Abschnitt 3

XI.
Ein Tag wieder in Europa.


Und unter all diesen freien Bürgern und Bürgerinnen ist eine Werdelust, ein Trieb zu wachsen und groß zu werden, wie höchst selten in der Geschichte ein ganzes Volk davon ergriffen wurde. In Amerika erblühte noch keine große einheimische Literatur Wissenschaft und Kunst, allein jeder Farmer liest, jedes Mädchen lernt und strebt eine vornehme Dame zu werden, jeder Bursche bekümmert sich um etwas chemische und physikalische Kenntnisse. Es giebt noch wenig wahrhaft großstädtisches Leben, allein jedes Dörfchen ist auf dem Wege eine Stadt zu werden, das kleinste Wohnhaus strebt nach gefälligen Formen. Dieser unruhigen Welt des Werdens gegenüber – welche Ruhe und Stätigkeit, wieviel bescheidenes ordnungsvolles Selbstgenügen in Europa! In Amerika ein ewiges Hin- und Herschwanken, selbst in einigen Grundformen menschlicher Gesittung, das fliegt alles so leicht und lustig über den Erdboden weg, ohne irgendwo Wurzeln zu schlagen, – alles ist gleichsam mitten in der lebendigen Fluth und Strömung der politischen und Handels–Interessen, welche sich dort niemals konsolidiren. Kommt man daher von der amerikanischen Küste an die europäische, so scheint hier alles so eng und steinern, so kleinlich und gedrückt. Erst allmählig imponirt dem Amerikaner die ruhige Würde und Gediegenheit der großen sozialen Institutionen, in denen die europäischen Völker beharren trotz aller Bewegungen.


Werden aber aus jener amerikanischen ungeheuren Welt des Werdens und der Unruhe nicht endlich gewaltige Gestaltungen hervorbrechen, welche in die kommenden Jahrhunderte hineinragen? Schwebt nicht schon über jenen Küsten der Lichtglanz neuer Zeitalter voll Bürgerstolz Volksfrische und geistiger Herrlichkeit? Und kann man leugnen, daß durch die alte Welt dunkle Ahnungen ziehen wie in der letzten Römerzeit, und daß von der neuen Welt eine kräftig belebende Luft herüberströmt in das gesammte Völkerleben?

Wahr ist’s, amerikanische Grundsätze arbeiten schon tiefer in der europäischen Welt als es äußerlich scheint, seit den letzten vierzig Jahren schwillt ihre Bedeutung täglich mehr an. Amerika hat ebenfalls schon eine Schulter daran gelegt, die Weltgeschichte vorwärts zu bewegen, und Amerika steht noch im Beginne seiner Geschichte und seines Aufschwunges. Zu verkennen ist auch nicht, daß in Europa durch einzelne Volksschichten und Institutionen das Gefühl einer innern Unsicherheit, eine Sterbeahnung geht, weil das Jahrhundert sie umgestaltet. Allein – die vielgehoffte grandiose Verjüngung und Erneuerung des Menschengeschlechts und seiner Kultur in Amerika? Die Weltgeschichte, welche mit klingenden Flügeln über das Meer ziehen soll, um die alte Welt an das Schlepptau ihrer jungen Herrin zu binden? – Bis jetzt ist mehr als ein Grund, daran zu zweifeln, ob sich diese Visionen verwirklichen.

Je tiefer man der neuen Welt in’s Herz schaut, desto spärlicher und winziger zeigen sich diejenigen Keime und Sprosse, aus denen fruchtbares wirklich eigenthümliches Leben hervorwächst, desto entschiedener ziehen sich all die großen amerikanischen Kulturbewegungen auf das dürftige Gebiet des Kolonialcharakters zurück.

Persönliche Unabhängigkeit ist das Hauptprinzip des amerikanischen Lebens, es schafft Großes und Herrliches, und dies Prinzip kräftigt, ehe er es selbst noch weiß, jeden Armen und Schwachen, der aus Europa herüber kommt. Wo aber hat in Amerika jenes Prinzip sammelnd verdichtend formend gewirkt, daß man neue organische Gliederungen wachsen sähe, durch welche die wilde Strömung der kommenden Zeiten bestimmt werde? Bis jetzt offenbart jenes Prinzip nicht bloß im spanischen, sondern auch im angelsächsischen Amerika ebenso sehr eine zersetzende als neubildende Kraft.

Ist es denn so unbedeutsam, daß der scharfe dürre alles aufstörende Yankeecharakter all die Volksarten, welche seit den ersten Ansiedlungen im ruhigen Besitze des Landes waren, während der beiden letzten Menschenalter nur zerfetzt und aufreibt? Und hat nicht auf der andern Seite zu gleicher Zeit sich die politische Herrschaft der Sklavenherren fort und fort verstärkt, so daß die Interessen der Sklavenbesitzer jetzt die ganze Union im Bann halten und ihre Geschichte bedingen? Und das Unwesen der Rowdies und Natives, der Temperänzler, der Sekten und Klopfgeister und manches andere, welches ebenfalls nur als ein Auswuchs der Kolonialzeit vor zweihundert Jahren zu begreifen wäre, wie kommt es, daß es sich jetzt mit jedem Jahre stärker hervordrängt?

Gewiß ist die Behauptung übertrieben, daß die Frauen in Amerika mit jeder Generation feiner und schärfer, aber auch schwächer, nervöser und unweiblicher würden. Allein daß eine solche Behauptung überhaupt ernstlich kann aufgestellt werden, das deutet doch an, daß man auch das Klima für die Zukunft Amerikas nicht außer Rechnung lassen darf.

Doch das alles gründlich zu untersuchen, gäbe noch ein langes Kapitel. Meinerseits war ich am ersten Abende des wieder in Europa verlebten Tages darüber mit mir einig und entschieden: man kann in den Vereinigten Staaten Nordamerikas vollauf zu essen und zu trinken bekommen, kann dort als Bürger sich durchaus selbstständig fühlen, ist dort immerfort mitten in einem großen jugendlichen Volksleben, welches alle seine Glieder unaufhörlich in Spannung hält: aber wahrhaft leben, wahrhast froh werden des Vollgehaltes, der ungebrochenen Blüthe der Kultur unserer Zeit – das kann man trotz alledem nur in Europa.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III