Ästhetische und entwicklungsgeschichtliche Grundlinien

Über dem 18. Jahrhundert liegt nicht der Glanz großer Erfindungen, wohl aber der Schimmer von Schönheit und Pracht. Der Schimmer einer Schönheit, die anmutet wie ein leuchtender Sonnenuntergang, wie die Purpurfackeln eines versinkenden Spätsommertags. Wir fühlen den Zauber dieser Schönheit noch heute, wenn wir durch alte Schlösser und Herrensitze wandeln und in ihnen den feinen Duft jener Wunderblüte einatmen, die „Rokoko“ heißt; wenn wir uns von den rosigen Träumen umgaukeln lassen, welche die Kunst des 18. Jahrhunderts umschweben.

Das Porzellan schmiegt sich dem Rokoko in so überwältigender Hingebung an, dass man die irrtümliche Annahme Sempers*), das Rokoko verdanke dem Porzellan seine Entstehung und sei von Dresden nach
Frankreich gebracht worden, sehr wohl verstehen kann.


Vielleicht ist es unter dem Einfluss der Bestrebungen des modernen Kunstgewerbes, von denen ja auch die Keramik bedeutsam getroffen wird, der Porzellantechnik beschieden, mit der Zeit einen Stil herauszubilden, der sie zu einer neuen Blütezeit hinführt. Diese zweite Blütezeit wird dann freilich anders geartet sein als die erste. Der süße, berauschende Duft dieser wird ihr, der ernsteren, herberen, an Grazie, Anmut und sprühender Laune ärmeren, fehlen; aber der Schönheitsreiz, der von ihr ausgehen wird, wird trotzdem vielleicht demjenigen nahekommen, den die lichte, heitere, farbenfreudige Kunst der Kaendlerzeit ausströmte.

*) G. Semper. Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, München 1878/79.

Es schmälert das Verdienst derer, die sich bis zu dieser Stunde um die Porzellanbildnerei bemüht haben und noch bemühen, es schmälert selbst Kaendlers, des hervorragendsten bisherigen Porzellanplastikers, Verdienst nicht, wenn man über die plastischen Möglichkeiten des Künstlers diejenigen des Materials stellt, in dem er seine Kunst Ausdruck gewinnen lässt. Wer heute von irgendeinem anderen bildnerischen Materiale zur Porzellantechnik herkommt, der muss zu einer ganz neuen, ihn neuartig erregenden, Neuartiges von ihm verlangenden Behandlungsweise des Materials sich entschließen. Marmor und Erz, ja selbst das Holz will Ruhe der Linien, Größe der Formgebung, Erhabenheit des Ausdrucks, will Rhythmus und Klarheit der Gliederung; das Porzellan dagegen verlangt in allem und jedem das gerade Gegenteil: es will Freiheit in der Linienführung, Ungebundenheit in der Formgebung, Leichtigkeit und Grazie des Ausdrucks. Der Rhythmus ist ihm verhasst, die Klarheit der Gliederung widerspricht seinem Wesen.

Wenn Semper dem Meissner Porzellanstil der Kaendlerzeit entscheidenden Einfluss auf die Bildung des Rokokostils zuerkannte, so ergibt sich aus dieser Auffassung die Tatsache, dass wie kein anderer Stil das Rokoko dem Wesen und Charakter des Porzellans entspricht. Die Porzellantechnik ist, wenn man so sagen darf, die personifizierte Rokokotechnik, ist das Darstellungsmittel kat exogen für eine so graziöse, heitere, lichte, von sinnfälligster Schönheit erfüllte Kunst, wie es das Rokoko ist.

Es will scheinen, als unterscheide das heutige Kunstgewerbe nicht mehr scharf genug zwischen dem Wesen des Porzellanmaterials und anderen keramischen Produkten. Mag immer ein anderes keramisches Material die Stilisierung der Form und des Ornaments ohne Einschränkung vertragen — das Porzellan erträgt die Auferlegung architektonischen und ornamentalen Zwanges nur bis zu einer scharf wahrnehmbaren Grenze. Die stilisierten Figuren- und Gefäßdarstellungen, die von Kopenhagen ausgegangen auch in Deutschland Nachbildner gefunden haben, überschreiten zum Teil diese Grenze bereits. Sie berücksichtigen nicht immer mit der erforderlichen Einsicht jene andere sehr zu Recht bestehende Forderung der modernen dekorativen Kunst, dass jedes Material seinen Stil hat, der nicht ohne weiteres auf ein anderes Material übertragen werden kann.

Ein neuer Porzellanstil von mehr als nur vorübergehender Bedeutung kann zweifellos nur herausgebildet werden, wenn die Plastiker und mit ihnen selbstverständlich auch die Maler des Porzellans diesem seine Eigenart, seine Wesenszüge williger und charaktervoller lassen, als dies gegenwärtig geschieht. Die Kopenhagener Manufakturen, so hoch ihr rein künstlerischer Einfluss auf die Weiterentwicklung der Porzellankunst im modernen Sinne durch ihre über den Weg japanischer Vorbilder hin erfolgte Rückkehr zur Natur eingeschätzt werden darf, lassen sich zu sehr von dem Wesen anderer keramischer Materiale beeinflussen, als dass sie im Porzellan die reinen, unbeeinträchtigten Wirkungen zu erzielen vermöchten, die das Porzellan der Kaendlerzeit in so faszinierendem Maße besitzt. Fragen wir uns doch, weswegen der Rokokostil für das Porzellanmaterial wie eigens geschaffen, wie unauflöslich und unabänderlich verbunden mit seiner Eigenart erscheint. Beruht diese Eigentümlichkeit wirklich nur auf dem Interesse an der Überlieferung, an dem graziösen Reize des Zeitbildes, das uns im Rokoko entgegentritt? Ergötzen uns die Kaendlerschen Figuren nur deshalb so sehr, weil durch sie die leichtfertige, rosenrote, töricht-schöne Zeit lebendig vor uns wird, die sie schildern? Bewundern wir hier die Marquise mit den rosigen Wangen, mit dem rauschenden Reifrock und dem kokettierenden Fächer, dort den stolzen Kavalier mit dem gravitätisch gehaltenen Galanteriedegen, da die Schäferin, die ihrem Schäfer die kirschroten Lippen zum Kusse darbietet, den Jäger, der plaudernd bei seinem Liebchen steht — bewundern wir alle diese und tausend andere Gebilde von Kaendlers und seiner Gehilfen kunstfertigen, fleißigen Händen nur deshalb, weil sie uns die kosende und tändelnde, sonnige, von den glänzenden Lichtern einer versinkenden Kultur überstrahlte Zeit mit fast photographischer Treue, mit höchster, reizvollster Farbigkeit und im köstlichsten Formenreichtum zeigen?

Mitnichten! Was die Porzellanarbeiten, wie sie das Meissen der Kaendlerzeit mit so viel künstlerischer Laune, mit so frischer bildnerischer Kraft erschuf, so sehr bewundern, noch heute über jedes andere Porzellangebilde stellen lässt, das ist die wunderbare Übereinstimmung zwischen Material und Stil.

Und dann, soweit die farbige Dekorierung des Porzellans in Frage kommt: Es hieße die Schönheit der modernen Unterglasurtechnik völlig verkennen, wollte man ihrer Einschränkung das Wort reden. Aber wenn, wie bei manchen der modernen Porzellangebilde der Unterglasurdekor zu einer völligen Verdeckung des Materials führt, so widerspricht das ebensosehr dem Wesen des Porzellans wie allzu große Ruhe, allzu geringe Bewegung in der Formgebung. Die Roerstrandschen Gefäße mit Lüster- und farbigen Glasuren, die den Überlaufglasuren japanischer Steinzeuggefäße nachgebildet werden, sind ein charakteristisches Beispiel für diese dem Porzellanmaterial nicht entsprechende farbige Dekorationsmanier.

Auch hinsichtlich der farbigen Dekorierung des Porzellans muss es dabei bleiben, dass kein Stilcharakter irgendeiner Zeit und irgendeiner künstlerischen Kultur diesem keramischen Materiale so seinen Charakter lässt wie das Rokoko, das die leuchtendweiße Außenseite des Porzellans nicht so durch Farben verdeckte, dass nichts mehr von seiner schimmernden Schönheit zu sehen war: ein Tüpfelchen Rot auf jede Wange, ein winziger blauer Punkt in die Augenhöhlen, ein paar leichte kirschrote Linien an die Lippen, ein zarter Hauch von Rosa um die Nasenflügel, bunte leuchtende Farben auf das Gewand
— so stellen sich die Figuren aus der Kaendlerzeit vor uns hin als eine ganz wundersam geartete Welt im Kleinen, als eine Welt, die zwar nicht voller Naturwahrheit, aber doch voll reizvoller Natürlichkeit ist, als eine Welt, die wir lieben müssen, weil sie voller Grazie und Anmut, voller Formenschönheit und Farbenfreude ist.

Es bedarf nach alledem keines weiteren Wortes mehr darüber, dass die Kaendlerzeit, die Barock- und Rokokoperiode Meissens, als die höchste bisherige Blütezeit der europäischen Porzellankunst auch
heute noch zu gelten hat.
Meissner Porzellan 017 - Kaendlerfiguren 1740-1750

Meissner Porzellan 017 - Kaendlerfiguren 1740-1750

Meissner Porzellan 018 - Rokokodame. Drei Grazien, um 1735-1740

Meissner Porzellan 018 - Rokokodame. Drei Grazien, um 1735-1740

Meissner Porzellan 020 - Herbst um 1740

Meissner Porzellan 020 - Herbst um 1740

Meissner Porzellan 021 - Bacchantische Gruppe, Mitte 18. Jahrhundert

Meissner Porzellan 021 - Bacchantische Gruppe, Mitte 18. Jahrhundert

alle Kapitel sehen