Russen.

I.
Handelsvölker der Gegenwart.


Mit den Russen beginnt der Uebergang vom Orient zu den gebildeten Handelsvölkern. Der russische Handel nimmt allerdings an Ausdehnung des Gebiets, welches er beherrscht, und an Masse der Waaren, die er befördert, nach dem englischen den zweiten Rang in Europa, und nach dem englischen und amerikanischen den dritten Rang in der Welt überhaupt ein. Das ist aber nichts als die natürliche Folge der Lage und Größe des russischen Reichs, das, zwischen drei Meeren gelegen, Nord- und Südfrüchte hat und neben großen schiffbaren Strömen den Vortheil rascher Waarenbeförderung auf der Schneebahn der langen Winter. In das russische Gebiet fällt vollständig die eine der drei großen Straßen des Welthandels. Der Seeweg um Afrika nach Indien steht unter englischer Herrschaft; von der zweiten Handelsstraße, den Wegen um und durch den amerikanischen Kontinent, haben sich die Nordamerikaner das meiste zu eigen gemacht; die dritte Straße führt zu Lande von Europa ins Innere von Nord- und Mittelasien. Dieser Handel nach Persien, nach der Tatarei, nach China hat von jeher in den russischen Ebenen stattgehabt; er ist den Russen gegeben, ohne daß sie eine Hand darum gerührt. und sie haben ihn in alter Karavanenweise fortgesetzt; zu Zeiten bevölkerten ihre kleinen Schiffe auch die Häfen des schwarzen Meeres. Es blieb der russische Handel immer nur ein Zwischenhandel auf die einfachste und roheste Weise.


In neuerer Zeit hat die russische Regierung sich der natürlichen Handelsvortheile ihres Landes bemächtigt, und mit jener Energie des Handelns, mit welcher sie Rußland beherrscht und dessen riesige Naturkraft gleichsam in ihrer Hand zusammenballt, sind durch Maßregeln im großen Styl die russischen Handelswege zu Lande, so wie die Strom- und Küstenschifffahrt, die Häfen, Markte und Handelsplätze gesichert und geregelt und bis tief in all die Völkergebiete hineingeführt, welche im Osten und Süden die Gränzen des russischen Weltreiches umgeben. Zahllose Agenten sind geschäftig unter den entlegensten Völkern Asiens, um sie dem russischen Handel dienstbar zu machen. Dieser ist dadurch zu einer Macht und Bedeutung im Weltverkehr gehoben, wie niemals zuvor. Zu gleicher Zeit sind im Innern des Reichs industrielle Anlagen in Menge entstanden, hervorgerufen und befördert durch Fürsorge und Arbeit der Regierung. Die Russen können bereits einen großen Theil der Waaren, welche sie von den orientalischen Völkern empfangen, mit ihren eigenen Manufakturerzeugnissen bezahlen.

Wenn gleich nun Handel und Industrie der russischen Politik unberechenbare Vortheile gewähren und Millionen Hände beschäftigt und bereichert haben, so ist dies dennoch eher eine Frucht europäischer als nationaler russischer Arbeit. Gleichwie das russische Herrscherhaus nicht aus dem Lande selbst hervorgegangen, gleichwie die innere Organisation des weiten Reiches nach fremdem Muster angelegt und zum großen Theil durch Fremde, namentlich Deutsche, bewirkt worden ist, so wird auch Handel und Industrie Rußlands durch Nichtrussen geschaffen und gelenkt. Die Russen selbst ließen Jahrtausende lang die Quellen des Nationalreichthums brach liegen, bis fremde Hände sie ihnen eröffneten. Würde Rußland mit einemmal all der Deutschen, Engländer, Griechen, Armenier, Juden, Franzosen und Italiener beraubt, die in den russischen Fabriken Häfen und Handelsplätzen zum Besten des Landes arbeiten, so würden Handel und Gewerbe plötzlich in den Zustand der Kindheit zurücksinken. Der Russe wird nie ein rechter Großhändler und Großfabrikant, es fehlt ihm der sichere Ueberblick, die erfinderische Kraft und das rastlose Streben, das zu großen fruchtbringenden Kapitalien und Verbindungen führt. Er kann nicht heraus aus der orientalischen Weise seiner Vorfahren, die Waaren zu kaufen, wo sie ihm bereits offen liegen, auf rohe Weise an einen andern Ort zu führen und dort an bereitstehende Käufer abzuliefern; durch eigenes Nachdenken ruft er weder Erzeuger der Waaren hervor, noch schafft er sich Abnehmer. Versuchsweise Spekulationen zu machen und ordentlich Buch zu führen, liebt er nicht, und statt Gewinn und Verlust bei seinen Geschäften im Einzelnen genau auszurechnen, begnügt er sich mit einer ungefähren Ausgleichung. Deshalb ist der russische Handel noch heutzutage hauptsächlich nur Passivhandel, deshalb bilden russische Handelsschiffe in der Ostsee, auf dem schwarzen und weißen Meere nur eine kleine Minderzahl, deshalb ist die Herrschaft im russischen Großhandel in den Händen der Deutschen, der Engländer, der Griechen und anderer Nichtrussen, welche ihre Häuser haben in Odessa und Archangel, wie in Petersburg und Moskau. Solche Niederlassungen fremder Kaufleute fanden sich schon sehr frühe in den russischen Städten, z. B. Kiew und Nowgorod; und wie schon in der ältesten Zeit Griechen und Normänner Rußlands Großhandel führten, so besaßen ihn die deutschen Hansen im Norden ausschließlich bis ins sechszehnte Jahrhundert hinein. Die Vorherrschaft im russischen Handel hat wohl gewechselt unter den Angehörigen fremder Nationen, ist aber auch heute noch nicht in die Hände der Russen selbst gelangt. Der Nationalrusse bleibt mit seinen großen Waarenzügen, die er aus der Ferne holt, nur Unterhändler und Zuträger der Fremden und ihrer Kommissionärs, und kommt jedes halbe Jahr, um ihre Anweisungen zu empfangen.

Ausgezeichnet ist dagegen der Russe im Kleinhandel, wobei wenig zu rechnen ist und die Waare gleich von einer Hand in die andere geht. Da ist er höflich und geschäftig, putzt seine Waare nett heraus, hängt sie mit glatter Zunge dem Käufer auf und lacht ihn aus. Im Kleinhandel übertrifft der Russe den ärgsten Schelm, der je ein altes Seehundsfell für köstliches Pelzwerk verkauft hat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III