Abschied

Nach Schluß der ausgelassen fröhlichen Butterwoche mit ihren öffentlichen und privaten Maskeraden, endlosen Spazierfahrten durch die Straßen, Frühstücken, Dejeuners dansants bei Wolynski, Diners, Soupers, bei welchen die verschiedenartigen Blinis*) die erste Rolle spielten, erhielt ich in der ersten Woche der „Großen Fasten“ den Befehl, nach Reval zurückzukehren, und zwar über Petersburg, wo ich einige Aufträge meines Vorgesetzten zu erledigen hatte. So schwer mir der Abschied von Moskau wurde, ich mußte, ohne mich zu bedenken, sofort aufbrechen. Gleichsam zum Andenken statteten meine neuen Bekannten, nämlich die Verwandten meines Vorgesetzten, namentlich Nestorows, mich mit verschiedenen Sachen aus; mein bescheidener revalscher Koffer wurde durch einen andern ersetzt, der mir schon auf der Reise als Bettunterlage dienen konnte. Und in wie delikater Weise geschah das alles! Erst nach meiner Rückkehr nach Reval kam ich dahinter, wie reich ich beschenkt worden war.

Ihr braven, prächtigen Menschen! Schon längst seid ihr heim-gegangen. Verwachsen und vergessen ist euer kühles Grab; aber es gibt noch ein edles Herz, das eurer mit inniger Wärme gedenkt, das eure Freundschaftsbeweise nicht vergessen, das Gefühl für ihren großen Wert nicht verloren hat und einst nach Vollendung der irdischen Laufbahn in jener Welt ebenso, wie auf diesen Seiten, für euch Zeugnis ablegen wird.


Meine Mutter hatte mich eingeladen, den letzten Abend in Moskau bei ihr zu verbringen. Niemals war sie gegen mich so freundlich, gütig, ja sogar zuvorkommend gewesen, wie an diesem Abend. Um so schwerer wurde mir der Abschied. Um Mitternacht trat ich auf sie zu, um ihr Lebewohl zu sagen. „Setze dich doch noch ein wenig,“ sagte sie zu mir, „dann wollen wir uns erheben und zu Gott beten, daß er dir eine glückliche Reise schenkt.“ Die Stunde des Abschieds hatte geschlagen. „Lebe wohl, mein Teurer,“ fuhr sie fort und eine Träne trat ihr in die Augen, bei mir rannen sie unaufhaltsam. „Vielleicht ist dies das letzte Mal, wo wir uns sehen,“ sagte sie, „wer kann es wissen? Versprich mir, alles Schwere, was dir im Leben beschieden sein konnte, mit Fassung zu tragen und stets dessen eingedenk zu bleiben, daß vor Gott, dem Herzenskündiger, nichts verborgen ist; der Gedanke hieran wird dich nichts Niedriges begehen lassen und deinen Geist erheben.“ Ich versprach es, ihr Gebot heilig zu halten. Sie drückte mich an ihre Brust. „Lebe wohl!“ sagte sie; ihre Stimme wurde leiser und ich konnte sie kaum aufrecht halten; sie bekam einen Ohnmachtsanfall. Die auf mein Rufen herbeieilenden Dienerinnen legten sie auf das Kanapee und baten mich, möglichst schnell aufzubrechen, damit sich diese Szene nicht wiederhole. Ich drückte einen heißen Kuss auf die Hand meiner Mutter und bestieg eilig meinen Wagen, ein Geschenk meiner Mutter.

Fühlte sie es, daß wir auf immer voneinander Abschied nahmen? Sie war noch so jung, erst achtunddreißig Jahre, ich aber war neunzehn Jahre alt. „Gott allein lenkt die Geschicke im Leben,“ pflegte sie zu sagen; ich aber füge hinzu: „Seine Wege sind unerforschlich.“

Als ich den Schlagbaum passiert hatte, nahm ich in Gedanken von Moskau Abschied; ich ahnte es nicht, daß ich dieses üppige, reiche, gastfreie und patriarchalische Moskau nicht mehr wiedersehen würde. Im Augenblick des Trennungsschmerzes tröstet sich der Mensch mit dem Gedanken ans Wiedersehen und trocknet die sich hervordrängenden Tränen. Was wäre wohl, wenn das Schicksalsbuch vor ihm aufgeschlagen läge und er darin lesen könnte, daß er alles dasjenige, was er gesehen, woran er sich erfreut, was er liebgewonnen, nicht mehr wiedersehen wird. Ich danke der göttlichen Allmacht dafür, daß sie die Zukunft vor mir verhüllt. Jetzt leide ich nur einmal, dann würde ich im Gedanken mehrere mal zu leiden haben. Diese Welt ist nach den Gesetzen des Ewigen auf immer dahin. . . . Wer beklagt sie? Ich, und nicht ohne Grund. Fast alle, mit denen ich das Leben begonnen, gelernt, gedient, alle liegen im kühlen Grab. Alle Bande, außer den verwandtschaftlichen, die Bande der Liebe, Freundschaft, Kameradschaft, der Dankbarkeit, alle sind zerrissen durch die eisige Hand des Todes; nur die schmerzliche Erinnerung ist dem verwaisten Herzen geblieben. Wer aber mit starker Seele und klarem Geiste an die Vorsehung glaubt, der wird leicht die Überzeugung gewinnen, daß die unsichtbare Hand des Höchsten „alles zum Besten lenkt, auf dunklen, für uns bisweilen schwierigen Pfaden.

*) Pfannkuchen aus Buchweizenmehl.