Capitel 4 - In See.

So ungeduldig die Passagiere aber schon vorher gewesen waren, das Schiff nun endlich einmal in vollem Lauf seinem Ziel entgegengehen zu sehn, so peinlich wurde ihnen jetzt jeder Augenblick, den sie, mit dem Bewusstsein unter den Kanonen des hannoeverschen Forts zu liegen, und noch im leichten Bereich einer neuen Durchsuchung zu sein, hier unthaetig, angeschlossen an die Ankerkette, verbringen mussten. Sie zaehlten die Minuten die noch bis zum Einsetzen der Ebbe verlaufen mussten, und tausendmal sahen sie nach allen Richtungen ueber Bord, ob sich die Stroemung nicht endlich stauen wuerde.

Endlich kam auch der Augenblick, die Zeit fliegt mit nur zu raschen Schwingen ueber uns hin, und wie bald liegt die Stunde weit, weit hinter uns, die wir so lang herbeigesehnt, so heiss erhofft. Das Wasser stand, die Brise wurde frischer, und -- wenn sie wenigstens erst den Ellbogen hinter sich hatten, den die Weser bei Bremerhafen macht, guenstiger und jetzt -- die Thatsache war ausser jedem Zweifel -- schwang das Schiff vor der rueckkehrenden Fluth vor seinem Anker herum und lag, den Bug stromauf, dem immer staerker stroemenden Wasser die scharfe Stirn bietend. Aber noch keine Anstalt wurde an Bord gemacht Fluth und Wind zu benutzen, noch lagen die Segel festgeschnuert auf ihren Raaen, und selbst die Matrosen blickten verwundert nach ihren Offizieren hin, den Kopf schuettelnd ueber den unbegreiflichen Aufenthalt; wenn sie noch lange hier zoegerten kamen sie heut Nacht gar nicht mehr in offene See, und konnten nur gleich da vor Anker liegen bleiben zwoelf volle Stunden laenger.


Der Capitain ging indessen mit auf dem Ruecken gekreuzten Armen, selber wie ungeduldig, mit raschen Schritten an Deck auf und ab, und beantwortete alle an ihn gerichtete Fragen der Cajuetspassagiere gar nicht, oder so kurz abgebrochen und muerrisch, dass ihnen zuletzt die Lust verging ihn weiter zu behelligen. Fortwaehrend sah er dabei nach der Sonne hinueber, die sich mehr und mehr dem Horizont neigte, und dann wieder nach seiner Uhr, als ob er der ersteren nicht glaube, dass es so frueh noch sei, und endlich halb sechs Uhr, heute frueher als gewoehnlich, kam der Koch nach hinten mit seiner stereotypen Frage:

„Captein, beleeft tu schaffen?“(4)

„Ja Kock, schaff man!“ lautete die Antwort und „Schaffen“ bruellte der Koch, wie er sich kaum von dem Capitain abgewandt hatte, ueber Deck, dass es von einem Ende bis zum anderen droehnte.

Einer der Matrosen hatte indessen schon die riesige blecherne Theekanne aus der Cambuese (Schiffskueche) geholt, und nach vorn auf die Back getragen, auf der die Schiffsmannschaft lagerte; die „Jungen“ brachten jetzt in grossen hoelzernen Schuesseln den Schiffszwieback und Schwarzbrod, wie kaltes, von Mittag uebriggebliebenes Fleisch, und die Leute langten tapfer zu ihr einfach Mahl zu beenden.

Auch die Zwischendeckspassagiere waren durch den Ruf beordert worden ihren Thee zu „fassen“. Noch hatte aber nicht die Haelfte derselben der Aufforderung genuegt, und selbst einzelne der Matrosen kauten noch ihren kaum aufgeweichten Zwieback, als der willkommene Ruf ertoente die Ankerwinde zu bemannen. Im Nu war das geschehn, wenigstens zwanzig Passagiere hingen sich mit daran, und der Anker kam rasselnd empor, wie die Kette nur aus dem Weg geholt und wieder umgeschlagen werden konnte. Zu gleicher Zeit war ein Theil der Matrosen nach oben geschickt die leichten Segel zu loesen, die Raaen flogen herum, die Schoten aus, die frische Brise legte sich hinein, und mit dem scharf aufgeholtem Ruder fiel der Bug vor dem Winde ab. Die Leute hingen jetzt saemmtlich an den Brassen, den rasch auf einander folgenden Befehlen zu gehorchen, und zehn Minuten spaeter schoss das wackere Fahrzeug an Bremerhafen vorbei in das breite Fahrwasser hinein, und vor dem Winde dahin, dass der Schaum -- ein willkommener und lang ersehnter Anblick -- sich vorn am Buge kraeusste.

Noch aber waren lange nicht alle Segel gesetzt; nichtsdestoweniger machten sie trefflichen Fortgang, und bald lag Bremerhafen mit seinem darueber hinausdehnenden Mastengitter, wie das runde Fort mit seinen drohenden Kanonen weit, weit hinter ihnen.

„Aber der Deserteur?“ wo war der junge Bursche geblieben und warum kam er nicht zum Vorschein, die Gratulationen seiner Mitpassagiere zu empfangen? -- oder wusste der Capitain wirklich nichts von ihm, und musste er noch versteckt gehalten werden, dass dieser nicht gar etwa noch umkehre und ihn an die Behoerden abliefere? -- sonst war doch wahrlich keine Gefahr mehr fuer ihn vorhanden. Die Passagiere frugen das unzaehlige Male unter sich, wagten aber nicht, selbst den Untersteuermann deshalb anzureden. Der wusste doch wohl am besten was er zu thun oder zu lassen hatte, und dass er dem armen Teufel freundlich gesinnt war brauchte er nicht mehr zu beweisen.

Der Lootse, der erst wieder an Deck gekommen war als die Leute anfingen den Anker zu lichten, stand jetzt vorn auf der Back des Schiffes, dicht am Bugspriet, und rief von da seine Befehle dem Mann am Steuerruder zurueck, die dieser, zum Beweis dass er sie richtig verstanden habe, und damit kein Irrthum moeglich sei, laut zu wiederholen hatte.

Die Sonne war schon laengst hinter dem Horizont verschwunden, und die Haidschnucke hielt in der jetzt merklich einbrechenden Daemmerung gerade auf das Feuerschiff zu, das in der Muendung der Weser vor Anker liegt, aus oder einsegelnden Schiffen die Richtung anzudeuten, die sie zu nehmen haben. Auf dem Vortop der Haidschnucke wurde aber eine kleine rothe Flagge, irgend ein verabredetes Signal, aufgehisst, und gleich darauf kam von dem Leuchtschiff, das eben sein rothes Licht entzuendet hatte, ein Boot ab, in dem zwei Mann ruderten, zwei hinten im Stern des Bootes, und drei vorne im Bug sassen.

Die Zwischendeckspassagiere hatten indessen meist das obere Deck verlassen, vor voelliger Dunkelheit ihre Schlafstellen unten in Ordnung zu bringen, was nachher immer mit einiger Schwierigkeit verbunden war. Nur Einzelne standen noch oben, die mit gespanntem Interesse den Bewegungen des neu anrudernden Bootes entgegensahen, in dem sie kaum etwas anderes erwarteten, als eine zweite Visitation.

„Verdammt will ich sein“ brummte dabei der Mann mit den kurzen Haaren, der bis dahin besonders aufmerksam das Mannoever mit den Flaggen und dem abkommenden Boot betrachtet hatte, „wenn uns die nicht nochmals ihre Spuerhunde herueber schicken; hol sie der Teufel, sie becomplimentiren uns wohl so hinaus bis in die offene See.“

„Nun, wenn sie am hellen Tage Nichts gefunden haben, werden sie wohl diessmal auch mit langer Nase abziehn“ sagte Steinert, der dicht neben ihm stand. „Jetzt kann ich mir aber auch denken, weshalb der Capitain mit der Abfahrt von unserem letzten Ankerplatz so lange gezoegert hat.“

„Nun?“ sagte der finstere Bursch und sah ihn von der Seite an.

„Er hat gewusst, dass ihm die Rothkragen hier noch einmal an Bord steigen wuerden“ fluesterte Steinert geheimnissvoll „und deshalb gewartet, dass er hier erst mit schummrig werden eintraefe -- so ist's.“

„Fuer so gescheut haett' ich ihn gar nicht gehalten“ brummte der Erste wieder „aber da sind sie“ setzte er dann hinzu, indem er sich vom Bord abdrehte und nach dem Eingang des Zwischendecks zu ging -- „hol sie der Teufel, ich mag sie nicht sehn; wenn sie 'was von uns wollen, koennen sie zu uns herunter kommen.“

„Mag wohl seine Ursache haben, dass er die Polizei nicht leiden kann“ lachte der Untersteuermann leise dem einen Matrosen zu, der neben ihm stand und ein zusammengerolltes Tau in der Hand hielt, es dem nahenden Boote zuzuwerfen.

„Futter fuer Amerika“ sagte der Mann, veraechtlich den Kopf auf die Seite werfend -- „der kommt durch --“

„Ja Hans, wenn er nicht mit dem Kopf darin stecken bleibt“; meinte der Untersteuermann, dem Passagier nachsehend, wie er eben in das Deck hinunter stieg. Das Gespraech der Beiden wurde aber in diesem Augenblick durch das Boot selber abgebrochen, das langseits kam. Des Lootsen Ruf hatte indess die Fock und die Vormarssegel backbrassen lassen, dass das Schiff in diesem Augenblick keinen Fortgang weiter, als mit der Stroemung selber machte, und wenige Minuten spaeter kletterten fuenf Maenner an Deck und wurden, auf die Frage des Einen von ihnen, nach dem Capitain auf das Quarterdeck gewiesen.

„Steht bei hier und nehmt die Kisten herauf!“ toente indess der Ruf des Steuermanns, und Taue wurden in das Boot hinuntergelassen -- drei gewoehnliche Seemannskisten an Bord zu heben, die indessen oben an Deck stehen blieben.

Der Capitain stand mit Professor Lobenstein und dem Lootsen allein auf dem Quarterdeck, als die fuenf Maenner die kleine Treppe, die dazu hinauffuehrte, erstiegen. Auf ein paar Worte des ersten blieben dreie von ihnen, denen der vierte fast wie zur Bewachung beigegeben war, an der Treppe stehn, waehrend Jener auf den Capitain zu ging und mit militaerischem Grusse an sein Muetzenschild griff. Der Mann war uebrigens in Civil gekleidet, und trug einen dunklen langen Rock und eine einfache Tuchmuetze, aber mit steifem grossen Deckel, die etwas uniformsmaessiges an sich hatte.

„Habe ich das Vergnuegen mit dem Capitain dieses Schiffes zu sprechen?“ sagte er artig, als er sich ihm naeherte.

„Ich bin der Schiffer, ja“ sagte Siebelt, den Gruss sehr kurz erwiedernd -- „Sie bringen mir die bewussten Passagiere?“

„Ja wohl Herr Capitain -- hier ist meine Legitimation; duerfte ich Sie bitten mir die Quittung fuer richtige Ablieferung zu schreiben.“

„Auch noch“ -- brummte Siebelt muerrisch -- „kommt einmal her Ihr Burschen!“

„Ihr sollt vortreten; habt Ihrs nicht gehoert?“ sagte der andere, der bei den dreien stehn geblieben war, barsch, und die Leute folgten rasch dem Befehl. Es waren drei ziemlich kraeftige untersetzte Gestalten, zwei von ihnen, von etwa achtundzwanzig bis dreissig Jahren; der dritte nur schien aelter zu sein, doch liess sich das in dem ungewissen Daemmerlicht kaum noch erkennen. Sie waren Alle in graue kurze ganz neue Roecke von groben Tuch und in eben solche Hosen gekleidet, und trugen Muetzen von derselben Farbe in der Hand; ihre starkmarkirten und eben nicht einnehmenden Zuege waren aber bleich, und die Augen, die scheu den Boden suchten, oder unruhig ueber Deck umherschweiften, lagen ihnen tief in den Hoehlen.

Der Capitain sah sie, Einen nach dem Anderen, still und forschend an und sagte endlich:

„Hoert einmal, ich habe Euch hier an Bord bekommen, um Euch mit nach Amerika hinueberzunehmen; ich hoffe, dass Ihr Euch an Bord gut betragen werdet; wenn Ihr's nicht freiwillig thut, ist's Euer eigener Schade, denn thun muesst Ihr's. Uebrigens werdet Ihr wohl wissen was Euch selber gut ist, und nun nehmt Euere Sachen und macht dass Ihr damit unter Deck kommt; der Untersteuermann wird Euch Euere Coye anweisen. Dass Ihr die Maeuler haltet brauch' ich Euch wohl nicht erst zu sagen -- schon gut, ich weiss schon, macht jetzt dass Ihr nach vorn kommt“ -- und dem Fremden den Zettel aus der Hand nehmend ging er in die Cajuete hinunter.

„Koennen wir aufbrassen Capitain?“ rief der Lootse hinter ihm her als er hinunter ging; „es wird zu spaet wenn wir noch laenger hier Zeit vertroedeln.“

„Brasst nur auf Lootse“ rief der Capitain zurueck, „ich bin gleich wieder oben.“

Die Raaen fuhren herum, die Vorsegel fassten den Wind wieder, und das Schiff bewegte sich rascher vorwaerts auf seiner Bahn.

„Hallo“ sagte der eine Mann, der den Oberbefehl ueber das Boot zu fuehren schien, indem er ueber Bord sah -- „nehmen Sie uns nicht etwa mit.“

„Habt keine Angst Kamerad“ sagte der Untersteuermann, der eben an ihm vorueberging, den Neugekommenen ihre Plaetze anzuweisen -- da blieben wir eher hier die ganze Nacht liegen.“

„Danke“ sagte der Mann --

„Keine Ursache, ist gern geschehen,“ der Untersteuermann, als er seinen Tabackssaft -- die Seeleute kauen meistentheils -- ueber Bord spritzte, und langsam die kleine Quarterdeckstreppe hinunter stieg.

Der Capitain kam uebrigens nach sehr kurzer Zeit schon wieder zurueck, und uebergab dem Manne seinen Zettel -- die Quittung fuer richtige Ablieferung von drei Verbrechern, denen im Boot erst die Eisen abgenommen waren, und die sich in Amerika bessern, oder doch jedenfalls allein fuettern sollten.

„Danke Capitain“ sagte der Mann, indem er das Papier zusammenfaltete und in die Tasche schob -- „Nichts fuer ungut -- Sie wissen wohl“ --

-- „Schon gut“ sagte der Seemann muerrisch -- „das ist uebrigens das letzte Mal, dass ich derlei Geschichten besorge, und wenn ich mein Schiff verlieren sollte -- Sie koennen das den Herren meinetwegen sagen.“

„Derlei Bestellungen bringen Nichts ein“ meinte aber der Mann trocken, „so, gute Fahrt Capitain, wir sind wahrhaftig schon ein ganz Stueck am Leuchtschiff vorbei und werden tuechtig rudern muessen gegen den Strom an.“

Der Capitain drehte sich ab und ging auf die andere Seite des Schiffs hinueber, waehrend die Fremden rasch in ihr Boot hinunter kletterten.

Der Lootse zeigte aber jetzt, dass es ihm Ernst war aus der Weser zu kommen; Segel auf Segel wurde gesetzt vor der immer frischer und kraeftiger einsetzenden Brise, bis sich das Schiff unter der Last derselben bog, und schaeumend seine Bahn dahin schoss. Im Osten hob sich indessen der Mond, und goss sein funkelndes Licht ueber den weiten Strom, bei dem sich eben noch die ausgelegten Tonnen erkennen liessen, das Fahrwasser zu halten. Das Wasser war ebenfalls noch vollkommen ruhig, aber der Strom doch hier schon so breit, dass die Brise ihren Einfluss darauf ausueben konnte, und das Schiff begann sich mit der schwellenden Duenung leicht zu heben.

Bei dem wundervollen Abend, der warm und licht auf dem Wasser lag, hatten sich indessen die meisten Passagiere wieder auf Deck gesammelt, und in kleinen Gruppen erst eine lange Weile das Geheimniss des zweiten Bootes, aus dem sie nicht klug geworden, besprochen. Auch neue Passagiere, von deren Ankunft man schon in Brake gewusst, und eine Coye fuer sie zurueckgehalten hatte, waren damit gekommen, Niemand konnte sagen woher, noch sich, so lange es dunkel blieb, ueber ihr Aussehn in's Klare stellen; die Leute selber aber standen Niemandem Rede; Steinert hatte das schon lange versucht. Des gluecklich durchgebrachten Deserteurs Erscheinen lenkte zuerst den Strom der Unterhaltung wieder in einen anderen Canal; der junge Bursche war aber noch scheu und schuechtern; er konnte es sich noch gar nicht denken, dass er der fuer ihn furchtbaren Gefahr so gluecklich entgangen sei, und forschte durch die Dunkelheit nach allen Seiten hin, bei dem schwachen Licht des Mondes ein irgendwo nahendes Boot zu erkennen. Die in der Weser vor Anker liegenden Tonnen, die das Fahrwasser bezeichnen und zum Theil weiss angestrichen sind, hielten ihn dabei fortwaehrend in Alarm, und er frug die Matrosen unzaehlige Male, ob er denn nun wirklich nicht mehr zu fuerchten haette, dass in der Nacht ein Boot mit Polizeibeamten an Bord kommen koenne.

Steinert zeigte sich indessen unter den Lebhaften als den Lebhaftesten. Das Gespraech war durch das Polizeischiff auf aehnliche Faelle gekommen, wo diesem achtbaren Institut eine Nase gedreht worden, und sprang dann, in einem natuerlichen Ideenflug auch auf das Pasch- und Schmuggelwesen hinueber, in dem der Weinreisende, wenn sich Alles so verhielt wie er es erzaehlte, seiner Zeit Ausserordentliches geleistet hatte und er wurde nicht muede davon zu erzaehlen. Mitten in einer prachtvollen Anekdote aber schwieg er ploetzlich still, und sah sich nach allen Seiten um.

„Suchen Sie wen, Herr Steinert?“ frug ihn der junge Literat, der ein eifriger Zuhoerer der Geschichten gewesen war und sich immer dann und wann gegen den Mond drehte, auf ein kleines Zettelchen mit Bleistift einzelne Worte -- wahrscheinlich die Pointen der Erzaehlungen -- zu notiren.

„Ich? nein -- ich weiss nur nicht“ sagte Steinert -- „das Schiff faengt sich an so fatal zu bewegen -- immer so auf und nieder; ich glaube -- ich glaube die Leute haben zu viele Segel aufgesetzt.“

„Ja, irgendwo ist es doch wohl nicht in Ordnung“ bemerkte auch jetzt Herr Mehlmeier mit seiner feinen Stimme, der schon seit einigen Minuten ganz still gesessen, nicht mehr gelacht, oft die Augen geschlossen, und dann auf einmal sehr tief Athem geholt hatte.

„Oh, es faengt ein wenig an zu schaukeln“ sagte Herr Theobald, der sich durch die Bewegung noch nicht incommodirt fuehlte, „bitte erzaehlen Sie nur weiter.“ --

„Ja -- wo war ich doch gleich stehn geblieben?“

„Wie Sie mit dem Mauthbeamten in der Schenke sassen und die Wette mit ihm machten“ -- unterstuetzte ihn der junge Literat.

„Ach ja so -- ja da -- das schaukelt wirklich unangenehm“ sagte aber Herr Steinert, der den Faden nicht wieder finden konnte -- „ich sitze auch hier auf einem hoechst fatalen Fleck -- viel zu hoch; das ist doch ein goettlicher Abend -- wir wollen ein wenig auf Deck spazieren gehn.“

Das Spazierengehn half aber auch Nichts, die Bewegung des Schiffs wurde merklicher, je mehr sie sich der offenen See naeherten, und je weiter sie vom Lande abkamen, wo der Wind mehr Gewalt auf das Wasser hat und die Wellen weiter rollen koennen und groesser werden. Schon standen hie und da Einzelne ueber Bord gelehnt, und thaten als ob sie hinaus auf's Wasser saehen, immer aber in einer sehr verdaechtigen Stellung, dem belaestigten Magen Luft zu machen, bis sich bei Manchem das Faktum nicht mehr verheimlichen liess, und die ersten Seekranken durch einen Jubelruf der noch Gesunden proklamirt wurden.

Es ist dabei eine sonderbare Thatsache, dass sich die meisten Menschen schaemen seekrank zu werden, und es so lange verheimlichen wie nur irgend moeglich; wie denn auch Niemand weniger an Bord eines Schiffes auf Mitleid zu rechnen hat, als eben ein von diesem Feind Befallener. Was auch sein Leiden sein mag, wie ihn die Krankheit mitnimmt und nach und nach entkraeftet und herunterbringt, ja waehrend er daliegt und den Tod herbeiwuenscht, um nur endlich von seinem entsetzlichen Jammer befreit zu werden, die Gesunden stehn dabei und lachen und spotten ueber den armen Teufel, und das einzige Gute nur dabei ist, dass er sie nicht hoert, oder wenn er es hoert, sich Nichts daraus macht. Gegen Alles abgestumpft auf der Welt, wo es ihm selbst gleichgueltig waere, wenn man ihn bei den Beinen fasste und ueber Bord zoege, was macht er sich da aus dem Hohn irgend eines Anderen.

Seekrank, fuer den den es betrifft, ein entsetzliches Wort, und doch eine Krankheit, an der noch kein hundertstel Procent der Leidenden gestorben. Was fuer Mittel sind nicht schon dagegen empfohlen, wie viel tausend Aerzte haben nicht schon gethan, als ob sie das Heilmittel dagegen gefunden und dies und das angerathen, den furchtbaren Gegner entfernt zu halten. Aber es giebt kein Mittel dagegen; wer etwas braucht und sie nicht bekommt, hat nicht noethig das Heilmittel weiter zu empfehlen, denn er selber haette die Krankheit auch ohnedies nicht bekommen, und dessen Magen ihn in den Bereich derselben bringt, mag sich nur getrost in sein Schicksal ergeben, er muss durchmachen was ueber ihn verhaengt ist, und hat nur die einzige Genugtuung spaeter, wenn er dem tueckischen Gott sein Opfer gebracht, eben so ueber Andere lachen zu duerfen, wie Andere frueher ueber ihn gelacht haben.

Das Schiff bewegte sich nun allerdings noch sehr wenig, doch aber genug, den meisten der daran gar nicht gewoehnten Passagiere, wenn sie auch nicht Alle krank wurden, Unbehaglichkeit zu verursachen, und trotz des herrlichen Abends wurde das Deck gar bald von ihnen geraeumt. So fatal ihnen die Luft unten im Zwischendeck war, fanden sie doch im Niederlegen einige Erleichterung, und suchten frueh das Lager. Was kuemmerte sie jetzt der Lootse, den sie hatten wollen von Bord gehen sehen, was der Mondschein auf dem zitternden wogenden Wasserspiegel; es zitterte und wogte eben und das mochten sie nicht sehn, und schon der Gedanke daran war ihnen fatal.

Noch vor zehn Uhr erreichten sie indess die letzte Wesertonne, die Grenze der Nordsee, auf ein Zeichen von Bord aus, durch aufgehangene Lichter gegeben, kam der dort kreuzende Lootsencutter heran, seinen Lootsen von Bord zu nehmen, und wie als ob der Wind nur darauf gewartet haette, sich nun einmal recht voll und ernstlich in die Segel legen zu koennen, nahm er beide Backen voll, und kam so scharf und heulend von Nordost herunter, dass der Capitain die Oberbramsegel nieder und die schon zu Starbord gesetzten Leesegel wieder einnehmen liess. Die See wurde dabei natuerlich nur immer unruhiger, und die kleinen kurzen Schlagwellen der Nordsee, die ueberhaupt die unangenehmste Bewegung machen, ueberwuerzten sich schon mit ihren weiss schaeumenden Kaemmen, und jagten wie im tollen Spiel hinter und neben dem durch sie hinbrausenden Schiffe her.

Arme Passagiere -- und in der Cajuete sah es nicht besser aus als im Zwischendeck. Wenn Schiffe bei vollkommen ruhigem Wasser in See gehn, und der Wind erst allmaehlig waechst, dass sie die Bewegung so nach und nach gewohnt werden, und die Koerper es lernen derselben nachzugeben, so bleiben oft viele Reisende von der Krankheit ganz verschont. Der Magen gewoehnt sich an das Schaukeln, und selbst ein kleiner Sturm bringt sie spaeter nicht mehr aus dem Gleichgewicht; wo aber der Wind, so wie hier, gleich am ersten Tage, wenn auch gar nicht gerade scharf einsetzt, wenn nur die kleinen kurzen Wellen erst einmal einen Kamm bekommen, dann bleiben wenige verschont, und der Koch darf ein paar Tage lang die Schweine mit den Erbsen und Bohnen fuettern, die er fuer die Passagiere in den Kessel gethan; die Leute denken gar nicht daran sich ihr Essen zu holen, und schon das Wort Schaffen verursacht ihnen Ekel.

In der Cajuete war wirklich nur der junge Henkel, der schon mehre Seereisen gemacht, verschont geblieben, jedenfalls der Einzige, der mit dem Capitain und den Steuerleuten am Fruehstueckstisch erschien und tapfer zulangte; die Anderen liessen sich unwohl melden, und nur der Herr von Hopfgarten, ein kurzer, kleiner Mann, aber sonst voll Feuer und Leben, behauptete einzig und allein keinen Appetit zu haben, sonst aber sich vollkommen wohl zu befinden.

Einzelne Charaktere entwickelten sich auch in dieser Krankheit im Zwischendeck auf wunderbare Weise. Herr Mehlmeier z. B. lag ausgestreckt auf dem Gepaeck mit von sich geschobenen Armen und Beinen, als ob er so wenig wie moeglich von seinem Koerper um sich herum haben moechte. Er liess sich dabei schuetteln und stossen und rufen und schimpfen, wenn er irgend Jemandem im Wege lag, und verhielt sich so vollkommen regungslos, dass er einmal schon zu dem Geruecht Veranlagung gab, der Schlag haette ihn geruehrt. Aber auch das war wieder den Anderen gleichgueltig, und nur Herr Theobald, der bis jetzt noch verschont geblieben war, notirte sich den Fall, und ging dann hin sich selber zu ueberzeugen.

Steinert war nach ihm das beklagenswertheste Subjekt die Familien Rochheimer und Loewenhaupt lagen in einem Zustand, der sich kaum denken, auf keinen Fall aber beschreiben laesst.

Theobald hielt sich, wie gesagt, noch ziemlich tapfer, und lachte die Kranken aus nach Herzenslust; das viele Umhergehn im Zwischendeck aber vielleicht, mit der doch staerker werdenden Bewegung des Schiffes, uebte auch auf ihn zuletzt seine Wirkung aus. Er steckte auf einmal sein Taschenbuch dahin wohin es gehoerte, schob die Haende nach, und stellte sich ganz still an die Railing an, bis auch diese ihm nicht mehr Stuetze genug schien, und er nun, in der Angst dass seine Mitpassagiere merken koennten wie ihm zu Muthe wuerde, auf eine eigene Idee fiel, den traurigen und nicht mehr wegzulaeugnenden Zustand zu verbergen. Er band sich sein Halstuch um die Ohren, hielt die Haende an den Backen und legte sich endlich, nicht mehr im Stande auf seinen Fuessen zu bleiben, mit dem Kopf auf eine der Nothspieren mitten in den Gangweg hin, wo die Matrosen fortwaehrend vorueber, und jetzt ueber ihn wegsteigen mussten.



Der erste der ueber ihn wegfiel, war der kleine Loewenhaupt, dem er noch vor kaum einer halben Stunde einen Teller mit fettem Fleisch unter die Nase gehalten, und dadurch den armen Teufel fast zur Verzweiflung, dessen Krankheit aber jedenfalls zu vollem Ausbruch gebracht hatte.



„O sehn Sie 'mal an, bester Herr Theobald“ sagte dieser, als er sich wieder aufgelesen und, mit todtenbleichem Gesicht, seinen Arm auf eines der Wasserfaesser stuetzte, das Gleichgewicht zu halten -- „Sehn Sie 'mal an; jetzt werde ich Ihnen wohl koennen en Tellerche mit Fleisch unter die Nasen halten und fragen, ob Sie Appetit haetten, heh? -- Das kommt davon, wenn man andere Leute cugginirt.“

„Ich habe furchtbare Zahnschmerzen“ sagte aber Theobald, die Nase fester an die Nothspiere drueckend -- „lassen Sie mich zufrieden.“

„Zahnschmerzen? -- so?“ sagte der kleine Mann mit einem total verunglueckenden Versuch ueber ihn zu lachen -- „vielleicht huelfe Ihnen dagegen en Stueckchen Speck.“

„Halten Sie's Maul!“ rief aber Theobald, dem der Ekel ueber die angebotene Mahlzeit den Mund breitzog.

„Jawohl --“ sagte aber der unverwuestliche Loewenhaupt, der nach vollstaendiger Ausleerung einige Erleichterung verspuerte, „der Zahn wird wohl gleich mit der Wurzel herauskommen, ganz von selber, kann ich mir etwa denken -- nur a kleines Stueckle fettes Fleisch.“

Er konnte nicht weiter reden, denn Theobald sprang in die Hoehe und war kaum im Stande den Schiffsrand zu erreichen und ueber Bord zu sehn; bei dem Anblick wurde es aber Loewenhaupt auch wieder weh und weich um's Herz, und er leistete dem Dichter treue Gesellschaft.

Die einzigen, die im Zwischendeck vollstaendig, wenigstens fuer jetzt von der Seekrankheit verschont blieben, waren Maulbeere, seines Gewerkes ein Scheerenschleifer wie sich endlich herausgestellt, Georg Donner, des Pastors Sohn aus Waldenhayn, der mit einem der Oldenburger Bauern und einem langen Schneider eine Coye bekommen hatte, der Mann mit den kurzgeschnittenen Haaren, und vier oder fuenf von den Frauen, unter ihnen Hedwig. Die anderen mussten alle mehr oder weniger davon leiden, und selbst von den Gesunden bewahrte der Scheerenschleifer fast allein seinen unverwuestlichen Appetit, und sass entweder an Deck und rauchte seinen nichtswuerdigen Taback, dass es Niemand unter dem Wind von ihm aushalten konnte, oder er hockte, zusammengedrueckt wie ein grosser ungeschlachter Affe, in seiner Coye, und knapperte den halben Tag lang an dem trockenen Schiffszwieback. Dabei sprach er kein Wort und schnitt allen, die an ihm voruebergingen, solche Gesichter, dass sich die Frauen schon vor ihm fuerchteten und ihm auch spaeter immer scheu aus dem Wege gingen.

Dass unter solchen Umstaenden selbst Frau von Kaulitz nicht an ihre Parthie dachte, versteht sich von selbst, und die naechsten Tage bekam sie nur der Cajuetenjunge, ein Mulatte von zwoelf oder dreizehn Jahren zu sehen, der immer kopfschuettelnd die verschiedenartigsten Waschbecken aus und ein schleppte, und jedesmal, wenn er die Cajuete verliess, dem Steward mit den merkwuerdigen Grimassen eine Menge Geschichten erzaehlte, ueber die sich dieser dann todt lachen wollte. Der Steward hatte dabei eine so sonderbare Art zu lachen, dass er immer die Augen schloss, und es einmal auch richtig moeglich machte, mit einem ganzen Korb voll Theegeschirr die halbe Treppe in die Cajuete hinunter zu fallen. Der Rheder musste das Geschirr spaeter wieder ersetzen, und der Mulatte bekam indessen dafuer die Pruegel.

Mit einem prachtvollen Nordoster brauste das wackere Schiff seine Bahn entlang, durchschnitt die gruenen Fluthen unseres vaterlaendischen Meeres, der Nordsee, und lief dann, mit Leesegeln an beiden Borden zwischen Dover und Calais hindurch in den Canal ein. Wohl gluehten an dem Abend die Leuchtfeuer der englischen und franzoesischen Kueste wie Meteore durch die Nacht herueber, und der nordische Himmel funkelte seinen schoensten Glanz in Myriaden Sternen nieder, aber Niemand achtete darauf; die Seeleute hatten das Alles schon, wie oft, gesehn, und die Passagiere lagen in ihren Coyen, viele ihren Blechtopf im Arm, und stoehnten und aechzten -- wie mancher mit bitterer Reue im Herzen, dass er je thoericht genug gewesen das feste Land zu verlassen, selbst Amerikas wegen. Die wenigen Gesunden hatten mit ihren kranken Freunden zu thun, und nur der junge Arzt, Georg Donner, lag vorn zwischen den Lauftauen des Bugspriets und schaute traeumend hinaus in die stille Nacht, der Lieben daheim gedenkend.

Das Licht was dort herueberblinkte vom fernen fremden Ufer, glich es nicht dem Schein der Abendlampe, die in des Vaters Zimmer brannte? -- Oh wie oft hatte er, Abends heimkehrend, den freundlichen Strahl sich entgegen leuchten sehen und dort, das Haupt in die Hand gestuetzt, sass der Vater und arbeitete an seiner Predigt, und die Mutter da drueben, auf dem Sopha dicht neben dem Ofen, mit der kleinen gruenen Lampe dicht herangerueckt, las in der Bibel und folgte den so wohl bekannten Zeilen mit dem Finger die ganze Seite nieder -- Aber nein, sie las nicht -- die Brille legte sie ins Buch, wischte sich die Augen mit der Hand und schaute still und seufzend ueber das Buch hinaus. Ihre Gedanken waren nicht dabei -- sie flogen weit, weit hinaus ueber das Meer dem fernen Schiffe nach, das ihr den Sohn entfuehrte, das Kind -- das liebe, liebe Kind.

Matter und immer matter gluehte das ferne Licht herueber -- Georg sah es schon lange nicht mehr und die Augen mit der Hand bedeckt, im Dunkel der Nacht, nur mit den Sternen ueber sich, weinte er still, und ihm war, als ober die Thraenen niederfallen hoerte auf das vergriffene Buch, in dem die Brille lag.




4 Ist es dem Capitain gefaellig dass gegessen wird?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nach Amerika! - Ein Volksbuch - 2. Band