Fortsetzung

Meine Schwester Gertrud und ich hatten zeitweise eine junge Pastorentochter aus einem württembergischen Dorf zur Betreuung, die uns aber nach einem Jahr verließ, weil sie einer christlichen Gemeinschaft angehörte, die in der Hauptsache Missionare ausbildete. Sie wurde durch ein Los der Gemeinschaft dazu bestimmt, einen jungen Missionar in einem gottverlassenen Dorf in Afrika zu heiraten, der die Gemeinschaft gebeten hatte, ihm eine Frau zu besorgen, die ihm die Heimat ersetzen sollte. Wir wollten unser „Tanti“ nicht hergeben, aber sie sagte: „Wer durch das Los bestimmt wird, muss dem Los folgen." eine Bekannte sagte zu meiner Mutter: „Ein etwas unbedarftes Mädchen vom Dorfe kam zu uns und jetzt verlässt uns eine junge Dame."

Kurzum, meine Mutter war nicht nur eine Frau, die ein großes Haus mit vielen Kindern hatte, außerdem viele Studien für ihre Bücher absolvierte und nebeneinher noch überall sah, wo jemand eine Hilfe brauchte. Je älter ich werde, um so mehr bewundere ich ihre Lebenseinstellung und Tatkraft.


Sehr bedauere ich, dass sie das Buch, das ihr sehr um Herzen lag und das viele Jahre Studium verlangt hat, nicht mehr hat Schreiben können. Ihr besonderer Wunsch war einen Luther-Roman zu schreiben. Es wäre sicher eine ganz interessante Auffassung gewesen, die auch der Frau Luthers gerecht würde. Als meine Eltern noch in Arnstadt in Thüringen lebten, hatte mein Vater immer zwei Hunde — einen Bernhardiner und einen Pudel — und insbesondere der Bernhardiner, der aufpasste, dass meine Schwester Getrud und ich, uns nicht aus dem Garten entfernten, denn wir waren sehr unternehmungslustig. Und meine Mutter entdeckte eines Tages aus dem Fenster sehend, dass wir dem Bernhardiner unsere Butterbrote zum Ablecken hinhielten, woraufhin sie darauf bestand, solange kleine Kinder da waren, dass die Hunde aus dem Hause kamen. Wir waren vielleicht drei und fünf Jahre alt und wanderten gerne durch alle offenstehenden Türen, so auch aus dem Garten oder auch aus der Haustür und eines Tages wurde ich von einer Dame nach Hause gebracht, die mich auf einer Brücke fand, wie ich in das Wasser eines Flusses starrte. Ich war vielleicht zwei Jahre alt. Sie nahm mich an die Hand und sagte: „Kind, was machst du hier?" „Das Wasser ist so schön", sagte ich. „Aber Jetzt bring' ich dich nach Hause. Da wartet man sicher auf dich“, sagte sie und nahm mich an die Hand. Man hatte mich schon gesucht und meine Mutter war etwas bestürzt über diesen Ausflug ihrer kleinen Tochter. So war sie sehr erleichtert, dass sich die jungen Mädchen einer uns gegenüberliegenden Pension von Schröder viel mit uns beschäftigten und meiner Mutter die Arbeit erleichterten. Als wir nach Schwerin übersiedelten fand vorher ein großes Mittagessen in der Pension Schröder statt, bei dem meine Schwester und ich an einem kleinen Tischchen saßen mit zwei dazugehörigen Stühlchen und das Festmahl genossen. Die Hauptsache war, die mir immer in Erinnerung geblieben ist, dass ein brennender Plunpudding hereingetragen wurde, der mit lauter kleinen Fähnchen bestückt wer. Das war ein ganz feierlicher Moment: Ein Mädchen trug den brennenden Plumpudding und zwei andere gingen nebenher und passten auf, dass er ungefährdet auf den Tisch kam. Ich habe keine Ahnung, ob ich ihn gegessen habe, ich erinnere mich nur dieses brennenden Etwas. — Als unsere Familie dann Abschied nahm, sagten die Damen Schröder, den Tisch und die Stühle sollen sie aber mitnehmen, das ist ein Abschiedsgeschenk unserer Pensionärinnen, die solang mit ihren Kindern gespielt haben. Das hat mir damals doch viel Eindruck gemacht.

Aber nun sind wir in Schwerin in Mecklenburg. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Einfamilienhaus in der Vossstraße, zogen wir in das Haus Mozartstr. Nr. 16. Die Straße wurde damals ganz neu gebaut, und es gab noch einige Scheunen, die allmählich verschwanden. Ich erinnere mich an einen Bauern, der darin tätig war und ein vollständig zerstörtes Gesicht hatte von einem Hautleiden. Die vielen Neubauten dieser Straße brachten viele Teerfässer mit sich, deren Geruch ich mit großem Entzücken einsog. — In der Mozartstraße wurden noch einige meiner Geschwister geboren. Und alle hatten eine erstaunlich Neigung, aus dem Haus zu wandern und die neuentstehenden Straßen auszukundschaften. Sowie eine Tür offenstand, die auf die Straße führte, zog es jeden von uns magisch heraus. Ich erinnere mich, dass einmal meine Schwester Charlotte, etwa vier Jahre alt, beim Abendessen vermisst wurde. Haus und Garten wurden von oben bis unten durchsucht und schließlich alle Straßen der Umgegend abgesucht. Denn fand unsere damalige Hausgehilfin meine Schwester stillvergnügt in einer Nebenstraße vor einer Haustür sitzend. Und als sie gefragt wurde, was sie da machte, sagte sie: „Ich wusste nicht mehr zurückzufinden und dachte, die werden mich schon suchen und finden." So war es durchaus möglich, dass Jemand kam, und ein Kind Kloerss am Wickel hatte und nach Hause brachte. Außer diesen Aufregungen gab es auch andere. Mein Vater, der als Altphilologe auch turnerisch interessiert nur, hatte im Garten ein Turngerät mit Ringen, Reck und Schaukel aufstellen lassen. Das hielt uns nun sehr im Garten fest. Eines Tages schaukelte meine Schwester Katharina und rief „Höher, höher!" derjenigen zu, die die Schaukel in Bewegung setzte. Die Schaukel kam ziemlich hoch in Bewegung und fiel gegen das Brett, das den Schaukelnden vorm herausfallen schützt; das Brett löste sich und sie schoss heraus und fiel flach auf den Boden. Erschrecken riefen wir „Kathie! Hast Du Dir etwas getan? Steh' auf!" Aber sie blieb liegen und rührte sich nicht. Uns war sofort klar, dass etwas Ernsteres geschehen war. Einer lief nach meiner Mutter, die anderen zu den Mietern im ersten Stock, die ein Telefon hatten‚ um unseren Hausarzt herbeizurufen. Meine Mutter, die ja Kummer gewohnt war kam sofort heraus in den Garten, erschrak sehr, hob meine Schwester auf und rief: „Atme, Kathie, atme!" und schlug sie gleichzeitig heftig und hart auf die obere Rückenpartie. Dann presste sie ihren Mund auf ihren Mund und versuchte ihr ihren Atem einzuhauchen. „Ein Arzt muss her!" rief meine Mutter. Inzwischen kam unsere Mieterin aus dem ersten Stock und sagte: „Der Arzt ist schon benachrichtigt. Seine Frau sagte, er sei auf einer Besuchstournee. Sie gehe hinunter und warte ihn ab, damit er sofort weiterfahre in die Mozartstraße." Meine Mutter behandelte meine Schwester inzwischen abwechselnd mit Schlägen auf den Rücken und Atemeinhauchen, aber nichts half. Sie brachte meine Schwester zusammen mit der Hausgehilfin ins Haus und ins Bett. Nach einigen Minuten kam dann auch der Arzt mit seinem Wagen angefahren und meine Mutter sagte: „Ich glaube, sie hat eben ganz leise geatmet, aber ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde." „Du liebe Zeit, Frau Kloerss", sagte der Arzt, „Sie legen sich jetzt da auf das andere Bett, sonst fallen Sie mir auch noch um. Ich gebe der Kleinen jetzt eine Spritze.“ und dann stellte sich der Arzt so, dass meine Mutter meine Schwester nicht mehr sehen konnte und gab meiner Schwester eine Spritze. „Wie ist das Ganze geschehen?" fragte er dann. Nachdem er dann die Geschichte gehört hatte, sagte er: „Frau Kloerss, Sie sind einmalig. Andere Mütter wären an ihrer Stelle ganz fassungslos, aber Sie tun etwas. So", sagte er, „jetzt kommt sie zu sich. Jetzt warten wir noch etwas ab, und dann bekommt sie eventuell noch eine zweite Spritze.“ Inzwischen kam das Mädchen und fragte, was mit dem Essen werden sollte. „Stellen Sie es jetzt erst einmal beiseite und kochen Sie einen starken Kaffee für Frau Kloerss. Und bringen Sie zwei Tassen mit, ich kann auch einen Kaffee gebrauchen." Inzwischen kam dann auch mein Vater aus der Schule nach Hause. „Was ist denn hier los?" fragte er, „Der Arztwagen steht vor der Tür und alle Türen stehen offen, der ganze Haushalt ist verstört, was ist geschehen?" Er kam dann in das Schlafzimmer und erhielt einen Bericht. Meine Schwester Katharina kam inzwischen wieder etwas zu sich, konnte sich aber weder bewegen noch reden. „So das Schlimmste ist überstanden, aber jetzt muss jemand bei dem Kind bleiben. Herr Kloerss, Ihre Ehefrau braucht jetzt Ruhe, von ihr dürfen Sie nichts verlangen. Sie hat gleich des Richtige getan und keine Zeit versäumt, und nun muss Sie Ruhe haben. Trudi, setz' Dich an das Bett, streichle ihre Hand und halte sie ein bisschen. Und jetzt möcht' ich den Schauplatz sehen, wo das alles geschehen ist." „Da brauchen Sie nur aus dem Fenster zu schauen, da haben Sie ihn vor sich." „Du liebe Zeit, das hätte je noch sehr viel schlimmer ausgehen können. Wenn sie an den Baum gefallen wäre, brauchten wir uns gar nicht mehr um sie zu kümmern. Ich komme heute Nachmittag noch einmal wieder, ich muss jetzt zu meinen anderen Patienten. Jetzt trinken wir erst einmal alle eine Tasse Kaffee, und Sie kriegen Ihr Mittagessen, Herr Kloerss. Und heute Nacht muss jemand bei dem Kinde wachen, aber nicht Ihre Frau!" sagte er zu meinem Vater. Ich erzähle diese Geschichte nur, um zu beweisen, wie meine Mutter stets des Richtige ohne viel zu überlegen tat. „Sie gehören zu meinen liebsten aber auch zu meinen aufregendsten Patienten" , sagte der Arzt zum Schluss. " Ich sage immer zu meiner Frau: wie macht Frau Kloerss das bloß? Ein großes Haus, sechs Kinder mit einem lebhaften Temperament und dann schreibt sie noch Bücher, die ich immer mit Vergnügen lese, selbst ihre Jugendbücher. Woher haben die Kinder ihre enorme Lebheftigkeit?" „Ich glaube von mir", sagte meine Mutter etwas kleinlaut, „denn mein Mann ist doch die Ruhe selbst." „Jetzt muss ich mir aber noch den Schauplatz ansehen, wo das ganze passiert ist, sagte der Arzt. "Da brauchen Sie bloß aus dem Fenster zu gucken, dann haben Sie alles vor sich." Er sah sich das alles an und sagte dann ziemlich ernst: „Da hat Ihr Kind aber noch viel Glück gehabt, dass sie neben den Baum fiel und nicht an ihn. Ich warte jetzt noch 10 Minuten ab und dann muss ich gehen. Ich komme aber auf jeden Fall noch heute Abend wieder, um das Kind noch gründlich zu untersuchen. In der Nacht müsste jemand bei ihm sein. Aber das bespreche ich am besten mit ihrem Mann."

In Schwerin war jetzt die endgültige letzte Stellung meines Vaters und ihre sechs Kinder machten meiner Mutter einiges zu schaffen. — Für ihre schriftstellerische Arbeit fand meine Mutter Zeit während ihre Kinder in der Schule waren. Ich habe mir später oft Gedenken gemacht, dass wir das alles so selbstverständlich fanden und eigentlich mehr Verständnis hätten haben müssen für ihre schriftstellerische Tätigkeit. Während der Jahre in Schwerin wurde mein Vater zum Professor ernannt und musste sich als großherzoglicher Beamter in einer Audienz beim Großherzog dafür bedanken. Er erzählte meiner Mutter davon, dass ziemlich viele Besucher bei der Audienz geladen waren und der Adjutant des Großherzogs die ganze Sache managte. Er war ein Schüler meines Vaters gewesen, was meinen Vater im Stillen sehr amüsierte. „Herr Professor, Sie müssen immer abwarten, was der Großherzog sagen will und nach Schluss von vielleicht zehn Minuten begeben wir uns beide wieder rückwärts zur Tür. Ich hoffe, dass macht Ihnen keine Schwierigkeiten." „Ich bin ja ein alter Turner", sagte meine Vater beruhigend. Soweit, so gut! Der Großherzog war sehr liebenswürdig und sagte zum Schluss: „Besuchen Sie mich doch bald wieder, Herr Professor!" Nach der Verabschiedung war der Adjutant außerordentlich erregt, über dieses „Besuchen Sie mich doch bald wieder!“ „Ich verstehe das nicht", sagte er zu meinem Vater, „ich bin doch schon seit Jahren mit dieser Audienzsache betraut, noch nie hat der Großherzog so etwas zu einem seiner Besucher gesagt." „Seine königliche Hoheit wollten eben etwas freundliches sagen“, sagte mein Vater. „Nein“, sagte der Adjutant, „nein, so etwas hat es noch nie gegeben. Ich bin ganz außer mir." Mein Vater lachte, während er das erzählte. Endlich kann ich lachen, sagte er im Schloss durfte ich das ja nicht. Die merkwürdige Folge dieses Ereignisses bekamen wir bald zu spüren. Unsere Familie war plötzlich außerordentlich interessant geworden. In den folgenden Jahren schrieb meine Mutter eine Reihe von Jugendbüchern, die vor allem im sogenannten KRÄNZCHEN des Verlages Union in Stuttgart und auch im GUTEN KAMERADEN des gleichen Verlages unter dem Pseudonym Wilhelm von der Mühle erschienen sind, und einen besonderen Erfolg hatten. Danach erfolgte ihre Verbindung mit dem Verlag Scherl in Berlin mit ihren Romanen, die zum Teil historisch begründet waren. Scherl und Union und Mosse waren damals die großen Berliner Verlage und meine Mutter war eine vertraglich gebundene Autorin des Scherl Verlages. Scherl wurde dann nach ihren Tode ein nazistischer Verlag.

Nach ihren großen Romanen „Feuer im Eis“ und „Ein Welthaus“ beschäftigte sie sich seit Jahren mit dem Thema Luther. Wir hatten eine ganze Luther-Bibliothek. Es war ihr sehnlichster Wunsch, eine wirklich großen Lutherroman zu schreiben, auch mit besonderer Berücksichtigung seiner Frau, dem Herrn „Käthe" wie er seine Frau gerne benannte. Es wäre bestimmt eine interessante Erzählung geworden. „Wilde Zeit“, „Wildes Blut“ und die „Lieder und Balladen“ waren eigentlich der Anfang ihrer erfolgreichen schriftstellerischen Begabung. „Stranddistel“ und „Silke Boisen“ spielen zum Teil in der Franzosenzeit und in dem Kriege gegen Dänemark. Eine lustige Gesellschaft war eine Kindererzählung, die sich durch Jahre erfolgreich erwies. Das „Siebengestirn“, „Der Duvenhof“, „Spatenrecht“, „Der Jungflieger“, „Muttersein“, „Sturm in Schmalebek“, „Das lachende Haus“, „Rund um Redewisch“, „Im Nervenpavillon“, „Die das Leben zwingen“, „Harte Art“, „Die silberne Orgel“, „Der Dom zu Köln“ und eine Reihe von Erzählungen verschiedenster Art, und nicht zu vergessen „Der neue Geist“, der Thomas Münzer und den Bauernkrieg behandelt, sind nur einige ihrer wesentlichen Veröffentlichungen. Damals gab es noch nicht so viele Preise, wie sie heutzutage verliehen werden, aber die Kölner Blumenspiele waren zu ihrer Zeit eine renommierte literarische Ehrung. Und meine Mutter gewann zweimal den ersten Preis der Stadt Köln, zwei große goldene Pokale, den Hauptpreis der Stadt Köln. 3 große silberne Lilien in Naturgröße, ein Preis des Königs von Spanien, eine schöne silberne Schale und einige andere Preise, die ich vergessen habe. Was die besondere Art der Erzählung meiner Mutter betrifft, so kann ich nur sagen, dass sie Menschen und Gestalten verewigte, die weder im besonderen Maße moralisch oder belehrend sind sondern natürlich wie das Leben sie geformt hat. Ich habe Ähnliches offen gestanden nie wieder gefunden, außer bei Fontane. Nach den ersten vielversprechenden Arbeiten der ersten Zwanziger Jahre, folgten nach ihrer Verheiratung eine kurze Zeit der Beschäftigung mit ihren heranwachsenden Kindern. Dann aber setzte eine immer reger werdende schriftstellerische Arbeit ein. In ihr regten sich die schöpferischen Kräfte, die sie innerlich bedrängten und geformt werden wollten. Als Heranwachsende erinnere ich mich doch noch sehr lebhaft daran, dass sie mehr als einmal erwähnte: „Oh, diese Stadt Schwerin erstickt mich!" Aber mit der Zeit formte sich ein Kreis von Literarisch Interessierten, Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Dramaturgen und weiteren musisch Interessierten, die sich die „Mordskuhle" nannten. Außerdem wurde meine Mutter ein geschätztes Mitglied des Scherl-Verlages in Berlin, der u. a. die Tageszeitung „Der Tag" und als Sonntagsausgabe „Der rote Tag“ herausbrachte. Sie hatte einen Vertrag, der sie verpflichtete alle schriftstellerischen Arbeiten zuerst dort bekannt zu geben. So kamen dann auch Redakteure des Verlages gelegentlich zu Besprechungen nach Schwerin. — Sie sorgte auch dafür, das ihre heranwachsenden Kinder eine musikalische Erziehung erhielten und kam dadurch auch mit der Firma Perzina in Kontakt und mit den Schwestern Maria und Johanna Klemm, von denen die eine eine sehr geschätzte Sängerin wurde aber ihre vielversprechende Laufbahn aufgeben musste, weil sie eine schwere Lähmungskrankheit erlitt. Kurzum der Kreis meiner Mutter wurde immer größer und lebendiger, da auch mein Vater in Vorstand des Reifenberger Verbandes tätig war, bedeutete es auch für uns Kinder eine vielseitige Erweiterung unseres Horizontes. Die Schwierigkeit war jetzt für meine Mutter eine ruhige Arbeitszeit zu finden, in der sie ihrer schöpferischen Tätigkeit nachgehen konnte. Oft hieß es abends: „Geht jetzt nur zu Bett, ich will Ruhe im Hause haben!" Und dann schrieb sie bis spät in die Nacht hinein die Phantasien, die sie bedrängten nieder. Es ist mir unerklärlich, wie sie das alles bewältigte. Es gab dann immer wieder Zeiten, in denen sie an einer schweren Migräne litt; alles im Hause musste ruhig sein, ihr Zimmer wurde verdunkelt. Und wir Kinder verlegten unsere etwas anstrengenden Beschäftigungen nach außerhalb, gingen zum Schwimmen oder in den Ruderclub oder spielten Tennis. Und wenn gelegentlich die ältere Schwester meiner Mutter sagte: „Ihr verwöhnt die Kinder!" dann sagte nein Vater ungerührt: „Ich bezahle lieber ihre Sportliche Interessen anstatt den Arzt!" Die ältere Schwester meiner Mutter — Tante Guschi genannt — war oft längere Zeit ein sehr geschätzter Gast in unserer Familie. Sie war sieben Jahre älter als unsere Mutter und sagte: „Sophie, ich bin ganz erstaunt, wie sehr du dich geändert hast. Du warst so ein lebhafter Mensch und jetzt bist du so ausgeglichen und ruhig, als hättest du dein ganzes Temperament deinen Kindern mitgegeben. Ihr könnt euch nicht vorstellen, sagte sie zu uns Kindern, was für ein lebhafter, unternehmungslustiger Mensch eure Mutter war. Ich erinnere mich mit besonderem Interesse aus ihrem Kreise an Irmgard Spangenberg, ebenfalls eine Autorin, die aber glaube ich nur ein oder zwei Bücher herausgegeben hat; an die Schauspielerin des Niederdeutschen Theaters und wie gesagt an die Schwestern Klemm, von denen mir besonders die beiden Jugendbücher, das kleine „Klosterfräulein und seine kleine Schwester“ in Erinnerung geblieben sind.

Es gab einmal eine Zeit, in der überlegt wurde, ob unsere Familie sich nicht teilen sollte: Dass meine Mutter nach Berlin ging und die Hälfte der Kinder mitnahm zu Ausbildungszwecken und die andere Hälfte bei meinem Vater blieb, der inzwischen vom Großherzog zum Professor ernannt wurde und durch die Schule in Schwerin gebunden war. Es waren sehr ernsthafte Überlegungen, aber sie sind dann doch nicht ausgeführt worden.

Außerdem hatte meine Mutter ein Kränzchen mit den Frauen des Schulkollegiums, wie sich das so gehörte in einer mittleren Residenzstadt. Ich erinnere mich, dass meine Mutter etwas ärgerlich war, als bei einer dieser Zusammenkünfte, eine der Kollegenfrauen sagte, wie schön ist es doch, wenn man nicht auf das Geld zu schauen braucht, wenn man Kuchen einkauft. Worauf eine andere entgegnete: Dafür sind wir die besseren Hausfrauen. Das hatte meine Mutter doch etwas verstimmt, als sie uns dies erzählte. Worauf meine Schwester meinte: warum hast du nicht gesagt, das ist nicht schwierig mit vier Zimmern und einem Kind. Du aber hast ein großes Haus, sechs Kinder und schreibst außerdem noch erfolgreiche Romane. Die guten Leute denken doch immer, da setzt man sich hin und schreibt einfach ‚ drauflos‚ dass du aber Einfälle haben musst und in vielen Fällen ein intensives Studium vorausgegangen ist, das sind ihnen doch böhmische Dörfer. Dabei fällt mir ein, das die jungen Mädchen, die oft zu ihrer Unterstützung im Hause waren‚ oft gelobt wurden, weil sie so gut erzogen waren, wenn sie unser Haus verließen. Mit anderen Worten: Meine Mutter war ein Vorbild für viele. Sie arbeitete die jungen Hausgehilfinnen, die zu uns kamen, eine Woche lang sehr gut ein, dann mussten sie nach Rücksprache mit meiner Mutter selbständig arbeiten. Hatten die Hausgehilfinnen frei, dann kam es vor, dass meine Mutter einmal selber kochte. Das gefiel uns immer sehr, denn sie kochte vorzüglich. Ganz auffällig ist mir jetzt in der Erinnerung, dass meine Mutter uns gelegentlich fragte, gefallen euch eigentlich meine Erzählungen? Und das ist meines Erachtens das Zeichen für einen guten Schriftsteller, das er an sich zweifeln kann. Ich kenne manche Schriftstellerinnen, die ein oder zwei Bücher veröffentlicht haben und dann von sich selber ganz entzückt waren. Es gab eine Autorin, deren Name mir durchaus nicht einfallen will, die einen großen, interessanten Roman schrieb, „Der große Pan“, die Erzählung von einem ostpreußischen Gutsbesitzer samt Schilderung des Lebens in Ostpreußen.

Ich glaube, dass wäre noch heute eine interessante Beschreibung der Lebensweise in Ostpreußen vor dem ersten Weltkrieg.

Es kamen auch von Berlin und anderen Regionen Deutschlands Autorinnen, die sich einen Namen gemacht hatten, wie z. B. Klara Fiebig und Marie Diers (Klare Fiebig stammte nach meiner Erinnerung aus der Eifel) die aufgrund ihres Geschlechts als Autorinnen diskriminiert wurden. Jetzt in der Erinnerung meines Alters wird mir eigentlich erst richtig klar, dass meine Mutter sich allmählich immer mehr aus der Geselligkeit der Stadt zurückzog und ganz in ihrer Schriftstellerei und der Familie lebte.

Einer ihrer bevorzugten Gesprächspartner war ein Neffe, der Sohn ihrer ältesten Schwester, der als Malaria-Forscher , der von Regierungen zur Beratung geholt wurde, die Malaria-Probleme in ihrem Lande hatten, und den sie von Kind auf kannte. — So vergingen die Jahre, und wir, ihre Kinder, waren an anspruchsvolle Unterhaltung so gewöhnt, dass wir erst später merkten, wie privilegiert wir eigentlich waren, als wir Kinder allmählich erwachsen wurden, war meine Mutter sehr daran interessiert alle künstlerischen Regungen zu fördern. Meine älteste Schwester Gertrud hatte wohl etwas von dem sicheren Selbstbewusstsein eines jungen Menschen wie meine Mutter. Denn als sie mit 17 Jahren ihren ersten, später berühmt gewordenen Verehrer hatte, den meine Mutter sehr hoch schätzte, sagte sie: Ich will nicht mit 17 Jahren heiraten. Ich bin kaum aus der Schule gekommen und will nun erst einmal wissen, wer ich selbst bin. — Sie starb jung, mit 23 Jahren. Meine zwei jüngeren Schwestern hatten besondere Neigungen; die eine als Sängerin, die von der damals berühmten Sängerin Lilli Lehmann den Rat erhielt: Ich kenne Sie ja nicht. Nach Ihrer Stimme hätten Sie schon die Begabung zu einer großen Karriere, aber ich rate allen jungen Mädchen ab, die zu mir zur Prüfung kommen, weil dazu Nerven gehören, die die wenigsten aufbringen können. Und ob Sie des durchstehen würden, kann ich nicht beurteilen. — Die damaligen Ereignisse mit zwei Weltkriegen haben alle Pläne scheitern lassen. Die zweite Jüngere Schwester wollte einen großen Modesalon errichten, wurde aber stattdessen eine Rot-Kreuz-Schwester. Ich war von allen Geschwistern die, die am meisten nach dem Vater geriet; ziemlich schweigsam und wenig angesehen. Wenn es hieß, wo ist Hedwig? gab es immer zur Antwort: die sitzt in einem stillen Winkel und liest. Mein Bruder, der jüngste, der Kinder, ein hübscher, schlanker Junge wollte Boxer werden, aber die ganze Familie schrie entsetzt über die möglichen Auswirkungen dieses „Berufes".