unablässig eingeflößt und dadurch die Überzeugung in ihm großgezogen, daß das Selbstherrschertum und die orthodoxe Kirche die beiden mächtigen Pfeiler bilden, die einzig und allein das mächtige russische Reich sicher stützen können. Diese Lehren wirkten beruhigend auf einen Mann, dessen Eigenschaften für einen zum Guten, aber nicht zum Bedeutenden veranlagten Privatmann ausgereicht hätten, aber sofort zu bedenklichen Fehlern wurden, wenn es sich um die Wahrnehmung der wirklichen Volksinteressen handelte.

Der Zar, der in den anderthalb Jahren zwischen seiner Vermählung in Petersburg und seiner Krönung in Moskau noch so vertrauensvoll und gutmeinend um sich blickte, wurde, ehe er eine Ahnung davon hatte, von Einflüssen umgarnt, die mächtiger als er waren und ihn dorthin schoben, wo sie ihn brauchten, um rückständigen Ideen zu dienen. Wenn er das Richtige wollte, wurde es ihm in der Ausführung so dargestellt, daß beinahe das Gegenteil seiner Absichten zutage kam. Das giftgetränkte Netz, das ihm seine Umgebung umlegte, und das er mit einem entschlossenen Ruck hätte zerreißen müssen, erschien ihm wie ein wärmendes Kleid. Nikolaus II. suchte die Unnahbarkeit des Herrschertums durch manche liebenswürdige Züge menschlich abzuschwächen. Auch er erinnerte sich an ein goldenes Wort, das er bei Puschkin, dem nationalen Dichter der Russen, in dessen Drama „Boris Godunow“ gefunden und das seinem Vater immer als Führung gedient hatte. In dieser Dichtung sagt der Sterbende Zar zum Thronfolger:

„Sei schweigsam, Sohn, nicht soll des Zaren Wort
Zwecklos verhallen in der leeren Luft.
Es soll wie heilger Glockenton nur künden
Ein großes Leiden oder große Feier.“

Aber auch diesen weisen Rat wusste sich der junge Kaiser nicht zunutze zu machen. Wenn er sprach, schien es immer unter einem Zwang zu geschehen, dem er nur ungern nachgab. Seine Worte hatten keinen Hochflug und keine Spannkraft, sie zielten und trafen nicht in das Wesen der Dinge, sie tönten, als ob Sie aus einer fremden Seele herausgesprochen wären. Der Zar fühlte bald selbst nur zu sehr, daß er nicht Situationen schaffe, sondern von ihnen geschoben werde. Er wunderte oder empörte sich sogar über das, was er aus der angeblichen Befolgung seiner Bestimmung entstehen sah, und wurde dann von einem Misstrauen erfüllt, das ihn noch vorsichtiger in seinen Willensäußerungen machte, bis sie schließlich ins Stocken kamen, wenn man sie dringend erwartete und brauchte. Wie er es anstellte, um sich schwierigen Entscheidungen gewachsen zu zeigen, beweist die erste Entlassung Wittes im Herbst 1903. Der Minister fühlte sich niemals sicherer als gerade zu jener Zeit und erwartete von der Audienz, die er bei seinem kaiserlichen Herrn hatte, nur freundliche Wünsche beim Antritt seiner Urlaubsreise. Diese flossen auch tatsächlich wie milder erquickender Maienregen auf ihn nieder und mit einer tiefen Verbeugung wendete sich der Minister zum Ausgang des Zimmers. Der Zar begleitete ihn gnädig lächelnd bis dorthin, reichte ihm die Hand zum Abschied, schlug aber dann die Augen verlegen nieder und sagte zu ihm: ,,Sergej Juljewitsch, ich habe Sie zum Vorsitzenden des Ministerkomitees ernannt!“ Das bedeutete natürlich eine Kaltstellung, wie sie eindrucksvoller nicht gedacht werden konnte. In eingeweihten und für zuverlässig geltenden Kreisen wurde noch hinzugefügt, daß der Zar, als er wieder allein war, sich die Hände vergnügt gerieben und für den im Vorzimmer diensttuenden Adjutanten vernehmlich ausgerufen habe: „Gott sei Dank, nun bin ich ihn los1“ Die Kunde davon lief bald durch die höheren Beamtenkreise und wurde an den Winterabenden, wenn der eine oder der andere über die bestehenden Zustände seinem Herzen Luft machte, ganz offen besprochen. Witte hat das Vertrauen des Zaren niemals in vollem Maße zu erlangen gewusst. Das Energische, Drauflosfahrende, Selbstbewusste des Ministers erregten des Zaren Argwohn, als ob Witte mindestens ebenso sehr an sich als an das Wohl des Reiches denke. In schwierigen Situationen mußte Nikolaus II. ihn allerdings als unentbehrlich anerkennen und zu seiner Tatkraft zurückgreifen. Aber als „treuer Diener seines Herrn“ wollte er ihm nie erscheinen, und das Wachstum seiner Bedeutung hat er nach Möglichkeit zu hindern gesucht als schädlich und gefährlich für das Ansehen seiner Krone.

Viele wollen die auffaltenden Schwächen im Charakter des Zaren, das Zögernde, Schwankende und unentschlossene seines Wesens aus seinem körperlichen Befinden erklären. Sie erinnern an jene Episode auf seiner Orientreise im Frühling 1891, als ein japanischer Polizist in Otsu bei Kioto mit gezogenem Säbel auf ihn einstürmte und ihn am Kopf nicht unbedenklich verwundete. An den Folgen dieses Schlags soll der damalige Großfürst-Thronfolger noch längere Zeit nachher zu Leiden gehabt haben. Es hieß, heftige Kopfschmerzen, die ihn ab und zu immer quälten, beeinträchtigten seine Arbeitsfähigkeit zuweilen in bedenklicher Weise und ließen noch allerlei weitere Befürchtungen aufkommen. Diese schienen frische Nahrung zu erhalten, als der Zar vor mehreren Jahren während seines Aufenthalts auf dem Schloss Livadia in der Krim nicht ungefährlich erkrankte. Von einer Seite wurde damals behauptet, daß die Lage des Palais am Schwarzen Meer der körperlichen Beschaffenheit des Kaisers unzuträglich gewesen sei und einen schweren Typhusfall zur Folge gehabt habe. Von anderer Seite wurde dagegen versichert, daß man in der kaiserlichen Küche den Speisen, die für die Zarenfamilie zubereitet wurden, Gift beigemischt habe. Aus den widersprechenden Gerüchten die absolute Wahrheit herauszuschälen, war bei dem Vertuschungssystem, das in den offiziellen Kreisen befolgt wird, und bei dem Mangel einer selbständigen öffentlichen Meinung fast ganz unmöglich. Fest stand nur das eine, das Nikolaus II. leine Willenskraft fast immer nur in dem passiven Widerstand äußerte, den er notwendigen Entschließungen entgegensetzte, in dem Eigensinn, mit dem er den Vorschlägen seiner Umgebung widerstrebte, ohne aber selbst zu sagen, was er eigentlich wollte. In den intimen Kreisen Petersburgs wurde später Erstaunliches darüber erzählt, wie das Gleise der Regierungsmaschinerie nicht selten einfach um die Person des Zaren herumgeführt wurde und wie in seinem Namen amtliche Erlasse erfolgten, deren Inhalt er vorher kaum gekannt, denen er aber sicherlich nicht seine Unterschrift gegeben hatte.

Tatsache bleibt, daß seit dem unglückseligen 22. Januar vorigen Jahres auch bei dem ruhigen und wohlmeinenden Teile der Bevölkerung das Vertrauen in die ehrlichen Absichten der Regierung und die Willenskraft des Zaren immer mehr schwinden. Bis dahin war es immer noch möglich, die Unzufriedenheit, die während des Krieges in erschreckender Weise wuchs, zu vertrösten mit dem Versprechen, daß alle Hoffnungen in absehbarer Zeit erfüllt würden. Ader niemals konnte man in der Residenzstadt vergessen, daß Männer und Frauen jedes Alters hilfeflehend wie Kinder zu ihrem Vater nach dem Winterpalais geströmt waren und daß sie dabei durch Gewehre und Kanonen in langen Reihen niedergeknallt wurden. Dass der Zar damals, anstatt die Stimme der Bittenden zu seinem Ohr dringen zu lassen, heimlich nach Zarskoje Sselo abreiste, bildete einen Beweis von Schwäche, von der er sich nicht mehr erholt hat, und ein schweres Verschulden, das vielleicht nie wieder gutzumachen ist. Seitdem liegen ihm lauter kurzsichtige oder böswillige Geister in den Ohren, Männer, die von Trepow als tauglich befunden wurden, das schwankende und in allen Fugen bebende Staatsschiff in den richtigen Kurs zu bringen. Nun ertönt wieder das alte, traurige und dumme Lied, daß die Empörung über bestehende Missstände wie Giftfläschchen in den Schränken der Apotheker verteilt sei, und daß man sie nur zu zertrümmern brauche, um alles wieder in Friede und Freundschaft verwandelt zu sehen. Nun sind wieder die Juden an altem schuld, und Menschen, die für ernsthaft gelten wollen, überlegen wirklich, wie man allmählich über fünf Millionen denkender und fühlender Wesen aus dem Lande hinaushetzen könne. Nun greift wieder der fluchwürdige Gedankt um sich, die geknechtete Bevölkerung mit schönen Verheißungen hinzuhalten, in der Hoffnung, daß schließlich doch alles beim alten bleiben werde. und „Väterchen“ weilt fern von der Hauptstadt, ohne zu bedenken, daß die Schillerschen Worte: ,,und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen Sein!“ für niemanden eine größere Bedeutung hat, als für die vom Schicksal Bevorzugten, in deren Hände das Wohl eines ganzes Volkes gelegt ist.

Zar Nikolaus wohnt in Peterhof nicht in dem großen, von Peter dem Großen erbauten Palais, das eine getreue Nachbildung des Schlosses von Versailles bildet und von dem zwischen überraschend schönen Baumanlagen prachtvolle Kaskaden über breite Stufen herabstürzen, um in einem weiten Becken die 25 Meter aufspringende Simsonsfontäne zu speisen. Der Wohnsitz des Kaisers liegt im untern Park, ganz nahe am Ufer der Newabucht, in dem Lustschloss Alexandria, dessen Bau schon von Alexander I. in Angriff genommen, aber erst von dessen Sohn Nikolaus I. zur Ausführung gebracht wurde. Es sollte damit ein beständiger Sommeraufenthalt für die kaiserliche Familie geschaffen werden, eine Absicht, die auch von den späteren Herrschern als zweckmäßig anerkannt wurde. Das Schloss steht auf einer kleinen Erhebung und macht mit seinen offenen Ballonen, Galerien und Terrassen einen freundlichen, aber keineswegs prunkhaften Eindruckt. Am hübschesten wirken die schöngehaltenen Gartenanlagen, die sich um das Schloss herumziehen, das auch mancherlei künstlerischen Schmuck in Gestalt von Reliefs, Statuen und einer Pietà enthält. Die Zimmer der Kaiserin befinden sich in den unteren, diejenigen des Kaisers in dem oberen Teile des Gebäudes. In dem Dachzimmer sind Einrichtungen für eine Telegraphen- und Signalstation getroffen morden, die Alexandria mit der gegenüberliegenden Festung Kronstadt verbindet. Dem Kaiser Alexander III. war bei seinem Sommeraufenthalt auch dies Palais noch zu prunkvoll eingerichtet. Er zog sich daher mit Vorliebe auf ein in unmittelbarer nähe davon befindliches kleines Gebäude zurück, dem der Charakter eines Bauernhauses gegeben war. Von Peterhof kann man in schönen Tagen die goldene Kuppel der Isaakskirche von St. Petersburg herüberschimmern sehen, wo jeden neuen Tag Nachrichten von verhängnisvollen Begebenheiten zusammenströmen und die Ohnmacht der Regierung, den Sturm der erwachten Geister zu beruhigen, beständig zunimmt. Aber Nikolaus II. ist nicht aus dem Stoff geboren, den die Schöpfungskraft der Natur und des Lebens verwendet, um große Herrscher zu bilden. Der Geist Peters des Großen, der in den beginnenden Herbstabenden durch die Anlagen seines Parks schwebt, scheint den schwankenden Mut des Mannes, der auf seinem Thron sitzt, nicht beleben zu können. Immer mehr verengt sich der Kreis seiner Interessen in dieser sorgenvollen Zeit, so daß der Zar nur noch von dem Gedanken an seine und seiner Familie Sicherheit beherrscht wird und als trauriges Zeichen seiner Machtlosigkeit die Worte des sterbenden Heinrich IV. bei Shakespeare wiederholen muss:

„So legt, Ihr Niedern, nieder Euch beglückt,
Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt.“